Norbert Lingen

Hannes und Julius


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Platz tragen und zusammenbauen. Sie achten darauf, dass sie den Kirmesmännern nicht in Quere kommen. Die sehen nicht sehr vertrauenerweckend aus. Mama hat Hannes immer vor den Kirmesleuten gewarnt.

      „Komm den Kirmesmännern nicht zu nahe. Die schnappen dich und nehmen dich mit. Dann musst du dein ganzes Leben lang herumziehen und Karussells aufbauen“, hat Mama Hannes nicht nur einmal gewarnt.

      Das hat auch mächtig Eindruck auf Hannes gemacht. Die Kirmesmänner, in ihren schmutzigen Jeanshosen, mit ihren muskulösen Armen, kräftigen Händen und langen Haaren sehen schon gefährlich aus. Das Herumziehen und ein Leben lang Karussells aufzubauen, stellt er sich dagegen gar nicht so schrecklich vor. Trotzdem ist ein Heidenrespekt vor den Kirmesmännern geblieben und er hält sich von ihnen so gut es geht fern.

      Jetzt sehen Hannes und Julius den Lastwagen mit den Überschlagschaukeln. Das sind die Schaukeln für Größere, mit denen man, im Gegensatz zu den Schiffschaukeln, einen vollständigen Überschlag hinbekommt. Sie rennen hin. Hannes passt einen Moment nicht auf und läuft einem Kirmesmann vor die Füße, der die lange und schwere Stange, die er trägt, fallen lassen muss, um nicht aus dem Gleichgewicht zu kommen. Er flucht mit seiner tiefen und lauten Stimme und macht sich an die Verfolgung von Hannes.

      „Verfluchter Bengel. Kannst du nicht aufpassen wo du hinläufst. Wenn ich dich erwische dann gibt’s aber was.“

      Hannes kriegt Panik. Jetzt laufen alle Schauergeschichten, die er von Mama und Papa und auch von Oma über böse Kirmesmänner gehört hat, wie ein Film in seinem Kopf ab. Er kann nicht mehr klar denken und rennt blind los. Vor lauter Angst ist er nicht mehr Herr seiner Sinne. Ihm rast nur noch ein Gedanke durch den Kopf.

      „Hoffentlich kriegt der mich nicht. Ich will nicht entführt werden.“

      Er rast in Richtung seiner Haustüre. Die ist zum Glück nicht weit weg. Er bemerkt nicht, dass der Kirmesmann mit einer abfälligen Handbewegung die Verfolgung abgebrochen hat und sich wieder seiner Arbeit zuwendet. Hannes hastet blind weiter. Er will nur noch in die schützenden Arme von Mama oder Oma.

      Nun sind die Eingangstüren von Hannes’ und Julius‘ Reihenhäusern innenliegend. In der Maueröffnung befindet sich eine Treppe mit vier Stufen und Podest, an dessen Ende sich die Haustüre befindet. In seiner blinden Kopflosigkeit und seiner Verzweiflung rennt er auf die Maueröffnung zu. Er will die vier Stufen in zwei Schritten nehmen und ganz schnell klingeln. Doch er trifft die Maueröffnung nicht. Er donnert mit seinem Kopf gewaltig gegen die Mauerecke. Es gibt einen mächtigen Schlag. Das heftige Dröhnen im Schädel hört so schnell nicht wieder auf. Er wird panisch als er das Blut über sein Gesicht fließen spürt. Er klingelt hektisch und klopft gegen die hölzerne Haustüre. Jetzt hört er Oma, die nicht mehr so schnell kann, etwas vor sich hin brummelnd wie „Alles mit der Ruhe“, zur Haustüre kommen.

      Sie öffnet die Haustüre und bekommt einen Riesenschrecken als sie den blutüberströmten Enkel herzzerreißend weinend vor sich stehen sieht. Sie ruft sofort Mama, die zum Glück zu Hause ist. Sie greift sich Hannes an der Hand und die beiden laufen über den Marktplatz, mitten zwischen den halb aufgebauten Karussells und den düsteren Kirmesmännern hindurch, zum gegenüberliegenden Krankenhaus. Mama ist Krankenschwester im Neuwerker Krankenhaus und kommt deshalb ganz schnell hinein und weiß auch wo sie hin muss. Sie laufen in die Unfallambulanz. Dort ist der diensthabende Chirurg gleich zu Stelle. Er schaut sich die Wunde an Hannes Schläfe an, der immer noch schluchzt und schnieft.

      „Mensch Junge, stell dich nicht so an. Das ist eine kleine Platzwunde. Die muss nur schnell genäht werden.“

      Alles wird für die Operation vorbereitet. So langsam beginnt die Wunde an Hannes’ Kopf zu pochen. Er ist immer noch völlig durcheinander wegen des Riesenschreckens vor dem Kirmesmann. Der Arzt muss zuerst die Wunde desinfizieren und bestreicht sie mit Jod.

