wir diesen Charakter mit einigen Strichen gezeichnet und das Bild John Proths in einen passenden Rahmen gebracht haben, wird man leicht begreifen, daß sich der genannte Richter durch die an ihn gerichtete Frage des Fremden nicht sonderlich aus der Ruhe bringen ließ. Hätte jener, statt sich an den Hausherrn zu wenden, dessen alte Dienerin Kate gefragt, so hätte diese wahrscheinlich noch manches andre zu erfahren gewünscht. Sie würde ihn nicht losgelassen und gefragt haben, was man antworten sollte, wenn sich jemand nach seiner Person erkundigte, und jedenfalls hätte es der würdigen Kate nicht mißfallen zu hören, ob der Fremde, sei es im Laufe des Vor- oder Nachmittags, wieder zum Hause Mr. John Proths zurückkehren werde oder nicht.
John Proth selbst würde sich eine solche Neugier, eine solche Indiskretion niemals verziehen haben, bei seiner Dienerin, die ja dem schwächeren Geschlechte angehörte, mußte er sie schon entschuldigen. Nein, Mister John Proth hatte nicht einmal bemerkt, daß das Eintreffen, die Anwesenheit und endlich das Verschwinden des Fremdlings den Maulaffen auf dem Konstitutionsplatze aufgefallen war, und nach Schließung seiner Haustür zog er sich ruhig zurück, um im Garten seinen Blumen, den Rosen, Iris, Geranien und Reseden zu trinken zu geben.
Die Neugierigen taten nicht desgleichen, sondern blieben noch beobachtend stehen.
Der Reiter war inzwischen ans Ende der Exeterstraße gelangt, die sich als Hauptader durch den Westen der Stadt hinzieht. Als er die Wilcox-Vorstadt erreichte, die die genannte Straße mit dem Zentrum von Whaston verbindet, hielt er sein Pferd an und sah sich, ohne den Sattel zu verlassen, nach allen Seiten um. Von dieser Stelle aus lag die Umgebung eine reichliche Meile weit vor ihm offen, und er konnte bis auf drei Meilen die vielfach gewundne abfallende Straße bis zu dem Flecken Steel übersehen, dessen Glockentürme sich jenseits des Potomac vom Horizont abhoben. Seine Blicke überflogen diese Straße aber vergeblich. Offenbar entdeckte er nicht, was er suchte. Das veranlaßte ihn zu lebhaften, ungeduldigen Bewegungen, die sich auf sein Pferd fortpflanzten, das er stramm im Zügel halten mußte.
So verstrichen zehn Minuten, dann begab sich der Reiter langsamen Schrittes wieder die Exeterstraße hinunter und zum fünften Male nach dem offenen Platze.
»Alles in allem, murmelte er nach einem Blick auf seine Uhr, kann von einer Verzögerung noch nicht die Rede sein. Es war ja auf zehn Uhr sieben Minuten verabredet, und jetzt ist es erst kaum halb zehn. Die Entfernung zwischen Whaston und Steel, von wo sie kommen muß, ist ebenso groß wie die zwischen Whaston und Brial, woher ich gekommen bin, und die ich vielleicht in noch nicht zwanzig Minuten zurückgelegt habe. Die Straße ist gut, das Wetter trocken, und ich wüßte nicht, daß ein Hochwasser etwa die Brücke weggerissen hätte. Da liegt also kein Grund zur Verzögerung, kein Hindernis vor. Wenn sie unter diesen Umständen das Stelldichein verfehlt, so wird das ihr eigener Wille sein. Die Pünktlichkeit besteht doch darin, zur rechten Zeit zur Stelle zu sein, nicht aber vorzeitig einzutreffen. Eigentlich bin ich es ja, der unpünktlich ist, denn ich bin um viel mehr zu zeitig gekommen, als es sich für einen methodischen Menschen ziemt. Freilich – von jedem anderen Gefühle abgesehen – erforderte es schon die einfache Höflichkeit, daß ich zuerst zum Stelldichein kam.«
Dieses Selbstgespräch dauerte die ganze Zeit an, wo der Fremde die Exeterstraße hinunter ritt, und endigte nicht eher, als bis die Hufeisen des Pferdes von neuem auf den Macadam des Platzes aufschlugen.
Die, die auf das Wiedererscheinen des Fremden gewettet hatten, hatten also die Einsätze gewonnen. Sie zeigten diesem, als er an den Hotels vorüberkam, auch ein recht freundliches Gesicht, während die Verlierenden ihn nur mit Achselzucken begrüßten.
Endlich schlug die Rathausuhr zehn. Sein Pferd anhaltend, zählte der Fremde die zehn Schläge und überzeugte sich von der Übereinstimmung der öffentlichen Uhr mit der eignen, die er aus der Tasche hervorzog.
