Reinhold F. Schmid

Tschêl


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so ein …! Weshalb stoße ich immer wieder mit Carlo zusammen? Bei ihm fühle ich mich unwohl und bin dann viel zu liebenswürdig mit ihm. Er ist mir gegenüber meist misstrauisch, und es scheint mir, als prüfe er andauernd meine Gesinnung zu ihm. Dabei finde ich ihn innerlich nicht stark und gelassen, eher von anderen Menschen und Umständen geleitet und getrieben. Doch jede Begegnung mit ihm greift mich an, macht mich verletzlich und wütend. Jedes Mal fühle ich mich unterlegen. Und das entfacht die Wut in mir, mit der ich ihn tätlich angreifen könnte.

      Daheim trägt Stefan die beiden Packungen Schokoköpfe und das Roggenbrot in den Speisekeller und setzt sich danach an den Computer, um für den nächsten Tag das Programm anzupassen.

      8. Klimawandel

      Nach einer Stunde Arbeit holt sich Stefan im Keller einen Schokokopf. Genüsslich knabbert er an der dünnen Schokoladenhülle und holt mit spitzer Zunge den Eiweißschaum in seinen Mund. In der Küche spült er seine Hände und entfernt den weißen Schaum von den Mundwinkeln. Schaum, wie Schneeflecken im Frühling, denkt Stefan. Dabei erinnert er sich an ein Ereignis vor einem Jahr:

      Er war erst wenige Wochen als Parkwächter im Dienst, da ging im Val da Stabelchod eine riesige Schlammlawine nieder und riss einen Teil des Wanderweges mit einer Brücke mit. Sofort nach dem Eintreffen dieser Meldung im Zentrum machten sie sich auf, um Wanderer in dieser Gegend zu bergen. Als der Regen nachgelassen hatte, stiegen sie ins Tal auf. Glücklicherweise waren alle Wanderer mit dem Schrecken davongekommen. Seither verläuft der Wanderweg an einer neuen Stelle. Am Südhang des Tales sind trichterförmige Löcher zu sehen, am Westhang klaffen tiefe Kerben, in Baumstämme eingeklemmt die Überreste einer Brücke.

      Stefan sinniert weiter: Was wird geschehen, wenn im Zusammenhang mit dem Klimawandel die fünf Prozent der Landesfläche der Schweiz, die aus Eis bestehen, zunehmend schmelzen? Lokal, bei Dörfern, ist es zwar ausführbar, mit viel Technik und Bauten einen gewissen Schutz zu bieten. Doch generell sind präventive Maßnahmen nicht möglich. Das Klima verändert sich. Ist die Ursache nur bei den fossilen Brennstoffen, beim Verkehr, zu sehen? Im Zentrum, während der Pausen, kommt es immer wieder zu Diskussionen zwischen den Parkwächtern.

      Ich bin mir noch zu wenig sicher, zu welchem Lager ich mich zähle, stellt Stefan fest.

      Da gibt es einerseits die Meinung, der Klimawandel sei menschengemacht, und auf der anderen Seite diejenigen, welche die Hauptursache der Veränderung den periodischen Sonnenexplosionen zuschreiben. Wie auch immer, vor 100 Jahren sind in diesem Teil der Schweiz kaum Autos gefahren. Das Automobil galt als eine Gefährdung des Straßenverkehrs, als lärmendes Ungetüm, als Luxusfahrzeug. Ein Vierteljahrhundert hat es gedauert, bis es unter Befürwortern und Gegnern des Autos zu einer mehrheitsfähigen Lösung kam. Der Souverän stimmte im Sommer 1925 einer Autovorlage zu. Damals gehörten touristische Kreise zu den vehementesten Befürwortern des Autos. Heute sieht das ganz anders aus. Die meisten Touristen lassen ihr Fahrzeug nach der Anreise stehen und benutzen während der Ferienzeit den gut ausgebauten öffentlichen Verkehr.

      9. Scham und Schuld

      Hi Rainer,

      danke für deine Mail, die thematisch an unsere vorherigen Ausführungen anschließt. Unser Thema ist nicht leicht zu verstehen.

