Die Örtlichkeiten wurden den Handlungen angepasst.
…und jetzt geht es auch schon los:
1.
Die Sonne brannte sehr heiß und Leo Schwartz, Leiter der Mordkommission Ulm, wischte sich den Schweiß von der Stirn. In den frühen Morgenstunden dieses Samstages war er aufgebrochen, um die geliebte Schwäbische Alb zu durchstreifen. Er brauchte die Ruhe in der Natur und die körperliche Anstrengung, um abschalten zu können.
Vor vier Jahren hatte er sich nach seiner Scheidung von Karlsruhe nach Ulm versetzen lassen. Er kannte die Schwäbische Alb von einem Urlaub vor vielen Jahren. Als er von der freien Stelle in Ulm hörte, griff er sofort zu. Auch, weil er so schnell wie möglich weit weg von seiner geschiedenen Frau wollte, die inzwischen wieder einen neuen Partner hatte und er diese Tatsache nicht ertragen konnte. Er befürchtete, dem glücklichen Paar zu begegnen, worauf er nicht scharf war. Und er hatte genug von den vielen mitleidigen und oft auch schadenfrohen Blicken von Freunden, Nachbarn und Kollegen.
Er hatte sich in der Zwischenzeit in Ulm sehr gut eingelebt. Er liebte seinen Job, seine Kollegen und die Natur. Eine neue Liebe hatte er hier noch nicht gefunden. Er war auch nicht scharf darauf, noch einmal so verletzt zu werden.
Das Wetter war dieses Jahr im September besonders schön und er freute sich schon die ganze Woche auf diesen Ausflug, denn jedes Mal nahm er sich eine andere Ecke der Schwäbischen Alb vor und entdeckte immer wieder etwas Neues.
Leo genoss nicht nur die Ruhe in der Natur, sondern vor allem den Umstand, dass er sehr wenigen Personen begegnete. Hier konnte er seinen Gedanken nachhängen und so richtig abschalten. Er mochte es, wenn sich der Schweiß überall breitmachte und seine Lunge und die Muskeln brannten. Angesichts der Hitze beschloss er, eine Pause einzulegen. Es war inzwischen Mittag geworden und er hatte bereits eine beachtliche Strecke hinter sich gebracht. Leo war völlig außer Atem und sein Hemd war komplett durchgeschwitzt. Auf einer Anhöhe, unter einem ausladenden Baum, fand er einen schönen, schattigen Platz. Nach einem großen Schluck Wasser musste er sich eingestehen, dass ihm vor wenigen Jahren die Hitze und ein ordentlicher Fußmarsch nicht so zu schaffen gemacht hatten. Gut in Form war er zwar, aber mit seinen 46 Jahren war er auch nicht mehr der Jüngste. Im Alltag trug er bei seiner stattlichen Körpergröße von 1,90 Meter immer Jeans, eine alte Lederjacke und Cowboystiefel. Mit Vorliebe trug er T-Shirts mit dem Aufdruck einer Rockband, die nicht viele in seiner Umgebung kannten. Banausen! Seine T-Shirts waren legendär und er bezahlte sehr hohe Summen für besonders ausgefallene Stücke. Mit seinem Kleidungsstil war er modisch in den 80er-Jahren hängen geblieben, was ihn aber nicht interessierte. Die dummen Bemerkungen hörte er schon lange nicht mehr, andere Meinungen hatten ihn noch nie interessiert. Er machte schon immer nur das, was er für richtig hielt und was ihm Spaß machte. Nur für seine Ausflüge hatte er sich in einem Second-Hand-Shop eine Wanderhose und karierte Hemden gekauft. Und dazu leistete er sich sündhaft teure Wanderschuhe und einen High-Tech-Rucksack.
Leo Schwartz genoss die wunderschöne Aussicht, nachdem er die heutige Marschroute in die Landkarte eingetragen hatte. Sein Puls beruhigte sich. Er war stolz auf sich und die heutige Leistung. Die Vögel pfiffen und er schloss die Augen, um den Gesang besser genießen zu können.
Plötzlich durchdrang ein markerschütternder Schrei die Stille. Leo wurde sofort hellhörig, es handelte sich eindeutig um einen menschlichen Schrei. Er war aufgestanden und lauschte angestrengt. Da! Wieder ein Schrei. Er versuchte zu lokalisieren, woher der Schrei kam. Von seinem Platz aus hatte er eine gute Aussicht, nahm sein Fernglas aus dem Rucksack und spähte die Gegend aus. Wieder ein Schrei und endlich konnte Leo die Stelle genauer ausmachen. Durch das Fernglas konnte er in dem unwegsamen Gelände eine Person mit Wanderausrüstung erkennen, die mit dem Rücken zu ihm stand. Das war eindeutig eine Frau, denn die Person hatte ein rosafarbenes T-Shirt und ein rosafarbenes Tuch um den Kopf gebunden. Der Rucksack auf ihrem Rücken war in der gleichen Farbe. Das musste eine Frau sein. Kein Mann, zumindest keiner, den er kannte, würde freiwillig so rumlaufen.
