Tobias Fischer

Veyron Swift und der Orden der Medusa


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Veyron nahm Dinge wahr, die andere niemals sahen, oder erst nach Stunden oder Tagen. Selbst die allerkleinsten Kleinigkeiten entgingen seinen Adleraugen nicht. Kein Mensch der Welt konnte schneller und präziser analysieren.

      Anstatt seine besonderen Talente allerdings irgendwie nützlich zu verwenden, sei es um Kriminelle dingfest zu machen, oder wenigstens Reichtümer zu scheffeln (Geld konnte man dieser Tage immer gut gebrauchen), verschwendete Veyron seine Fähigkeit allein für seine eigenen, kauzigen Zwecke.

      Der Gedanke an das, was unweigerlich auf ihn zukommen musste, dämpfte Toms Glücksgefühle schlagartig.

      »Hör zu, Vanessa. Ich sollte dich vor Veyron warnen. Du hast schon recht, er ist ein wenig seltsam. Ich mach mir wirklich Sorgen um ihn«, gestand er.

      Vanessa lächelte ihn mitfühlend an.

      »Ja, ich kenn das. Meine Mutter tickt auch ständig wegen irgendeiner Kleinigkeit aus, und mein Dad ist ein echter Spinner, der seltsame Sachen in seiner Garage zusammenbaut«, flötete sie und brachte Tom damit wieder zum Lachen.

      »Nein, nein. Mit Veyron ist das anders. Er hat einen einzigartigen Job, weißt du. Aber seit seinem letzten Fall…«

      »Ist er Detektiv? Cool.«

      »Eher so eine Art Berater. Sein letzter Fall war nicht der Hit, das hat ihm schwer zugesetzt. Das ganze Jahr über war er auf der Suche nach einem Neuen. Er nimmt nur ganz ausgewählte Fälle an, musst du wissen. Doch Fehlanzeige, alles Flops. Er ist praktisch schon seit Monaten arbeitslos.«

      Er kam sich unendlich schlau vor, wie elegant er das umschrieben hatte. Wie sollte er ihr auch sagen, dass sich seit ihrem letzten großen Abenteuer nicht ein einziger Vampir, kein einziger Troll, ja nicht einmal ein Kobold hatte blicken lassen. Zwar wurde Veyron immer wieder von Leuten angerufen, die glaubten, Geister im Haus zu haben oder andere übernatürliche Heimsuchungen. Doch jedes Mal hatte sich die Angelegenheit bloß als die krankhafte Einbildung seiner Klienten herausgestellt. Veyron war deswegen richtig frustriert. In dieser Laune war er nahezu unerträglich für seine Mitmenschen.

      »Besonders schlimm ist es in den letzten zwei Wochen geworden. Er hat die Rollläden in seinem Zimmer nicht mehr hochgezogen, lässt sich Frühstück, Mittagessen und Abendessen hinauf bringen. Ich hab ihn nur einmal gesehen – ungewaschen. Er stinkt, um es kurz zu sagen, er stinkt entsetzlich. Ich glaub, es ist keine gute Idee, dass wir heute da hingehen. Vielleicht sollten wir…«, fuhr er fort, nur um von Vanessas Zeigefinger unterbrochen zu werden, der seine Lippen berührte. Sie schenkte ihm ein herausforderndes Lächeln und wickelte verführerisch eine lange, blonde Locke um ihren Zeigefinger.

      »Ach, komm schon, Tommy. Ich will unbedingt sehen, wie du so lebst. So schlimm kann dein Onkel schon nicht sein, bestimmt nicht schlimmer als meine Alten. Weißt du was? Wir sagen ihm kurz Hallo und verziehen uns dann auf dein Zimmer. Wenn er wirklich so stinkt, wie du sagst, machen wir ein Foto und stellen es bei Facebook rein. Das wird echt cool.«

      Tom seufzte. Dieser zuckersüßen Stimme konnte er nichts abschlagen, selbst wenn sich alles in seinem Inneren dagegen sträubte. Geh nicht dahin! Geh mit ihr ins Kino, in den nächsten Park, von mir aus zu Fuß bis nach Kenia, aber nicht zu Veyron Swift, warnte ihn sein Verstand im Stillen, doch der Rausch, den Vanessa in seinem Inneren auslöste, ließ ihn alle Warnungen in den Wind schlagen.

      Was könnte Veyron schon dagegen haben, wenn ich meine Freundin anschleppe? Außerdem geht es ihn sowieso nichts an, entschied er.

      »Okay, lass uns gehen. Aber eines muss ich dir noch sagen: Er ist nicht mein Onkel, er ist überhaupt nicht mit mir verwandt. Er ist nur mein Pate«, sagte er zum ungezählten Male.

      Es dauerte nicht lange, dann standen sie in der 111 Wisteria Road, Toms Zuhause, der Festung von Veyron Swift.

      Das große Backsteingebäude stand auf erhöhtem Grund, zum Gehsteig durch eine kleine Mauer abgegrenzt. Einige Stufen führten zur Haustür hinauf, von wo man einen guten Einblick in den weitflächigen Garten hatte, der mit Hunderten Sträuchern und einigen großen Bäumen überwuchert war, die sich dicht ans Haus drängten.

