Gabriele Delpy

Der Charme von New Orleans


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dem Rhythmus folgend hin und her.

      Kapitel 3: Die Sängerin Norma an einem heißen Tag

      Die schwarze Sängerin heißt Norma, ist Anfang dreißig und hat eine Stimme, die an Whitney Houston erinnert, aber sie findet ihre Stimme hässlicher. Außerdem kann sie die drei Oktaven nicht vollständig singen. Wie sie weiß, bewundert man den vollen Klang ihrer Stimme und sie liebt Improvisationen. Das war ein Grund für Ihre Berufswahl. Die Frau, die allein vom Typ her sehr feminin wirkt, ist klein und zierlich und hat das Problem, schnell übersehen zu werden. Wie Louis Armstrong kommt sie ursprünglich aus einem ärmeren Viertel von New Orleans. An dieser Tatsache richtet sie sich in schlechten Zeiten auf. Norma hat eine schmale Nase, schöne Zähne und ist vollbusig, und diese Äußerlichkeiten verbucht sie ebenfalls als ihren Vorteil. Kurze Haare, die sich fast selbstständig in große Locken legen, verstärken den Eindruck einer natürlichen Schönheit. Sie kann nicht nur singen, sondern auch Klavier spielen. In der Band, in der sie arbeitet, hat sie jedoch nur wenig Gelegenheit, am Piano zu sitzen.

      Vormittags um halb zwölf Uhr ist sie aufgestanden und hat in dem bei der Sommerhitze durchwühlten Bett als erstes die Ohrstöpsel gesucht, die sie spät nachts beim Zu Bett Gehen anzieht. Sie lebt allein. Es wird ein sonniger und heißer Tag, so stellt sie fest, als sie sich mit einem Sportdress bekleidet die Tüte mit Croissant und Brötchen holt, die vor der Haustüre des adretten kleinen Häuschens liegt und nicht vor dem Vorgartentörchen. Es hat sie Mühe gekostet, bis der Lieferservice des Bäckers verstanden hatte, dass er das Vorgartentörchen öffnen muss und die Tüte vor die Haustür legt und nicht einfach nur hinter das Vorgartentörchen wirft. Die Zeitung liegt bereits im Briefkasten.

      Zurück in der Wohnung öffnet sie das Schiebefenster über dem Frühstückstisch und kocht sich einen Kaffee. Von draußen schallt irgendwoher Musik her und jemand kehrt mit einem Besen die Straße. Die Geräusche passen nicht zueinander, findet sie, und so schließt sie das Fenster wieder. Es ist heiß, und sie frühstückt lieber bei offenem Fenster. Das kleine Haus, das sie in einer ruhigen Seitenstraße bewohnt, wird morgens auf der Seite, wo ihre Küche ist, von dem höheren Nachbarhaus beschattet. Auf diese Weise spart sie sich das Geld für die Klimaanlage und stellt aus Gewohnheit auch keinen Ventilator an. Sie verträgt die Hitze gut und im Grunde liebt sie das warme Wetter.

      Nach dem Aufstehen hat sie eine Musik-CD von Whitney Houston heraus- und dann zum Frühstücken aufgelegt und sie trinkt in kleinen Schlucken den Kaffee zum Wachwerden. Ab und zu sieht sie nach draußen. Als sie das Croissant aufschneidet und überlegt, mit welcher Marmelade sie es essen soll, läuft „I will always love you“. Vielleicht ist es das Fegen des Besens ein paar Minuten zuvor, der sie an ihren schon länger gehegten Plan denken lässt, irgendwas Musikalisches zu machen, was gut ist für das Klima. Die Leute aufrütteln, ist eine Phrase, die ihr dazu immer einfällt. Dabei ist es doch einfacher, nicht zu vergessen. Manchmal tut sie sich mit Worten schwer, wie sie weiß, und dann singt sie lieber irgendeine Variation zu einer Melodie als das, was sie fühlt, in Worte zu fassen.

      Sie legt das Croissant hin und holt die Butter, die sie vergessen hat, aus dem Kühlschrank. Die unterschiedlichsten Improvisationen gehen ihr durch den Kopf und innerlich verjazzt sie den Song, doch dann wird es plötzlich traurig und sie muss über sich selbst und ihre im Grunde wenig ernsthaften Anstrengungen lachen.

      Wenige Minutenspäter hat sie ihr Frühstück unterbrochen, sitzt im angrenzenden Wohnraum vor einem Blatt Papier und kaut auf den Kugelschreiber. Wollte man eine Jam Session machen, dann könnte man ein paar Standards berühmter Musiker mischen und daraus eine musikalische Themengeschichte machen, die langsam zu einem eigentlichen Bedürfnis hinführt, es variiert und um ein Grund-Thema kreisen lässt. Bei einer Jam Session müsste man eine feste Rhythmusgruppe haben und die wechselnde Melodiengruppe mit Musikern aus den unterschiedlichsten Bereichen mischen. Wer sagt denn überhaupt, dass daran ein Interesse besteht? Sie macht das Fenster erneut auf, holt ´The Real Book´ mit den meist gespielten Jazzstandards aus dem Schrank und beginnt zu blättern. Es ist jedes Mal das Gleiche: Sobald sie etwas sucht, dann kann sie sich nicht entscheiden. Jedes Mal ist ihr dann zum Jammern zumute. Wenn sie im Dixieland Stil musikalische Duelle auf der Straße austragen wollte, dann stellt sich im Grunde das gleiche Problem: womit und mit wem soll sie anfangen? Im Prinzip würde eine Jazz Session auf eine Art musikalisches Duell ohne Massen hinauslaufen, so befürchtet sie, und bei solcher Vorstellung muss sie regelmäßig an eine Gruppe protestierender Vögel denken, in der alle ihr eigenes Lied singen.

