Madame de Lansac jeden Abend ein kurzes Stück vorlas. Zu Anfang schmollte er und verlangte nach mehr. Doch dann gewöhnte er sich an die kleinen Happen.
Wenn Madame de Lansac das Buch zuklappte, Ludwig noch einmal übers Haar strich und dann auf Zehenspitzen hinaus schlich, sah er vor seinen geschlossenen Augen den glücklichen König, und er kämpfte gegen das Bild, das sich immer wieder dazwischendrängte: sein eigener Vater, so ganz anders als der König im Märchen.
In Gegenwart des vierjährigen Kindes erörterte man ganz offen auch politische Angelegenheiten. Ludwig hockte sich dann in einer Ecke auf den Boden und gab vor, sich mit einem Spielzeug zu beschäftigen, das seine ganze Aufmerksamkeit beanspruchte. In Wirklichkeit ließ er sich kein Wort der Gespräche entgehen. Auch wenn er den Sinn der Verhandlungen nicht verstand, hörte er aufmerksam zu, und es schien ihm, als sei alles, worüber geredet wurde, unerfreulich und bedrohlich. Die Nachbarn liebten den König von Frankreich keineswegs. Sie bekämpften ihn, vor allem der Kaiser in Wien und die Spanier, was Ludwig am meisten beunruhigte, da seine eigene Mutter die Schwester des Königs von Spanien war und damit auch in seinen Adern spanisches Blut floss.
Seit fünfundzwanzig Jahren schon, so entnahm Ludwig den Gesprächen, befand sich das riesige Europa im Krieg. Während der ersten acht Jahre hatte sich Frankreich noch herausgehalten, doch inzwischen bestimmte das Kriegsgeschehen auch die Geschicke des Landes. Was genau das bedeutete, konnte sich Ludwig nicht vorstellen, nur dass fünfundzwanzig Jahre eine unglaublich lange Zeit waren, in der Menschen starben und Dörfer abbrannten, in der Kinder, so alt wie er selbst, Hunger litten und von allen verlassen wurden. Ein guter König wie im Märchen hätte dafür gesorgt, dass dieses Leiden ein Ende nahm. Doch Ludwigs Vater befahl seiner Armee, vorzurücken, zu belagern und zu töten. Er nannte das Volk seiner Gemahlin „diese gottverfluchten spanischen Hunde“ und wünschte ihm die Pest auf den Leib.
Wenn seine Generäle ihn wieder verlassen hatten, blieb der König mit seinem Sohn allein zurück. Dann sank er in sich zusammen, hustete und atmete schwer. Einmal weinte er sogar, vergessend, dass sein Sohn ihn beobachtete. Nur allmählich begriff Ludwig, dass sein Vater Angst hatte. Womöglich, weil die Soldaten der gottverfluchten Spanier stark waren. Womöglich, weil sich das glorreiche Frankreich in Gefahr befand.
Ein König, der Angst hatte. Angst vor der Krankheit, vor den Mühen des Sterbens und vor allem vor dem Verlust der Krone. Angst vielleicht sogar vor den eigenen Untertanen. Ludwig selbst hatte mehrere Male erlebt, dass das Volk seinen König durchaus nicht liebte und verehrte. Bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen Ludwig mit seinen Eltern in einer Kutsche über die Landstraßen gefahren war, um die Sommertage in Fontainebleau zu verbringen, hatte er gesehen, wie das Volk von Frankreich auf den Anblick der königlichen Kutschen und des mächtigen Geleitzugs reagierte: Die Menschen in den Dörfern verschwanden wie vom Teufel gehetzt in ihren Häusern. Manchmal drohten sie mit den Fäusten und fluchten dabei, bevor sie die Türen hinter sich zuwarfen Einmal trafen sogar Steine die königlichen Kutschen und nie, niemals jubelte jemand wie in den Geschichten der Madame de Lansac. „Warum sind sie so böse?“, fragte Ludwig seine Mutter, die seinen Kopf vom Fenster wegdrehte. „Warum hassen sie uns?“
Seine Mutter zuckte die Achseln. „Es sind wohl die Steuern“, antwortete sie widerwillig. „Das Volk hat keine Lust zu zahlen. Es begreift nicht, wie viel Geld der Krieg kostet. Die Bauern versuchen alles, um sich vor den Steuern zu drücken.“
„Und was geschieht, wenn sie nicht zahlen?“
Die Königin zuckte die Achseln. „Dann veranlasst man sie dazu“, antwortete sie ausweichend. Da befreite sich Ludwig aus dem Griff seiner Mutter. Er drückte das Gesicht ans Fenster, um einen letzten Blick auf die ungehorsamen Bauern zu werfen. Den „Pöbel“ nannten die Berater des Königs das Volk, und ein paar Mal hatte Ludwig auch gehört, dass einer von der „Kanaille“ sprach, wenn er die Untertanen meinte.
