Peter Bergmann

Schüchterne Gestalten


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versuchte hilflos, seinen sprachlichen Ausflug in die Umgangssprache zu rechtfertigen.

      „Raten Sie, mal was ich gerade hier mache, Nöthe? Die Blaumänner chauffieren mich schnurstracks zum Festschmaus. Und seien Sie sicher: Wenn es nur ein Wildunfall war und ich deswegen mitten in der Nacht raus musste, heißen Sie ab morgen Benjamina. Finden Sie irgendwas, was nach Arbeit für mich aussieht.“

      Er legte einfach auf.

      Kurz und knapp, wie immer, brachte Remsen sein Team zur Verzweiflung. Wer war sie? Eine Unfalltote war gemeldet, aber wer war sie?

      Wieder griff er nach seinem Telefon. „Nöthe, wer ist die Tote? Schon einen Namen, einen Hinweis?“.

      Nöthe war auch nur ein Mensch, der inzwischen ziemlich genervt war: „Wenn ich es wüsste, wüssten Sie es schon längst.“

      Jetzt war es an Nöthe, das Telefonat zu beenden. Remsen empfand es als eigenmächtigen Abbruch, eigentlich seine Kompetenz und nahm sich vor, es nicht zu vergessen.

      Armer Nöthe.

      Drei, vier Stunden Schlaf in der letzten Nacht. Oder doch nur zwei? Keine Ahnung. Er hing gedanklich im Nirwana zwischen dem, was da auf ihm zukam und dem Nebel in seinem Kopf. Draußen wie drinnen, alles etwas unscharf.

      Sind wir hier bei den Wildhütern? Umweltschützern oder so?

      Mit den Leuten in Vesberg kam Remsen noch immer nicht klar. Schon gar nicht nach einem Abend im Refill. Wie an jedem Freitagabend war er auch gestern dort und hatte sich das eine oder andere Bier genehmigt. Der Laden entwickelte sich als so etwas wie sein Stammlokal. Als er hierher zog, kam trotz einiger Suche nichts so richtig für ihn in Frage. Er vermisste die heimatliche Kneipenkultur. Bei ihm in Hamburg konnte er egal wo reingehen; es war meistens angenehm: Gesprächspartner, die ihm zuhörten, viel Bier, Korn und jede Menge Spaß drum herum.

      Das Refill wurde dann in der Nähe seiner Wohnung eröffnet, ein unschlagbarer Vorteil. Schon im Namen war das Geschäftsmodell erkennbar: einmal zahlen und trinken bis zum Anschlag. Viele Trinker trotteten gemeinschaftlich in das Refill und belagerten die Tresen, wovon es mehrere gab. Normalos wie er wurden schon kurz nach der Eröffnung immer weniger dort angetroffen und der Betreiber vom Refill ging recht schnell pleite.

      Jetzt mit angeschlossenem Lokal und verändertem Konzept ist es zu einer neuen Pilgerstätte geworden, eher zu einer Szenekneipe. Der Name blieb. Remsen war gerne dort, aß meistens etwas und bleibt solange sitzen, bis das Personal mehr oder weniger freundlich die letzten Gäste zum Gehen auffordert.

      So auch gestern. Er hatte sich auf ein entspanntes Wochenende eingestellt und im Refill darauf eingestimmt. Nach einer Kur an der See – seine Lunge und seine Bronchitis waren sein Dauerproblem- zumindest eines von vielen, und mehreren stressigen Fällen gleich zu Beginn seiner Zeit in Vesberg, schien nun etwas Ruhe einzukehren. Remsen wollte die nächste Zeit mehr dazu nutzen, um Vesberg und die Leute besser kennenzulernen. Bisher hatte er das eher vermieden; es war wohl beidseitig mit den Vorbehalten.

      Vesberg ist eigentlich nicht so schlimm, wie man denkt. Klar, gegenüber Hamburg ist es ein Kaff. Obwohl, knapp eine halbe Million Menschen wohnten in der Stadt und im Speckgürtel. Muss mal fragen, fiel ihm dazu ein. Remsen war sonst nicht so voreingenommen, aber provinziell war das die Gegend hier schon.

      Schon zu DDR-Zeiten war Vesberg so etwas wie eine kleine Oase. Nicht ganz so heruntergekommen, wie Remsen nach der immer noch präsenten Wende viele Städte im Osten Deutschlands gesehen hatte, gab es hier viele gut erhaltene Häuser; ganze Stadtviertel machten einen ganz angenehmen Eindruck. Vesberg ist schon seit zwei Jahrhunderten eine Universitätsstadt, was dem Ort etwas Elitäres und Junges zugleich gab. Wenig Industriebrachen waren zu sehen. Dafür sorgten Unternehmen aus der Elektronik und Informatik für genug Arbeitsplätze und verschandelten die Stadt nicht so arg.