      „Aua“ brüllt Hannes und zuckt zusammen, weil das fürchterlich brennt.

      „Meine Güte“ schimpft der Arzt, „Du bist doch ein großer Junge. Da weint man nicht.“

      Nun nimmt er die gebogene Nadel und einen Faden und will zu nähen beginnen. Mama unterbricht den Arzt und fragt:

      „Bekommt der Junge denn keine Betäubungsspritze?“

      „Nein, das ist doch nur eine Kleinigkeit. Zwei, drei Stiche und die Sache ist vorbei. Ihr Junge soll sich mal nicht so anstellen“, und er sticht zu.

      Hannes brüllt auf. Das sind die schlimmsten Schmerzen, die er je hat aushalten müssen. Mit jedem Stich tut es wieder weh. Und er schreit und schreit und schreit.

      Der Arzt ist, nachdem er seine Arbeit abgeschlossen hat, richtiggehend wütend und beschimpft Hannes mit den Worten:

      „Du bist ein Flaschenkopf“, und stürmt aus der Ambulanz.

      Die Ambulanzschwester schüttelt nur den Kopf und flüstert meiner Mama zu:

      „Ein richtiger Metzger“, und verbindet Hannes die Wunde an der linken Schläfe.

      Mama und Hannes gehen Arm in Arm nach Hause, wieder über den großen Kirmesplatz bis zu ihrem Haus. Sie gehen zusammen die Treppe zur Haustüre hoch und Mama lacht:

      „Siehst du jetzt haben wir die Treppe getroffen, ohne die Mauer zu streifen.“

      Hannes findet diese Bemerkung gar nicht lustig. Sie gehen hoch und Hannes geht gleich ins Bett. Seine Wunde pocht gewaltig und er kann nicht auf der rechten Seite liegen. So schläft er mehr schlecht als recht. Beim Frühstück denkt er über die gestrigen Vorkommnisse nach.

      Zweifellos ist Hannes die ganze Geschichte unangenehm. Er kann doch in der Schule und beim Fußball nicht erzählen, dass er den Eingang des Hauses nicht genau getroffen hat. Und die panische Angst vor dem Kirmesmann geht ja auch niemanden etwas an. Darüber muss er mit Julius, denn er war schließlich Zeuge der Ereignisse, noch beraten.

*

      Piraten am Marktplatz

      Wenn die Kirmes wieder abgebaut ist, präsentiert sich der Marktplatz als eine graue, leere und nicht asphaltierte Fläche. Sie ist nicht ganz eben. Es gibt einige großflächige leichte Vertiefungen, die sich nach anhaltendem Regen, den es ins Neuwerk häufig gibt, in riesengroße Pfützen verwandeln. Wenn die Pfützen riesig und richtig tief sind, geht Hannes das Wasser bis knapp unters Knie.

      Nach der Schule stehen Hannes und Julius am Strand des riesigen Weltmeeres auf dem Marktplatz.

      „Wir spielen Piraten“, schlägt Hannes vor.

      Also verwandeln Hannes und Julius sich in gefährliche Piraten auf den sieben Weltmeeren. Die größte Pfütze hat in der Mitte eine Insel, die als Schatzinsel und Piratenschlupfwinkel dient. Piraten benötigen auch Piratenschiffe. Hier kann Hannes’ Opa helfen. Oma sagt immer, dass Opa ein Jäger und Sammler sei, der nichts liegen lassen könne. Wenn Sperrmüll ist, ist Opa mit seinem Fahrrad mit Anhänger unterwegs und schafft Sachen mit dem Kommentar: „Das kann man sicher noch einmal brauchen“, in den Keller oder in den Stall hinter dem Haus.

      So sind Holzbretter bei Opa niemals knapp. Nägel gibt es in rauen Mengen, denn Opa hat die Angewohnheit, alte und rostige Nägel aus den gesammelten Brettern mit der Kneifzange heraus zu ziehen und zu sammeln. Die könnte man ja noch mal brauchen.

      Material für ein oder zwei Piratenschiffe ist also grundsätzlich verfügbar. Es ist allerdings in Besitz von Hannes‘ Opa, was mit allen Wassern gewaschene Piraten nicht weiter kümmert. Hannes und Julius suchen sich einige große Bretter aus, nageln hier und dort etwas hin und schleppen ihre Piratenschiffe zum Stapellauf an die Küste des unendlichen Ozeans. Das ist ein mühsames Unterfangen, die schweren Schiffe über Land bis an die Küste zu bringen. Hannes und Julius kriegen das ohne weiteres hin. An der Küste angekommen, werden die Piratenschiffe getauft.

      Hannes: „Ich taufe dich auf den Namen ‚Eagle‘, auf das immer eine Handbreit Wasser unter deinem Kiel sei.“

      Julius holt mit seinem Arm weit aus und wirft die imaginäre Flasche an