König zu sein bedeutete wohl, dass man gehasst wurde. Nicht allein vom Volk, das konnte Ludwig noch verstehen, da er nichts Gemeinsames fand zwischen sich selbst und den zerlumpten Geschöpfen mit ihrer Haut in der Farbe der Erde und ihren ausgemergelten Körpern. Viel schwerer war es zu verstehen, dass ihm sogar in seiner unmittelbaren Umgebung eine Ablehnung begegnete, von der er schon früh ahnte, dass sie dem Hass der Dorfbewohner verwandt war.
Immer wieder spürte er, dass ihn die Söhne des Hochadels, die man zum Spielen zu ihm führte, bei aller Höflichkeit ablehnend behandelten und jede Gelegenheit nutzten, ihm versteckt, aber trotzdem spürbar zu zeigen, dass sie ihn nicht leiden konnten und sich ihm sogar überlegen fühlten.
„Warte nur, bis ich König bin!“, dachte er in hilflosem Zorn. Zum ersten Mal in seinem Leben verstand er seinen Vater, der sich Tag um Tag bei seinem Vertrauten Kardinal Mazarin über die Unbotmäßigkeit des Adels beklagte und einen Bürgerkrieg fürchtete.
Furcht. Angst. Da war es wieder, dieses Gefühl, das wie schlechte Luft die prunkvollen Gemächer der königlichen Familie verpestete. Alle hatten Angst. Jedem misstrauten sie. Keiner in ihrer Umgebung, der nicht von einem ehrgeizigen Rivalen oder einer fremden Macht bestochen sein konnte. Jeder, der ihnen heute noch wohlgesonnen und treu erschien, konnte morgen schon zu einem der vielen Feinde übergelaufen sein, und nicht einmal untereinander - vom Verhältnis zwischen Mutter und Kindern abgesehen - herrschten Liebe und Vertrauen.
Krieg nach außen und ein drohender Aufstand von innen. Ein sterbender König und eine schwache, ausländische Königin. Ein Thronfolger sollte die Krone retten: ein Kind von nicht einmal fünf Jahren, das wie ein sehr alter, erfahrener Mensch die Gefahr längst spürte und die eigene Hilflosigkeit.
So glücklich der König über die Geburt des Stammhalters war, so offensichtlich war er bald eifersüchtig angesichts der Zuneigung seines Sohnes zur Mutter. Er machte ihr Vorwürfe, sie nehme diesen gegen ihn ein.
Seine Mutter — Anne d'Autriche, Anna von Österreich - war der einzige Mensch, bei dem sich Ludwig geborgen fühlte. Wenn sie ihn auf ihren Schoß hob und ihre Arme um ihn schloss, gab es nichts mehr, von dem er sich bedroht fühlte. In diesen seltenen Augenblicken drückte er sein rotbackiges Kindergesicht auf ihre weiche, weiße Brust, deren Dekolleté sogar an kalten Wintertagen entblößt war, und atmete den Duft ihres Parfüms aus Tausenden Rosenblättern ein. Er wickelte ihre blassgoldenen Locken um seine kräftigen kleinen Finger und bewegte sein Gesicht langsam hin und her, um die Berührung mit der zarten Haut noch intensiver zu spüren.
Manchmal hob er für einen Moment den Kopf und lächelte seiner Mutter zu, die dieses Lächeln erwiderte und ihn leise ihren „kleinen König“ nannte. Daraufhin schloss Ludwig die Augen und barg sein Gesicht wieder am Leib der Mutter. Er horchte auf ihren Atem und spürte den Schlag ihres Herzens. Sosehr die Nähe seines Vaters ihm Unbehagen bereitete, sosehr beglückte ihn die Berührung seiner Mutter.
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