Norbert Lingen

Hannes und Julius


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      Nun kommt der Stapellauf. Die beiden schieben ihre Schiffe in das Wasser. Zum Glück ist kein starker Wellengang. Hannes und Julius atmen auf. Immerhin schwimmen die schweren Bretter und gehen nicht unter. Wenn sie sich allerdings daraufsetzen, sinken sie unter Wasser und stoßen gleich auf Grund.

      Das macht nichts. Sie tragen beide Gummistiefel und können so durch die Weltmeere waten und ihre gefährlichen Schiffe vor sich hinschieben. Die selbstgemalten Piratenflaggen flattern in der frischen Seebrise.

      „Käpt’n Silver“, ruft Hannes, „Viermaster in Sicht.“

      „Scheint ein Spanier zu sein, Käpt’n Hook“, antwortet Julius.

      „Alle Mann an Deck. Fertigmachen zum Angriff.“ Käpt’n Silver schwingt den erdachten Säbel über seinem Kopf.

      Käpt’n Hook brüllt: „Kanonen feuerbereit… und Feuuuuuer.“

      „Volltreffer“, jubelt Silver und befiehlt mit Nachdruck: „Fertigmachen zum Entern.“

      So gibt es abenteuerliche Seeschlachten, gefährliche Entermanöver und reiche Beute, die auf der Schatzinsel, dem Unterschlupf der beiden Piraten vergraben wird. Die Plätze sind begreiflicherweise geheim und Hannes und Julius fertigen Schatzkarten an, um die Reichtümer später wiederfinden zu können.

      An manchen Stellen ist der Ozean so tief, dass den beiden das schmutzige Wasser von oben in die Stiefel läuft. Das ficht mutige Seeräuber nicht an. Sie erobern die wertvollsten Schätze auch mit nassen Füßen. Hannes’ und Julius‘ Mamas sind allerdings nicht so erfreut über nasse, sandige Socken und Hosen. Sie müssen aber auch verstehen, dass böse Piraten während des seeräuberns nicht an ihre Mamas denken können.

      So vollführen sie viele schwierige und gefährlich Manöver, geraten einige Male in Seenot und schlagen manche Seeschlacht mit den Schiffen des Königs um Sir Francis Drake. Manchmal fahren sie auch als Klaas Störtebeker und überfallen die Küstenstädte an der Nordsee und räubern sie aus.

      Wenn es dunkel wird, geht es nach Hause zum Abendessen, wo sie ihre großen Abenteuer und Heldentaten zum Besten geben. Im Bett, wenn Hannes das Licht ausmachen muss, liegt er mit der Taschenlampe unter der Decke und vervollständigt seine Schatzkarten, bis er über der Eintragung der eroberten Juwelen der Lady De Winter einschläft.

      Am nächsten Morgen müssen Hannes und Julius zur Schule. Es hat aufgehört zu regnen. Ihr Ozean ist aber noch ausreichend gefüllt und die Piratenschiffe liegen gut vertäut an der Pirateninsel. Nach der Schule beeilen sie sich, weil sie möglichst schnell wieder als Piraten ihr Unwesen treiben wollen. Allerdings müssen sie enttäuscht feststellen, dass im Lauf des Vormittags die Sonne herausgekommen und ihr Ozean trockengefallen ist. Auch ist wohl die Sperrmüllabfuhr dagewesen und hat ihre Piratenschiffe entsorgt. Die Insel mit den Schätzen ist nicht mehr auffindbar.

      Hannes und Julius kommen zu der Erkenntnis, dass das Piratenleben nur dann Sinn macht, wenn man über stabile Ozeane und sichere Inseln verfügt und die Müllabfuhr weit weg ist.

      Danach kommen übrigens die großen Baumaschinen. Jetzt wird die schwarze Asche vom Marktplatz abgetragen. Es kommen endlos viele Lastwagen und transportieren Asche weg, bringen Erde her und die Arbeiter beginnen, Wege anzulegen und einen Park anzupflanzen.

*

      Omas Unterhose

      Am nächsten Tag geht es wieder zur Schule. Mama ist arbeiten und Papa nicht da. Also muss Oma für die pünktliche und ordentliche Ankunft von Hannes und Kalli in der Schule Sorge tragen. Oma sind in den Tagen zuvor schon die zu engen Gummis in den Kniestrümpfen von Hannes aufgefallen.

      „Ich hatte Mama doch gesagt, dass sie die Gummis in deinen Strümpfen etwas weiter machen soll. Die Gummis schnüren dir ja das Blut ab.“

      Oma schüttelt unwillig den Kopf und schimpft, „Nie wird das gemacht, was ich sage. Wenn ich mich nicht um alles kümmern würde.“

      Sie geht ins Schlafzimmer und holt ihre Schere aus dem Nähkasten. Entschlossen geht sie in die Knie und greift nach Hannes’ rechtem Bein.

