in der Lunge gefunden, und zwar Salzwasser.“
Leo war baff. Hatte er eben richtig verstanden?
„Ertrunken? In Salzwasser? Das kann nicht sein! Auf der ganzen Alb gibt es kein Salzwasser! Du musst dich irren!“
„Willst du mich schon wieder beleidigen? Nein, ich irre mich natürlich nicht, er ist definitiv in Salzwasser ertrunken. Und halt mich nicht für dumm: Ich weiß sehr wohl, dass es bei uns kein Salzwasser gibt. Den Sand, den ich zwischen seinen Zehen und unter den Zehennägeln gefunden habe, ist bei der Analyse. Morgen müsste das Ergebnis vorliegen. Aber das ist noch nicht alles, was ich herausgefunden habe. Aufgrund der Körpertemperatur und des Grads der Verwesung und des Mageninhalts …“ Christine zeigte von der Leiche auf einen Behälter, in dem sich augenscheinlich der Mageninhalt des Toten befand.
„Christine, ich bitte dich! Verschone mich mit deinen makabren Details,“ flehte Leo.
„Du bringst mich um meinen ganzen Spaß. Aber gut, wenn du es so willst, kommt jetzt die Kurzfassung. Es hat sich bestätigt, dass der junge Mann schon länger tot ist. Wie lange, muss ich erst noch abklären. Morgen kommen zwei Kollegen aus Berlin, die sich meinen Kunden ansehen wollen.“
„Was soll das heißen? Seit wann brauchst du den Rat von Kollegen?“
„Ganz einfach, Schätzchen. Ich habe eine Vermutung, die ich aber erst noch abklären muss. Hierzu brauche ich die Meinung meiner Kollegen, um mich in meiner Annahme abzusichern. Die Kollegen habe ich im Internet aufgespürt. Sie hatten mit einem ähnlichen Fall bereits zu tun. Ich habe zwar einschlägige Fachliteratur, aber die Angaben darin sind mir zu schwammig.“ Christine strahlte über das ganze Gesicht und freute sich sehr, dass sie Leo auf die Folter spannen konnte.
„Jetzt mach es doch nicht so spannend,“ sagte Leo ungeduldig. „Was vermutest du?“
„Also gut. Das sage ich jetzt aber nur, wenn du mir versprichst, mich dann in Ruhe zu lassen.“
„Versprochen.“
„Ich denke, dass unser Freund eingefroren wurde. Zu dem Zeitpunkt war er ganz sicher noch nicht lange tot. Er wurde vor kurzem erst am Fundort abgelegt und ist dort aufgetaut. Und wenn du mich fragst, wurde er mit Absicht weit ab mitten in die Prärie gebracht, damit die Leiche dort schnell und ungestört verwesen kann.“ Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: “Oder derjenige, der ihn hergebracht hatte, war Tierfreund und wollte den Wildtieren, den Vögeln und den Kleintieren etwas Futter zukommen lassen.“
„Christine! Du bist unmöglich, du sprichst von einem Toten!“
„Das weiß ich, aber ich habe doch Recht. Wenn du einen Toten in die Natur legst und das auch noch um diese Jahreszeit, dann geht das mit der Verwesung sehr schnell. Viele Tiere sind Aasfresser und ganz wild auf eine Leiche, glaub mir. In ein paar Wochen wäre von dem Jungen nicht mehr viel übrig geblieben. Wir hatten Glück, dass er so schnell gefunden wurde. Wer weiß, was die Wildtiere von ihm weggeschleppt hätten, komplett wäre er mit Sicherheit nicht mehr gewesen.“
Leo wusste, dass Christine Recht hatte. Er reichte ihr das Fahndungsbild mit der Beschreibung.
„Weil wir in unserer Region keine vermisste Person haben, die auf den Mann zutrifft, haben wir diese Beschreibung heute rausgegeben. Sieh sie dir an, ob sie komplett ist.“
Christine las ausführlich und nickte dabei.
„Ca. 22 Jahre alt, weiß, 1,85 Meter groß, dunkelblondes, kurzes Haar, sportliche Figur, braune Augen, keine besonderen Merkmale. Ja, stimmt genau, mehr habe ich auch nicht feststellen können. Der Junge hat keinTattoo, keine Narbe und auch kein auffälliges Muttermal. Und seine Zähne sind in tadellosem Zustand. Wenn ihr mit der Suchmeldung keinen Erfolg habt, könnten wir ihn vielleicht anhand der Zähne identifizieren. Dazu bin ich noch nicht gekommen, das dauert noch. Aber morgen hast du die entsprechenden Unterlagen auf dem Tisch.“ Christine reichte ihm das Blatt zurück und machte sich wieder an die Arbeit.
