Gabriele Delpy

Der Charme von New Orleans


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      Beim Ankleiden denkt er darüber nach, wen aus seinem Bekannten- und Kundenkreis er unverfänglich anschreiben könne. Am besten meldet er sich bei zwei ihm bekannten Antiquitätenhändlern.

      Das schöne, sonnige Wetter verstärkt sein Bedauern, sich in das Geschäft setzen zu müssen, und er würde lieber einen Ausflug in die Stadt machen, bummeln, Kaffeetrinken und Zeitunglesen. Andrerseits läuft ihm das Geld nicht hinterher, und die Anforderung, sich an die sich ständig verändernden Medien anpassen zu müssen, hat ihn schon die eine oder andere schlaflose Nacht gekostet. Dabei sieht er sich vor dem Problem, inwieweit er seine Art, ein Schallplatten- und Musik-CD-Geschäft zu führen, stilistisch mit New Orleans, seinem Verständnis davon und den Anforderungen einer modernen Zeit in Einklang bringen soll.

      Wie er weiß, verflüchtigt sich seine Unlust beim Ankleiden. Er hat sich eine hellgraue Anzugskombination mit weißem Hemd und schwarzer Schleifenkrawatte zurechtgelegt. Die, wie er findet, kühle Anzugfarbe passt zu seinen blauen Augen und setzt einen überzeugenden Akzent, der mit den schwarzen, kurzen Haaren über einem feingeschnittenen Gesicht harmoniert. Der ein wenig tragische Ausdruck seines Gesichts und die leichte Melancholie, die davon auszugehen scheint, hängt möglicherweise mit seiner Musikvorliebe für Blues zusammen und spiegeln einen Charakterzug.

      Der Mann, der auf farblich abgestimmte Kleidung Wert legt, hat sich versehentlich dunkelblaue Socken statt hellgrauer herausgelegt. Auf dem Weg zum Kleiderschrank kommt er am Klavier vorbei, das seine Tante ihm vermacht hat. Die Noten von “Nacht in Tunesien” liegen noch da, und automatisch hat er die bekannte Melodie im Sinn. Doch dann wird ihm das Thema für den schönen Vormittag zu Ernst und er wechselt zu der Titelmelodie von “Paulchen Panther”, deren Variationen er liebt. Manchmal hat er das Problem, dass sich eine Melodie bei ihm festsetzt und dann wird er seinen Ohrwurm den ganzen Tag nicht mehr los.

      Die Melodie erinnert ihn plötzlich an eine Diskussion mit einem Jugendlichen, die er anlässlich seines Besuchs eines Jazz-Festivals in Montreux geführt hat. Damals hatte der junge Mann am Genfer See ihn nach dem Weg zum Bahnhof in diesem merkwürdigen französischen Ort gefragt. Ohne viel Umschweife hat er ihn damals in ein Café eingeladen und ein Gespräch begonnen. Nach dem Thema Schweiz und französische Sprache diskutierten sie die Frage, ob Jazz-Musik altmodisch und langweilig wirkt, und es gelang ihm mit Hilfe der Pink Panther Melodie, einen Streit zwischen dem Jugendlichen und seinen Eltern zu lösen. Viele Menschen wissen wenig über Jazz; solche Erkenntnis ist dem Plattenhändler nicht neu. Der amerikanische Komponist Henry Mancini hatte die großen Leidenschaften Big Band, Swing und Jazz, und diese Musikvorliebe hat sich in seinen Filmmusiken zum rosaroten Panther genauso niedergeschlagen wie in denen mit Inspektor Clouseau und vielen anderen Werken.

      Sinnierend steht er vor dem Schrank und denkt über die unpassende Farbe von den

      Socken nach, die er versehentlich herausgenommen hatte. Im Januar 2013 ist Claude Nobs, der 1967 mit anderen das Montreux Jazz Festivals ins Leben gerufen hat, in Folge eines weihnachtlichen Schi-Unfalls verstorben und für einen Augenblick denkt er melancholisch an die vergangene Zeit. Kurz erwägt er für den Sommer einen Kurzurlaub in der Schweiz, kann sich aber auf Anhieb nicht dazu durchringen. Es würde nicht mit den Jam Sessions zusammenpassen, die bereits in seinem Terminkalender stehen, und zudem plant er den Kurzurlaub in San Francisco. The Big Apple erschiene ihm interessanter. Ausgehend von New Orleans verbreitete sich im zweiten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts Jazz von Süden aus nach Chicago, Illinois bis nach New York und er denkt an das Isaac Stern Auditorium in Carnegie Hall, das als einer der besten Konzertsäle der Welt gilt, und wie er seinen Freitag-Abend in San Francisco verbringen kann.

      Der Mann Anfang vierzig ist unverheiratet und hat keine eigenen Kinder. Darauf befragt, ob er solchen Zustand bejaht, würde er sicherlich seiner festen Junggesellenabsicht Ausdruck verleihen, sich seine persönliche Freiheit und die Ungebundenheit des unverheirateten Mannes zu bewahren.