Nun fehlten nur noch sieben Minuten zu der für das Rendez-vous bestimmten Zeit, die bald nachher also schon überschritten war.
Seth Stanfort kehrte nach dem Eingange der Exeterstraße zurück; offenbar konnte weder er noch sein Pferd sich ruhig verhalten.
Jetzt herrschte auf dieser Straße ein lebhafter Verkehr. Mit denen, die diese hinausgingen, beschäftigte sich Seth Stanfort nicht im geringsten. Seine ganze Aufmerksamkeit galt nur denen, die die Straße herabkamen, und er lugte scharf nach diesen aus, sobald sie an deren hochgelegenem Ende auftauchten.
Die Exeterstraße ist so lang, daß ein Fußgänger reichlich zehn Minuten braucht, sie zu durchmessen, drei oder vier Minuten aber nur ein schnellfahrender Wagen oder ein Pferd in gestrecktem Trab.
Um die Fußgänger kümmerte sich unser Reiter freilich kaum, er sah sie sogar nicht einmal. Sein vertrautester Freund hätte zu Fuß an ihm vorübergehen können, er hätte ihn gewiß gar nicht bemerkt. Die erwartete Person konnte nur zu Wagen oder zu Pferde ankommen.
Würde sie aber zur erwähnten Zeit eintreffen? Daran fehlten nur noch drei Minuten, gerade genug Zeit, die Exeterstraße hinunterzufahren, auf deren Höhenpunkte zeigte sich aber weder ein Wagen, noch ein Kraftfahrrad oder ein Bizyklett, ebensowenig ein Automobil, das, wenn es mit achtzig Kilometer Geschwindigkeit in der Stunde dahinsauste, sein Ziel noch ganz kurz vor dem Zeitpunkte für das Rendez-vous erreicht hätte.
Seth Stanfort durchmaß die Exeterstraße noch mit einem letzten Blicke. In seinen Augen leuchtete ein Blitz auf, der durch die Pupille hervorschoß, während er im Tone unerschütterlicher Entschlossenheit die Worte murmelte:
»Wenn sie um zehn Uhr sieben Minuten nicht hier ist, heirate ich überhaupt nicht!«
Wie eine Antwort auf diese Erklärung hörte man da im gleichen Augenblick den Galopp eines Pferdes, das oben von der Straße herunterkam. Auf dem Tiere, einem prächtigen Zelter, saß eine junge Frau, die es mit ebensoviel Grazie wie Sicherheit lenkte. Die Leute wichen vor ihm zurück, so daß sich ihm bis zum Platze hinunter kein Hindernis entgegenstellte.
Seth Stanfort erkannte die, die er erwartete; seine Züge wurden wieder ruhiger. Er trieb sein Pferd an und begab sich ruhigen Schrittes vor das Haus des Richters.
Das reizte natürlich die neugierige Menge, die sich herandrängte, ohne daß der Fremde von ihr auch nur im geringsten Notiz nahm.
Einige Sekunden später sprengte auch die Reiterin auf den Platz ein und ihr von weißem Schaume bedecktes Pferd hielt zwei Schritte vor der Tür.
Der Fremde gab sich zu erkennen und sagte:
»Ich begrüße Miß Arcadia Walker...
– Und ich Mister Seth Stanfort,« erwiderte Arcadia Walker, indem sie sich mit graziöser Bewegung leicht verbeugte.
Selbstverständlich verloren die Eingebornen das Paar, das sie nicht kannten, keine Sekunde aus den Augen.
»Wenn sie wegen eines Prozesses gekommen sind, raunten sie einander zu, so möchte man wünschen, daß dieser Prozeß zum Vorteil beider ausginge.
– Das wird auch der Fall sein, oder Mister Proth wäre nicht der geschickte Mann, der er doch ist.
– Und wäre keines von beiden verheiratet, so wär's das beste, die Geschichte endete mit einer Hochzeit!«
So flogen die Worte hinüber und herüber, so äußerten sich die Ansichten der Müßiggänger, doch weder Seth Stanfort noch Miß Arcadia Walker schien die ziemlich lästige Neugier, die sie erweckten, zu beachten.
Seth Stanfort wollte eben absteigen, um an die Tür des Mr. John Proth zu klopfen, als diese sich schon öffnete.
Mr. John Proth erschien auf der Schwelle, diesmal aber auch die alte Dienerin Kate dicht hinter ihm. Beide hatten Pferdegetrappel vor dem Hause gehört, und der Richter, der seinen Garten, sowie die Dienerin, die ihre Küche verließ, wollten wissen, was das zu bedeuten hätte.
Seth Stanfort blieb also im Sattel und wendete sich an den Beamten.
»Herr Richter John Proth, sagte er, ich bin Seth Stanfort aus Boston, Massachusetts.
– Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Mister Seth Stanfort.
– Und hier ist Miß Arcadia Walker aus