      Rex ist der Bandleader. Regelmäßig kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen ihnen, und dann müssen die anderen Musiker den Streit schlichten. Rex nennt

      Norma Sweetie und sie mag den Namen genauso wenig wie Süßigkeiten und

      Schokolade, wird ihn aber trotz aller Anstrengungen so schnell nicht los.

      Rex trägt seinen Beinamen nach dem Karnevalskönig des Mardi Gras mit großer

      Selbstverständlichkeit. Er ist Trompeter und spielt auch Saxophon. Mit seinem Selbstbewusstsein setzt er die klare Trennung in Melodiengruppe mit drei Musikern und in Rhythmusgruppe aus vier Musikern durch. Den Rhythmus der Band geben Klavier, Gitarre, Bass und Schlagzeug als Ensemble vor. In der Melodiengruppe konkurrieren der Posaunist, der gleichzeitig Klarinette spielen kann, Rex und Sweetie. Die Sängerin ärgert sich über ihren Namen.

      Da ihr Kaffee kalt geworden ist, macht sie sich einen Milchkaffee und setzt gedankenverloren ihr Frühstück fort. Sie muss an Louis Armstrong denken, von dem es heißt, dass er aus jedem Popsong einen Jazz-Erfolg machte und dass diese Benennungen durcheinander gehen. Nach ihrem Verständnis ist Jazz in den Zeiten Louis Armstrong die populäre Musik, die überall gehört wurde, aber dann gibt sie solche fruchtlosen Gedankengänge auf.

      Bekanntermaßen war Armstrong nicht nur Trompeter, sondern auch Sänger. Sie denkt an ihn und dann an modernen Untergrund-Jazz, den sie gerade nicht spielen will. Sie will etwas machen, was die Leute angeht. Vielleicht Superdome? Superdome erinnert an Fußball. Wer denkt bei Superdome an das Klima?

      Die Menschen aus New Orleans können etwas damit anfangen, denkt Norma. Die im Superdome gebangt haben, dass Katrina vorüberzieht. Viele sind danach weggegangen, manche sind zurückgekommen. Ein wenig kommt es ihr vor wie

      New-Orleans-Jazz und Jazz Revival. Aber ohne die anderen Musiker wird nichts aus ihrem Thema.

      Als sie so weit gekommen ist, dass sie das als gedankliches Ergebnis ansieht, geht ihr wie so oft das große Problem des Wie durch den Kopf. Im Superdome zur Zeit des Sturms und das Problem mit dem Trinkwasser.

      ´Never flying with an banyard´, die Melodie streift sie und lässt sie für den Augenblick nicht los. Um ein Haar wäre sie damals für immer ausgewandert. Jazz gibt es überall, findet sie, in New York, in Chicago, in Europa, Russland, überall. Bloß auch in New Orleans, und so ist sie dann geblieben. Plötzlich kommt sie sich vor wie eine Backstreet Woman mit dem Gedanken an Superdome im Kopf.

      Pleasant Moments In Some Superdome, denkt sie ein wenig sarkastisch, kann man das mit Rag vertonen? ´Wolkige Impressionen´ hat jemand in einem Geschäft in ihrer Nachbarschaft über die Satellitenbilder zu Katrina geschrieben. Unwillkürlich folgt sie ihren Gedanken zu dem Sturm. Die Leute auf der Straße sagen Sturm und nicht Hurrikan der Kategorie fünf oder drei nach der Saffir-Simpson-Hurrikan-Skala, wie es genauer wäre.

      Die Grenze zwischen tropischen Sturm und Hurrikan entspricht der Grenze zwischen Windstärke 11 und 12 nach Beaufort. Während bei einem tropischen Sturm der Wasserspiegel nur um 0,1 bis 1,1 Meter ansteigt, beträgt der Anstieg für einen

      Hurrikan der Kategorie Eins im Zentrum 1,2 bis 1,6 Meter. Und die Vehemenz der Hurrikans ist dann in der Saffir-Simpson-Hurrikan-Skala in den Kategorien von 1 bis 5 gestaffelt, wie Norma im Internet recherchiert hat.

      Alles in Allem hatte man sogar noch Glück gehabt. Katrina war beim Landgang von der Stufe fünf auf die Stufe drei herabgestuft worden. Die Stufe fünf ist die höchste Kategorie und durch Windgeschwindigkeiten ab 250 Stundenkilometern charakterisiert. Im Zentrum des Hurrikans werden dann vom Sturm Meereswellen über 5,5 Metern erzeugt. Hätten die