      „Jetzt ist Schluss. Du kannst nicht noch einen Tag mit dem zu engen Gummi am Bein zur Schule gehen.“

      „Aber Oma…“, stottert Hannes unsicher.

      Doch es ist zu spät. Oma schneidet mit der Schere zuerst das Strumpfgummi am rechten und dann am linken Bein durch. Der Druck an Hannes’ Beinen lässt sofort nach, obwohl er ihn vorher nicht als störend empfunden hat.

      „So lieber Hannes, jetzt kannst du in die Schule gehen. Vielleicht hat deine Mutter ja heute Nachmittag Zeit, die Gummis in der richtigen Länge in deine Strümpfe zu ziehen.“

      Sie bringt ihre Schere in das Nähkästchen im Schlafzimmer zurück und scheucht Hannes und Kalli zur Türe hinaus:

      „Sonst kommt ihr noch zu spät zur Schule.“

      Hannes ist sauer. Jetzt sind seine Strümpfe dahin und sie rutschen auch noch. Das nervt total. Das muss er jetzt den ganzen Vormittag in der Schule aushalten.

      „Das war echt gemein von Oma“, meint Kalli, der ja noch einmal glimpflich davongekommen ist.

      „Das kannst du laut sagen.“

      Hannes und Kalli gehen schweigend zur Schule und vergessen sogar vor lauter Ärger über Oma das eine Haus, an dem man sonst nicht ohne weiteres vorbeikommt. Julius ist mit von der Partie und ist auch der Meinung, dass Hannes’ Oma so etwas nicht hätte tun dürfen.

      „Erwachsene dürfen sich schließlich nicht alles erlauben“, sagt Julius altklug.

      Der heutige Schultag zieht sich wie Kaugummi, aber irgendwann ist auch er zu Ende. In den Pausen ist Hannes auf der einzigen Bank des Schulhofes sitzen geblieben und hat seine beiden Beine so gegeneinandergehalten, dass die Kniestrümpfe nicht rutschen können. Kein Laufen, kein Rennen, keine Murmelspiele auf dem Schulhof. Doch sobald er aufsteht, um wieder in die Klasse zu gehen, rutschen die Kniestrümpfe auf die Knöchel herunter und die Kinder schauen, zeigen auf ihn oder lachen. In kurzer Hose sehen heruntergerutschte Kniestrümpfe schon blöd aus. Das meint sogar Hannes, obwohl ihm bisher eigentlich ziemlich egal ist wie er aussieht.

      Auf dem Rückweg von der Schule nach Hause gehen Hannes und Julius langsamer als sonst. Sie haben Wichtiges zu besprechen.

      „Das kann nicht ohne Folgen bleiben, was Oma heute gemacht hat“, schimpft Hannes. Sein Ärger ist immer noch nicht verraucht.

      „Was willst du tun?“, fragt Julius.

      „Ich weiß es noch nicht“, meint Hannes nachdenklich, „Auf jeden Fall werde ich Oma bei Mama und Papa verpetzen. Das ist das mindeste.“

      Obwohl er die Befürchtung hat, es würde nichts bringen, denn Oma hatte es schließlich darauf angelegt, dass Mama ihre zerstörerische Tat bemerken und darauf reagieren würde.

      „Wenn ich nur irgendeine Idee hätte, wie ich mich an Oma rächen kann“, meinte Hannes zu Julius.

      Dass man sich für erlittene Missetaten rächen muss, wissen Hannes und Julius aus den vielen Büchern, die sie schon gelesen haben. In der Geschichte um Winnetou geht es fast nur um Rache, obwohl sie da immer als etwas Böses dargestellt wird. Auch die vielen Rittergeschichten strotzen vor Rachegedanken. Im Grunde weiß Hannes aus den genannten Büchern genau, dass Rache kein guter Antrieb für eine Handlung ist. Aber er muss zugeben, dass Rachegedanken einen schon befriedigen können. Eigentlich mag er Oma sehr gerne und er möchte er ihr nichts Böses tun, aber trotzdem ruft er noch einmal laut zu Julius herüber:

      „Rache muss sein.“

      Aber sie muss ja nicht so schlimm sein, sagt er zu sich selbst. Es muss auch etwas sein, dass Oma sofort versteht. Die Rache muss etwas mit Omas Tat zu tun haben. Er denkt weiter nach und hat plötzlich eine Idee:

      „Ich hab’s“, ruft er Julius zu, der ihn neugierig