      Remsen ist zwar kein aktiver Freizeitsportler, wie scheinbar jeder hier, aber er ist gerne draußen im Umland, wenn es sein Beruf zulässt. Leider ist das nicht allzu oft, aber man kann ja nicht alles haben.

      Die Büros auf der W36 sahen aus wie verkappte Wohnzimmer, nur viel schlimmer. Blümchen, Bilder von Oma, Kindern, Hund und Garten auf den Schreibtischen und allerlei Firlefanz an den Wänden. Fehlen nur noch die bunte Tapete und Nierentische in den Vernehmungsräumen. Die Hausmannskost in der Kantine lehnte er kategorisch ab. Remsen und seine Befindlichkeiten. Es könnten auch Vorurteile sein; er muss es noch ergründen. Demnächst mal, wenn es die Zeit hergibt. Leicht sich anzupassen, ist es für Leute wie ihn nicht.

      Und zu allem Überfluss saß er jetzt in einem Blauwagen und wurde zu einem toten Hirsch chauffiert. Mit einer Unfalltoten. Aber er ist Leiter der Mordkommission und nicht bei der Unfallaufnahme. Warum wurde er aus dem Bett geholt? Hoffentlich war es ein Mord. Nicht weil er Tote und damit viel Arbeit gerne hatte, sondern für den, der ihn in der Nacht geweckt hatte, könnte dieser Sachverhalt zu einem unschätzbaren Vorteil werden.

      „Ist der schwarz?“

      An der Absperrung fand sich gleich der erste Beamte ohne Kaffeebecher wieder, nachdem er Remsens Frage bejaht hatte. So ist es, Remsen war der Chef am Tatort und entsprechend verhielt er sich.

      Nöthe kam direkt auf ihn zu: „Der Wagen ist auf eine Firma namens CodeWriter GmbH zugelassen. VES CW 500, kein direkter Fahrer.“

      „Sagt mir nichts.“, entgegnete Remsen. „Was machen die?“

      Nöthe zuckte mit den Schultern, obwohl er diese Frage beantworten konnte. „Entwickeln Software für Sicherheitsfirmen und übernehmen Auftragsarbeiten für die Universität und andere wissenschaftliche Einrichtungen.“

      „Steht auf deren Homepage. Die Firma ist schon gut fünfzehn Jahre aktiv.“

      Jutta Kundoban grinste Nöthe an. „Was so ein kleines Smartphone nicht alles kann.“ Nöthe bekam richtig große Augen.

      Das Stichwort für Remsen: „Na Nöthe, das mit dem Internet ist ganz einfach. Das können Sie noch gar nicht wissen; ich erklär Ihnen das mal.“ Arrogant und verblüffend entwaffnend, wie alle fanden.

      Gottlob, dazu kam es nicht, denn der Chef der Spurensicherung Reiken wartete schon auf Remsen. Beide hatten schon oft und unangemeldet das Vergnügen; sie kannten und schätzen sich.

      „Jan, der Bock war schon länger tot.“

      Remsens Puls begann um sich zu schlagen: „Was interessiert mich ein toter Zwölfender? Außer ein Teil davon liegt auf meinem Teller. Dann schon…“

      „Es gibt außer den Versprengungen durch den Aufprall keinen weiteren Hinweis darauf, dass der Hirsch hier auf der Straße angefahren wurde. Das solltest du wissen.“

      „Wo ist die Tote? Besondere Merkmale?“ Remsen verspürte keine Lust mehr, den Tierschützer zu spielen.

      „Da hinten. Recht erhebliche Frakturen am Kopf und im Halsbereich. Der Airbag löste zwar aus, aber obwohl sie angeschnallt war… Die Jungs von der Rechtsmedizin untersuchen sie gerade.“

      „Wer ist heute dran?“ Remsen hatte eine leise Vorahnung.

      „Dr. Ansbaum.“ Beide kannten Dr. Ansbaum als äußerst zuverlässigen und genauen Mann, dem kein Detail entging und der oft recht schnell die richtigen Schlussfolgerungen zog. Natürlich unter Vorbehalt, die Gerichtsmediziner sollten ja auch ihre Arbeit machen.

      „Na wenigstens ein Lichtblick in dieser Nacht.“ Remsen konnte es nicht lassen, denn er stellte klar, dass er bereits Anwesende nicht schätzte.

      Entsprechend wurde Reiken stinksauer: „Jan, wenn du meinst, dann kannst du ja gerne unseren Job übernehmen. Um diese Zeit pflege ich üblicherweise zu schlafen. Solltest du übrigens auch so handhaben.“

      Remsen ruderte zurück: „War nicht so gemeint Günther. Irgendein Hinweis von Gewalteinwirkung oder so?“

      „Noch nichts gehört, aber lass uns mal zum Doc. rüber gehen.“

      Zum Glück hatte die Spurensicherung inzwischen Lichtmasten