Peter Bergmann

Schüchterne Gestalten


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sein Vater sich in den nächsten Tagen mit ihr beschäftigen würde und sie ihm bereitwillig die Zimmertür im Hotel öffnen…

      Scheiße, nein!

      Nicht Sie und Er!

      Er mag Sie schon.

      Aber warum denn nicht? Sein Vater würde ihm damit ein Problem abnehmen; ein nicht Unerhebliches sogar. Aber so richtig wollte er das auch nicht. Sie und Er. Vielleicht könnte er nach Lemberg gehen und dort…

      Was für blöde Gedanken? Diese öde Fahrerei, monotone Geräusche, Musik, die er schon tausendmal gehört hatte, dunkle Nächte auf der Autobahn. Verdammt, ich will das hier alles nicht!

      Sie schmollte, weil sie… Okay, wir sind gleich in Deutschland. Ein paar Kilometer hinter der Grenze gab es eine Raststätte; ein Kaffee würde ihn nicht nur wach machen, sondern hoffentlich auf andere Gedanken bringen.

      Jetzt, Stunden nach seiner Ansage, war sie wieder ganz lieb, schmiegte sich etwas an ihn. Vielleicht noch eine halbe Stunde, dann würde es ernst werden. Er wohnte einige Kilometer außerhalb von Vesberg, schöne Randlage. Zuerst würde er sie im Hotel in der Nähe der Firma unterbringen. Dort werden immer alle Geschäftspartner einquartiert. Dann wollte er nur noch nach Hause. Vielleicht schaute er noch kurz bei seinem Vater vorbei. Der wohnte zwei Straßen weiter oben. Wenn noch Licht in seinem Arbeitszimmer war, machte er es ganz bestimmt. Die Entscheidung war schnell getroffen. Kann sein, dass der Pate ihn jetzt mal verstehen und mit einer Idee aushelfen kann.

      Hatte er etwa Angst vor zu Hause, vor seiner Frau?

      Ja schon, denn wer hatte schon seine Familie und sein Schmusi gerne in direkter Nähe? Wer wollte schon freiwillig Streit mit einer Frau, die man tief im Inneren hasste? Er machte da keine Ausnahme. Er brauchte das ganz bestimmt nicht. Hätte er bloß nichts mit ihr in Lemberg angefangen…

      Die nächste Abfahrt, dann noch etwas Landstraße, Vesberg konnte man schon riechen. Hier war es etwas hügelig. Viel Wald. Eigentlich ganz schön. Er nahm gerne sein Mountainbike und powerte sich bis zur Erschöpfung in der Gegend aus. Das brauchte er; diese Freiheit nahm er sich. Er hatte nicht vor, mitten im Leben stehend schlapp zu machen und den Rest seines Lebens nach dem ‚Tote-Augen-Prinzip‘ zu leben. Seine Arbeit und vor allem sein Pate, er musste wieder grinsen, verlangten viel von ihm. Schon deshalb bestand sein Körper auf regelmäßigen körperlichen Ausgleich.

      Im Wald machte er zusätzlich das Nebellicht an, denn hier gab es immer wieder Wildunfälle. Und er hatte kein Bock darauf, so kurz vor dem Ziel einem Hirsch das Geweih abzufahren. Mit dem Fernlicht reichte es, bis zur nächsten Kurve. Dann musste er immer wieder abbremsen, man kann ja nie wissen. Scheiß Fahrerei. Scheiß Monotonie.

      So langsam wirkte der Kaffee auch nicht mehr, mit etwas Frischluft versuchte er, die letzten Minuten munter zu bleiben. Sie fand das überhaupt nicht gut und fing schon wieder Zoff an.

      Nach einer Kurve beschleunigte er, denn er wusste, dass nun ein längeres gerades Stück kam.

      Mist, was war das?

      Er riss die Augen entsetzt auf und versuchte mit voller Kraft zu bremsen. Sie schrie wie verrückt und zog plötzlich an der Handbremse. Blöde Kuh, dachte er noch, als sie sich exakt einmal um die eigene Achse drehten, er das Auto wieder auf den Asphalt und in die richtige Richtung brachte und sie mit voller Wucht gegen etwas auf der Straße prallten.

      Sein Airbag kam ihm vor wie ein Ruhekissen.

      Nach der langen Fahrt eine wohltuende und angenehme Art, sich schlafenzulegen. Dachte er noch, als er kurz vor dem Einschlafen war.

      Im Halbdunkel seiner Wahrnehmung nahm er noch auf, dass irgendwer die Autotüren aufriss und an den Gurten zerrte.

      Was ging hier vor?