      Vormittags setzt er sich als Erstes in die Bücherecke des Geschäfts, und erledigt das, was vom Vortag liegen geblieben ist oder was er sich vorgenommen hat. Meist liest er dann ein wenig, berät interessierte Touristen und kommt seiner Art des Verkaufs nach. Schallplatten, Musik-CDs, Fotografien, Drucke, Poster und Bücher über Jazz-Größen wechseln so den Besitzer.

      Einem Impuls folgend entscheidet er sich gegen den Spazierstock, den er in einer Laune passend zum Anzug gekauft hat. Er hätte zu exzentrisch gewirkt.

      Er geht gern spazieren und kennt in dem Viertel, in dem er wohnt, bald jedes Haus und jeden Strauch. Besonders die Geschichte der Häuser und ihrer Bewohner faszinieren ihn. Aber ein rein geschäftsmäßiges Aussehen sind dem geplanten Tagesverlauf angemessener und fördern die Kaufwünsche der Touristen, die seinen ein wenig abseits liegenden Verkaufsraum besuchen.

      Es ist kurz vor elf und gut gelaunt summt er seinen Ohrwurm vor sich hin. Frisch geduscht und sorgfältig gekleidet, begibt er sich pünktlich ins Erdgeschoss, macht die Rollos hoch, schließt die Türen auf und stellt die Werbetafeln auf.

      Er ist stolz auf die Stelltafeln. Alte Emaille-Schilder, die er nach langer Suche ausfindig gemacht hat. Zuerst hatte er Bedenken, die Sachen nach draußen auf den Bürgersteig zu stellen, weil jemand die Schilder mitgehen lassen könne. Es handelt sich dann um einen unwiederbringlichen Verlust, so hatte er seinen freundlichen Nachbarn erklärt. Doch diese hatten nach einer Zeit seine Bedenken für überflüssig erklärt und zum Glück Recht behalten.

      Kapitel zwei: Nicht jeder Park ist Louis Armstrong Park

      „Oh Mann, Sie machen Quakquakquak wie eine Ente und nicht Quäkquäkquäk wie eine Gans.“ Mit solcher Stimme hört sich der Mann filmreif an.

      „Was soll das? Bist du doof und redest mit der?“

      „Mann, lass mich doch. Wenn ich mit der reden will, dann rede ich eben mit der.

      Was mischst du dich ein?“

      Erst der dritte Farbige mischt sich tatsächlich ein und beruhigt die beiden anderen, die sich über das sonderbare Gehabe einer ältlichen Touristin in einem gepflegten Park in New Orleans wundern. Entweder hat die Frau einen übersteigerten Hang zu Exzentrik und Skurrilität oder einen Sonnenstich oder beides.

      In dem kleinen, baumbestandenen Park ist weder Ente noch Gans oder ein anderer Vogel zu sehen, was angesichts des lauten und reichhaltigen Vogelgezwitschers, das überall zu hören ist, ein wenig verwunderlich wirkt, aber niemanden auffällt oder zu stören scheint. Die kleine Gruppe der Schwarzen, die sich im Park aufhält, hat sich vielleicht Melodie und Musik abgesprochen, vielleicht entspringen beide jedoch einer einfachen und natürlichen Lebensfreude an dem schönen Sonnentag. Die jungen Männer sind gut ernährt und ordentlich gekleidet in weißem Hemd oder T-Shirt und langen Jeans. Sie haben nicht einmal ein Bier dabei, zwei sitzen auf einer sauberen Bank aus dunkel gebeiztem Naturholz mit schwarzen schmiedeeisernen Befestigungen an den Seiten rechts und links. Die Ränder sind reich verschnörkelt und es ist eine Holzbank im typischen New Orleans-Stil. Die zwei Männer auf der Bank haben ein rhythmisches, eher leises Trommeln gestartet und von den drei Männern, die vor der Bank stehen, fallen ebenfalls zwei automatisch in eine Art wiegenden Tanzschritt, während der dritte ruhig stehen geblieben ist. Sie singen einen unbekannten und schwer verständlichen Text, der ein wenig stammelnd oder abgehackt wirkt, und von dem ein Fremder auf Anhieb nicht mit Sicherheit sagen kann, ob es Jazz ist oder Cajun-Musik, also eine Art Volksmusik.

      Cajun ist ein Slang-Ausdruck oder eine Kurzform für Acadians, wie sich die Kanadier und ihre Nachfahren nannten, die im achtzehnten Jahrhundert aus Kanada, dem sagenhaften Akadien, in den Süden auswanderten und nach New Orleans gelangten. Sie bewahrten sich in weiten Teilen eine eigene Sprache, das französisch geprägte Cajun, und eine eigene Kultur, die im Laufe der Zeit durch die Vermischung mit anderen Kulturkreisen auch afro-amerikanische Züge annahm. Cajun-Speisen sind kräftiger gewürzt und haben sich eine gewisse Eigenständigkeit bewahrt, die sie von der kreolischen Küche abgrenzen. Beide Kulturkreise leben nebeneinander, allerdings gibt es mehr Cajun als Kreolen in den Sumpfgebieten Louisianas.

      Die