Es waren zu viele Sträucher und Gebüsch um die Person herum, um erkennen zu können, warum sie so schrie. War sie verletzt? Hatte sie sich erschreckt? Wovor? Vielleicht ein Tier? Egal, er musste ihr auf jeden Fall helfen. Er nahm seinen Rucksack und rannte los. Wenn er sich ranhielt, könnte er die Stelle in ungefähr fünfzehn Minuten erreichen. Leo kam schnell voran. Immer wieder hörte er die Person schreien. Völlig außer Atem und schweißnass erreichte er endlich den Platz.
Leo ging langsam auf die Person zu und erkannte eine junge Frau Anfang 30, die mit weit aufgerissenen Augen vor sich auf den Boden starrte. Sie war sichtlich geschockt, denn sie zitterte am ganzen Körper und schien die Hitze und auch ihn nicht wahrzunehmen. Er machte sich bemerkbar, rief ihr schon von weitem zu, um sie nicht zu erschrecken. Sie reagierte nicht und starrte nur auf einen Punkt vor sich auf den Boden. Als er die Frau endlich erreicht hatte, begriff Leo die Panik der Frau. Auf dem Boden lag die Leiche eines jungen Mannes, die nur mit Badeshorts bekleidet war. Mitten auf der Schwäbischen Alb! Bevor sich Leo um die Frau kümmerte, nahm er sein Handy aus der Tasche und rief seine Kollegin Anna Ravelli an.
„Hallo Anna, hier Leo. Ich bin auf der Schwäbischen Alb auf eine männliche Leiche gestoßen. Bitte informiere die anderen. Die Leiche liegt in unwegsamem Gelände und ich schlage vor, dass wir uns treffen und ich euch herführe.“ Leo dachte angestrengt nach, wo sie sich treffen konnten. Das war ein riesiges Gebiet und Anna kannte sich hier nicht aus. „Kannst du dich erinnern, wo wir letztes Jahr parkten, als wir mit Christine und Stefan hier waren?“ Inständig betete er, dass sie sich daran erinnerte, welchen Parkplatz er meinte.
„Mach dir keine Sorgen, den Parkplatz finde ich schon,“ sagte Anna.
„Gut. Wenn du doch Probleme hast, frag Stefan oder Christine, die beiden waren schon oft hier. Ich gehe jetzt los und wir treffen uns dort. Wir brauchen einen Krankenwagen. Eine junge Frau hat die Leiche gefunden und ist ziemlich geschockt. Ich werde versuchen, sie zu beruhigen. Vielleicht kann ich sie dazu überreden, mich zu begleiten. Bis gleich.“ Leo hatte aufgelegt und keine Antwort abgewartet. Anna wusste, was zu tun war.
Die junge Frau stand immer noch reglos da und starrte auf die Leiche.
„Mein Name ist Leo Schwartz,“ begann er mit ruhiger Stimme, „ich bin Polizist. Hier ist mein Ausweis.“ Er hielt ihr seinen Ausweis direkt vors Gesicht. Jetzt drehte sie leicht den Kopf und nickte kaum merklich.
„Wie ist ihr Name?“, fragte Leo ruhig weiter.
Die junge Frau musste sich konzentrieren. Sie war so geschockt, dass ihr auf Anhieb nicht einmal ihr Name einfiel. Leo wiederholte geduldig mehrmals seine Frage.
„Mandy,“ flüsterte sie endlich und Leo musste sich anstrengen, sie zu verstehen. „Mandy Singer.“ Ihr sächsischer Dialekt war deutlich zu hören.
„Hallo Mandy. Ich schlage vor, wir gehen in den Schatten. Sie setzen sich erst einmal und trinken einen Schluck Wasser.“
Mandy Singer folgte ihm langsam. Sie schüttelte den Kopf, als sie die Wasserflasche wahrnahm, die Leo ihr an dem schattigen Platz reichte. „Danke,“ sagte sie nur und entnahm ihrem Rucksack eine Dose Bier. Sie trank den Inhalt in einem Zug, wobei sie die Dose mit beiden Händen halten musste.
Leo war erleichtert. Sie reagierte und wenn er es schaffte, sie weiter abzulenken, hatte er gute Chancen, dass er sie mitnehmen konnte. Er wollte sie nur ungern hier lassen. Sie saßen auf einem Stein im Schatten und Mandy beruhigte sich langsam, denn ihr Atem war nun ruhiger und gleichmäßiger und ihr leichenblasses Gesicht bekam wieder Farbe. Leo hatte darauf geachtet, dass sie sich mit dem Rücken zur Leiche setzte.
„Geht es Ihnen besser?“ Leo beobachtete sie genau, da er einschätzen musste, ob sie einen Fußmarsch durchhalten würde. Körperlich war sie zumindest in sehr guter Form.
„Es geht wieder,“ sagte Mandy jetzt etwas gefasster. „Ich weiß, ich benehme mich wie ein Kleinkind, aber ich habe noch nie eine echte Leiche gesehen.“
„Nein,