      Tom sperrte auf und sie traten ein. Es war absolut ruhig im Flur, aus keinem der angrenzenden Räume kam ein Geräusch. Tom warf einen Blick in die Küche. Die Reste eines Frühstücks standen auf dem kleinen Tisch, eine zerfledderte Zeitung lag am Boden.

      Wie es aussah, hatte Veyron tatsächlich sein Zimmer verlassen. Vielleicht war er sogar ausgegangen, denn so still war es selten im Haus. Meistens hörte man ihn in seinem Zimmer auf- und abschreiten, manchmal auch eine Rugbynuss gegen die Wände werfen – stundenlang.

      Jetzt war es still, totenstill. Tom trat zurück in den Flur, warf einen Blick die Treppe hinauf. Dort oben waren Veyrons Schlafzimmer, das Bad und auch sein kleiner Arbeitsraum. Die Tür stand sperrangelweit offen, von seinem Paten war nicht das Geringste zu sehen. Dafür aber die vielen unordentlich über den Boden verstreuten Büchertürme, Zeitungsausschnitte, Landkarten und allerhand nutzloser Krimskrams.

      »Was macht dein Onkel gleich wieder von Beruf«, fragte Vanessa verunsichert.

      Tom spürte, wie ihm die Farbe ins Gesicht schoss. In der Schule hatte er erzählt, Veyron arbeite als Privatdetektiv, denn die Wahrheit konnte er ja unmöglich preisgeben. Außerdem war es ja nicht vollkommen gelogen. Er hatte eben nur ein kleines Detail weggelassen. Doch dass Vanessa jetzt die ganze Unordnung zu Gesicht bekam (da waren doch tatsächlich mehrere angebissene und vertrocknete Apfelstücke zwischen dem ganzen Papierwust zu sehen), das war echt peinlich.

      »Er deckt die Wahrheit auf, Miss Sutton«, antwortete eine dunkle, strenge Stimme hinter ihnen. Tom blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Ihrem Gesicht nach zu urteilen, erging es Vanessa ähnlich.

      Veyron Swift, fast zwei Meter groß, von schlaksiger Gestalt, mit einem strengen, kantigen Gesicht, dünnen Lippen und einer schmalen Raubvogelnase, stand in einem weiten, weinroten Morgenmantel hinter ihnen. Seine baren Füße steckten in grässlichen senfgelben Filzschlappen. Von einem hing bereits die Sohle herunter. Die schwarzen Haare ein einziges Chaos, aber zumindest war er rasiert. Er roch jedoch derart penetrant nach altem Schweiß, dass Vanessa unmittelbar zurückwich und Tom einen verzweifelten Blick zuwarf. Wie peinlich das war! Veyron blamierte ihn gerade bis auf die Knochen.

      Unsicher lächelnd hob Vanessa die Hand und winkte. »Hi, ich bin Vanessa, Tommys Freundin. Wow, Sie sind also sein Onkel? Wo sind Sie so plötzlich hergekommen? Ich hab gar nichts mitbekommen.«

      Veyron zwang sich sichtlich zu einem Lächeln. Es hielt etwa drei Sekunden, danach wurde seine Miene wieder ernst.

      »Ich fürchte, Sie sind nicht Toms Freundin«, sagte er bestimmt. »Halt, ich muss mich korrigieren. Besser sollte ich sagen: Sie sind nicht nur Toms Freundin. In dieser Eigenschaft kommen Sie ganz nach Ihrem Vater. Nein, nicht Joshua Sutton, sondern Ihrem leiblichen Vater, dem Automechaniker aus der 78a Tallham Road, Carl Groves. Immer eine Freundin an der Hand, manchmal auch mehrere – je nachdem, wie viel er im Monat durch das Fälschen von Tachometern verdient. Ein Lächeln hier, eine Geste dort, ein Kompliment da, ein naiver Augenaufschlag und ein verheißungsvolles Schürzen der Lippen. Gratulation, die Verführung liegt Ihnen im Blut, Miss Sutton.

      Leider weiß Tom gar nicht, wie erfolgreich Sie damit sind. Gleich drei Jungs zur selben Zeit, und alle sind Ihnen hörig. Da ist einmal Tom Packard, frisch verliebt und gegenüber dem Offensichtlichen so blind wie ein Maulwurf. Natürlich will ich Stevie Rodgers nicht vergessen, der Rugby-Meister aus der Parallelklasse und Bob Saunders. Der ist ein Jahr älter als Sie und macht derzeit eine Mechanikerausbildung bei Groves. Ein leichtes Opfer. Stevie Rodgers dagegen ist so eingebildet und eitel, dass er nicht einmal auf die Idee käme, Sie würden ein doppeltes – Verzeihung – dreifaches Spiel mit ihm treiben.«

      Tom blieb die Luft weg, Vanessa ebenfalls. Er konnte sehen, wie ihr Kopf abwechselnd leichenblass und anschließend wieder knallrot wurde.

      »Das ist nicht wahr, das ist nicht wahr! Woher wissen Sie das?«, keuchte sie und wich zurück. Veyron behielt sie mit seinen stechenden, eisblauen Augen jedoch im Visier.

      »Ich