„Eins muss ich noch wissen: Ist der Junge ermordet worden?“
„Wenn du mich fragst: Ja. Sieh dir die Flecken hier an.“ Sie zeigte auf einige dunkle Flecken an Hals, Gesicht und Oberkörper. „Die Spuren weisen darauf hin, dass er unter Wasser gedrückt wurde. Aber auch hier sind meine Untersuchungen noch nicht vollständig abgeschlossen. Und jetzt denk an dein Versprechen und mach, dass du wegkommst. Vor allem sieh zu, dass du endlich unter die Dusche kommst, du stinkst erbärmlich.“
„Ist schon gut, ich geh ja schon,“ sagte er amüsiert. Wegen ihrer offenen, ehrlichen Art liebte er Christine besonders, sie nahm kein Blatt vor den Mund. Er würde am liebsten hier bleiben und auf neue Ergebnisse warten, aber er war auch froh, hier wegzukommen. Er mochte zwar seine Freundin Christine sehr gerne, aber er hasste die Pathologie. Noch immer drehte es ihm den Magen um, wenn er eine Leiche auf dem Seziertisch sah oder diesen widerlichen Geruch wahrnahm. Aber er konnte auch Menschen wie Christine verstehen, die diesen Job mit Leib und Seele ausübten und kein Problem damit hatten.
Leo musste lächeln, als er sich vor der Tür zu Christine umdrehte. Sie hatte sich schon wieder an die Arbeit gemacht und war völlig in ihrem Element. Sie kannte jetzt keine Müdigkeit und wollte unbedingt an diesem für sie hochinteressanten Fall weiterarbeiten. Von nichts und niemandem würde sie sich davon abhalten lassen.
Zuhause angekommen, stellte Leo seinen Rucksack wieder an den für ihn angestammten Platz im Flur, nachdem er frische Getränke nachgefüllt hatte. Er duschte ausgiebig, er roch nach diesem anstrengenden Tag wirklich nicht mehr gut. Seine Wanderkleidung steckte er in die Waschmaschine und nahm sich vor, morgen früh gleich das Programm zu starten, was er aus Rücksicht auf seine Nachbarn heute Nacht nicht mehr tun wollte, es war schließlich 3.00 Uhr. Leos Magen knurrte. Wann hatte er das letzte Mal gegessen? Zum Frühstück! Wegen der ganzen Arbeit hatte er schon wieder das Essen vergessen. Er öffnete den Gefrierschrank mit seinen Fertiggerichten und wählte einen Hackbraten mit Karottengemüse und Nudeln. Eigentlich war es egal, welches Menü er wählte, es schmeckte sowieso alles gleich. Er aß mit großem Appetit und nahm sich aus der Obstschale noch einen Apfel. Das hatte er sich angewöhnt, um wenigstens etwas Frisches am Tag zu essen und um damit sein Gewissen zu beruhigen. Dass diese Fertiggerichte in dieser Menge, wie er sie zu sich nahm, nicht gesund waren, wusste er. Aber er hasste kochen und für eine Person war ihm der Aufwand einfach zu groß, vor allem das Abspülen danach. Ein ganzer Industriezweig lebte von einem faulen Single, wie er einer war: Folie abreißen, ab in die Mikrowelle und fertig! Es ist so einfach. Einkaufen war ihm lästig. Einmal im Monat ging er immer in den gleichen Supermarkt und kaufte gleich einen Wagen voll unterschiedlicher Fertiggerichte, einen großen Sack Äpfel, einige Steigen Dosenbier und Wasserflaschen, eine Flasche Whiskey und außerdem seine geliebte Marzipan-Schokolade, wovon er ebenfalls gleich einen ganzen Karton kaufte. Mit zwei vollen Einkaufswagen war sein Monatsbedarf abgedeckt. Die Kassiererinnen wunderten sich nicht mehr, sie kannten ihn zwischenzeitlich.
2.
Nach einer kurzen Nacht trafen sich Leo und Anna am nächsten Morgen um 8.00 Uhr im Büro. Leo informierte seine Kollegin über die Neuigkeiten aus der Pathologie.
„Das gibt es doch nicht! Wer macht sich denn solche Mühe? Stell dir das mal vor. Man bringt jemanden um, friert ihn ein und trägt ihn dann mitten in die Natur. Das ist doch verrückt. Warum dieser Aufwand? Wo wurde die Leiche inzwischen gelagert? Schon allein die Vorstellung, dass irgendein Idiot über einen längeren Zeitraum eine Leiche in seiner Gefriertruhe lagert, ist doch krank! Nicht zu vergessen das viel zu große Risiko, dass jemand darüber stolpert. Ich verstehe das nicht. Warum das alles?“ Anna hatte zuvor noch nie etwas davon gehört.
„Ich habe keine Ahnung. Warten wir ab, was die Suche nach dem Mann ergibt. Wenn wir wissen, mit wem wir es zu tun haben, kommen wir vielleicht dahinter, was das Ganze soll. Auf jeden Fall wird der Fundort der Leiche auf der Schwäbischen Alb abgesperrt und nochmals gründlich durchsucht. Da muss doch etwas zu finden sein. Ich habe bereits mit Stefan gesprochen. Er müsste eigentlich schon dort sein.“
Nach ein paar Stunden ging die