      Du hast mir in deinem letzten Schreiben erläutert, dass unsere westliche Zivilisation im Wandel begriffen ist, von der Schuldkultur zur Schamkultur.

      Während sich ein schuldorientiertes Gewissen nach absoluten moralischen Regeln ausrichtet, orientiert sich ein schamorientiertes Gewissen an der Moral einer Gemeinschaft. Oder einfacher ausgedrückt: In der schuldorientierten Kultur macht sich der Mensch Sorgen über seine Schuld. Oder die Wiedergutmachung seiner Schuld.

      Anders in der Schamkultur. Hier kommt es kaum darauf an, ob der Mensch schuldig ist oder nicht, sondern welche Konsequenzen der Schaden in der persönlichen Reputation hat.

      Nicht nur hier in den USA, auch in Europa ist dieser Rückfall sukzessive im Gange.

      Von der eigenen Schuld wandelt sich die Gesellschaft zu einer Außenwahrnehmung des Menschen. Das Prestige ist wichtiger als die Wahrheit. Bestes Beispiel dafür sind viele aktuelle bekannte Politiker.

      Als Auslandjournalisten sind wir sensibilisiert, solche Änderungen wahrzunehmen, doch in kirchlichen und sozialen Institutionen wird diese Wandlung als problematisch festgestellt.

      Bleiben wir dran, du wirst sehen, dass diese Entwicklung nicht etwas Theoretisches ist, sondern sich im Alltag bis in jede Beziehung abspielt. Wir werden wieder darauf zurückkommen.

      Ich habe dir erzählt, dass unsere jüngste Tochter vorhat, bei uns auszuziehen.

      Amena ist jetzt 24 Jahre alt und sie wohnt mit einer Studienkollegin in Salem. Beide haben den Bachelor und wünschen sich, nach Studienabschluss in den Weinanbau zu gehen. Gute Beziehungen dazu haben sie zum Glück.

      Nun, ich muss noch auf die Redaktion.

      Liebe Grüße,

      Mike

      Mike White

      Hillstreet 12

      Portland

      Oregon USA

      Hello Mike,

      vom Pinot Noir und dem Pinot Gris aus der Region des Vally habe ich schon gehört.

      Das wäre ein Grund, in die USA zu kommen und also eine Reise wert :-)

      Ich versuche mich nun anzuhängen an das, was du über die Scham- und Schuldkultur geschrieben hast. Auch ich habe festgestellt, dass sich heute kaum jemand darum rührt, zu weltfremd scheint dieses Thema zu sein. Doch alles andere ist der Fall! Es durchdringt unser Leben mit markanten Folgen.

      Wie kommt es dazu, dass nicht mehr das ruhige Gewissen, sondern die öffentliche Wertschätzung als erstrebenswert angenommen wird?

      Immer weniger an Gebote und Vorgaben hält sich die westliche Kultur, sondern mehr an die äußere Anpassung und das Nicht-Erwischenlassen. Wie kommt es zum einen oder anderen Verhalten?

      Der evangelikale Missionsforscher Klaus W. Müller zeigt die Entwicklung dazu im Kontext seiner Herkunftsfamilie. Der schuldorientierte Mensch wächst auf in einer kleinen Zahl von prägenden Personen, den Eltern und Geschwistern der Kleinfamilie.

      Umgekehrt sind die Verhältnisse bei der schamorientierten Prägung. Das Kind wird bestimmt durch eine große Zahl von Personen; neben den Eltern sind es die Verwandten, Freunde, Fremde oder eine religiöse Gemeinschaft.

      Wichtig scheint mir jedoch zu berücksichtigen, dass es keine reinen außen- oder innengeleiteten Kulturen gibt.

      In diesem Jahr werden wir in der „Nähe“ Urlaub machen. In vierzehn Tagen fahren wir an die Westküste von Jütland. Wir freuen uns!

      Liebe Grüße,

      Rainer

      Rainer Schmitt

      Koppelgasse 101

      D-20099 Hamburg

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