      Nein, dieser Frage konnte er jetzt nicht mehr widmen. Können wir das nicht morgen besprechen?

      Jetzt schön schlafen nach der langen Fahrt. Beschützt von einem Airbag.

      Wer war das?

      Warum riss jemand die Türen auf?

      Was wollte er von ihm?

      An ein anderes Auto konnte er sich nicht erinnern. Hinter ihm war kein Licht gewesen. Entgegen kam auch keines; sonst hätte er das Fernlicht doch abgeblendet. Musste er aber nicht.

      Das klären wir morgen, wenn ich ausgeschlafen habe.

      Falls!

      Und sie schläft sicher auch schon. Das klären wir alles morgen.

      Mit dem Paten.

      Und mit ihr…

      Wenn ich ausgeschlafen habe…

      Jetzt verlor er endgültig die Kontrolle, sein Bewusstsein. Die dunkle Nacht erschien ihm jetzt ganz nah.

      Der Airbag machte es wohltuend sanft und warm.

      Die Nacht, der Wald – alles war so greifbar.

      Und er war mittendrin.

       Sonnabend, 13. November 2010, am ganz frühen Morgen

      „Wer ist sie?“ Remsen schrie förmlich in sein Telefon. Wer Jan Remsen mitten in der Nacht weckt, sollte wissen, dass die Begegnung mit einem ausgehungerten Bären deutlich mehr Chancen auf ein Überleben bietet. Der raue Umgangston war Remsen egal. Sollte irgendjemand damit ein Problem haben, konnte der ja gerne den Job wechseln und Rollatoren verkaufen; die gehen hier weg wie geschnitten Brot – erzählte man sich in der Gegend.

      Keine Antwort war auch eine Aussage, fiel ihm dazu ein, als nichts mehr zurückkam. Sein Gegenüber legte einfach auf. Wieder einer von der Blaumanntruppe; die wie immer keine Lust auf Nachtdienst mit Außeneinsatz, schon gar nicht an einem Wochenende Mitte November hatten.

      Dich werde ich mir nachher gleich persönlich vornehmen, dachte Remsen sich noch, als sein Telefon wieder klingelte.

      „Ja“, die Freundlichkeit war so einladend, dass erst einmal eine längere Pause entstand.

      „Remsen?“, war die knappe Gegenfrage.

      „Wer sonst?“, war die erneute Gegenfrage.

      Das lustige Spiel hätte sich noch ewig fortgesetzt, wenn Nöthe nicht kühlen Kopf bewahrt und das Gespräch auf den Unfall gelenkt hätte.

      Nöthe und Remsen oder besser Remsen und Nöthe waren aufeinander angewiesen, denn sie mussten zusammenarbeiten. Zwangsweise. Auf seine Gefühle nahm in Vesberg scheinbar niemand Rücksicht. Denn Remsen sah in Benjamin Nöthe, einem Assistenten der Mordkommission, einen äußerst limitierten Anwärter für einen Job, den der nie verstehen, geschweige denn gut machen wird. Die nehmen auch alles, was sich nicht wehrt oder wegrennt. Was soll’s, er musste mit ihm auskommen.

      Ein ‚leider‘ schwang noch mit in seinen Gedanken, als Nöthe ansetzte: „Es muss wohl einen Wildunfall gegeben haben, denn der tote Hirsch lag mitten auf einer Straße, gleich hinter einer Kurve. War nur eine Frage der Zeit, bis jemand auf diesen Kaventsmann auffuhr und abhebt.“

      Nöthe war froh, dass er halbwegs was brauchbares Remsen weitergeben konnte.

      Remsen sah das komplett anders: „Nöthe, Sie wissen doch überhaupt nicht, was Kaventsmänner sind. Haben Sie schon mal einen gesehen oder so was erlebt?“

      Ganz langsam kam er in Fahrt. Wach war zwar etwas anderes, aber dafür war Remsen in Nähe seiner Betriebstemperatur: „Nöthe, Kaventsmänner sind Riesenwellen und haben nichts mit Hirschen zu tun. Die sind nicht nur groß, sondern richtig überdimensional. Ich erklär Ihnen das mal.“

      Bevor Nöthe dem etwas entgegnen konnte, entlud sich über Ihn eine ganze Ladung Remsenschen Wissens über Kaventsmänner, die schon mal als Monsterwelle daherkamen und Leute vom Strand gezogen hatten. Oder einfach etwas Übergroßes sind. Oder so. Ein Hirsch, nein. Eher nicht. Remsen rede sich in Rage, „…verstehen Sie Nöthe?“

      „Ja, aber der Hirsch war wirklich