hundert und wieder hundert Jahre des Lebens beschlossen sich nach einem unbegreiflichen Ratschluß, der alle in heiliger Scheu erbeben ließ. Die langen Nächte hindurch, in der Frühe und am verständlichen Tag wehte es aus der kahlen Höhe ihrer Krone klagend im Wind über das Land, durch den Vogelgesang dahin, durch das selige Seufzen der vom Frühling begnadeten Geschöpfe und durch das strahlende Tageslicht, das seine Macht über die Lebensgeister des alten Baums verloren hatte.
Eines Tages vernahm der Elf die Klage der sterbenden Eiche im Wind und konnte sie nicht vergessen. Nun ward er gewahr, daß alle sie wußten, und seit jener Stunde zwang es ihn plötzlich, im Schreiten innezuhalten, wenn er durch den Wald ging, um zu lauschen, ob durch die Lebensmelodien der lebendigen Bäume wieder diese Klage dränge, die den ganzen Wald erfüllt hatte. Und er vernahm die Töne und erschauerte. Sie erklangen so heimlich, daß sein Gemüt in der Erkenntnis erzitterte, daß diese bescheidenen Wehelaute eine so stille Wildheit zu bergen vermochten, und daß Geduld so schmerzhaft sein könne.
Da ging er der Stimme nach, um den sterbenden Baum zu finden. Wie es zum Herzen griff! Er sah eine Blume, die zu blühen anfing, den Tau trinken; in der Erwartung ihrer Sonne sangen alle Vögel, da warf er sich ins Moos und lauschte. Seit jener Stunde trieb es ihn wieder und wieder herzu, am Tag, in der Nacht, immer wieder zog es ihn an diesen Waldort ohne Schatten, wo die große Eiche stand. Rings der Himmel über ihm war wie mit Sterben angefüllt, und die Seele des Elfen füllte sich mit dieser Schwermut des Scheidens vom Leben, wie ein Becher mit Wein.
Er verstand den Baum. »Es ist kalt,« rief er einmal des Nachts, »der große Wald ist leer! Ich sehe hin und zurück, zurück und hin, schaue, forsche und suche, und bin doch allein. Ich erinnere mich, ich träume und bin doch allein.
Der Mond leuchtet hell, wenn seine Strahlen die Erde erreichen, scheint mir die Welt ohne Elend, ohne Schmerz, alles und alle erscheinen mir sanft. Er bringt helle Tücher, als wollte er mich vor dem schützen, was kommen soll, als wollte er mich erwärmen, und ich fühle wieder wie durstige Pflanzen, die sich öffnen und zu blühen anfangen.
Enttäusche ich euch jetzt, weil ich dürr und kahl dastehe? Ihr habt mich grün gesehen! Ich gab der Erde Schatten, den Vögeln Ruhe und den Tieren Früchte. Ich habe die Blicke entzückt, und nun liebt ihr mich weniger, weil ich es nicht vermag? Müßt ihr nicht stets an jene Zeit denken, wo ihr mich anders saht?
Ihr denkt nicht mehr daran! Meine Klage erniedrigt mich. Nun fühle ich zum erstenmal, daß mein irdisches Gefühl mich von der Welt trennt. Einst erzählte ich, ich teilte das Neue, das Leben den Blumen, den Bäumen mit. Dort oben liebkoste mich der Wind, als wollte er zu mir sagen: Du hast nicht unrecht. Da wußte ich, daß mein irdisches Gefühl mich mit der Welt verband. Ich rief: Nehmt mich nur auf, laßt mich euer Teil sein, ein Glied eurer reichen Familie. Ich fühlte die Welt und vereinte mich mit ihr und wurde zum erstenmal mündig. Alles tönte in mir und mein Herz strömte über. O, wie ich der Erde verschuldet bin, wie kein Wesen vor mir!«
Der Blumenelf lag im Moosgrund und lauschte der Klage, er begriff die Wirklichkeit des Todes und erbebte. Aber er vermochte seine Sinne nicht vom Sterben des Baumes abzuwenden.
Da hörte er wieder die alte Stimme über sich im Wind:
»Es forscht ohne Aufhör in mir und will doch von nichts wissen. Meine Wurzeln werden vom Wasser berieselt, das alle Pflanzen zu neuem Sprossen ernährt. Ich fürchte mich vor dem Tage, die Sonne, die mein Blut beeinflußt hat emporzudrängen, blendet mich nun. Wie lockt mich die Weite, die ich lange ohne Begehren im Bild erblickt habe! Wo sind die Tiere? Ich höre nur die Vögel. Und doch ist alles Weite so nah, so möglich geworden.
Mein Herz war einst in der Sonne so weit offen, daß es nicht nur sich selber trug und ahnte, sondern die ganze Welt. Da wußte ich die Wahrheit über mich. Nun umgibt es mich rings wie eine Wand, so kalt wie Eis, so durchsichtig wie Glas, so nah, daß mir ist, als spiegelte ich mich wider. Sie macht die Seele zum Verbrennen durstig, und ich fühle Angst. Lebt wohl!«
Da drückte der Elf erzitternd sein Herz fest, fest an die Erde, die Auferstehung und Vermoderungen in sich barg und einen herben Geruch von Harz ausströmte. Ihm war, als durchdränge dieser Geruch seinen vergänglichen Leib, er schloß seine Augen und schwieg, denn es redete mit vielen Stimmen zu ihm, die wie eine Stimme waren.
Von den Engeln
Sechstes Kapitel
Von den Engeln
Eines Morgens in der Dämmerung, als von der Sonne noch wenig zu spüren war, kam Hassan, der Igel, durch den Tau. Er sah sich auf der Waldwiese um, etwas mürrisch, wie es nun einmal seine Art war, aber im Grunde recht gut gelaunt, obgleich er sich sehr verspätet hatte. Er hielt nach einem Ort Ausschau, an dem er schlafen könnte, denn er wäre um alles gern in einem Schlupfwinkel gewesen, bevor die Sonne emporstieg. Die Igel haben nicht viel für den Sonnenschein übrig.
Da die Vögel und Blumen und alle kleinen Tiere der Waldwiese noch schliefen, entdeckte niemand den Igel, es wäre zweifellos ein großer Jammer unter ihnen ausgebrochen, denn Hassan war nicht beliebt, weil er von kleineren Tieren so viel fraß, als er irgend finden konnte. Wo immer es draußen im Wald in der Gemeinschaft einer Tiergesellschaft sein mag, überall fürchtet man den Igel, nirgends sieht man ihn gern. Es kommt sicher hierbei noch hinzu, daß er für gewöhnlich in der Abenddämmerung aufbricht. Das hat schon an sich etwas Unheimliches, auch ist er schwer von einem rundlichen dunklen Erdhaufen zu unterscheiden, wenn er still im Gras sitzt und auf Mäuse wartet. Was aber am peinlichsten ist, ist die Tatsache, daß er viel rascher laufen kann, als man denkt. Viele Tiere bekommen allein schon darüber einen solchen Schreck, daß sie sich in ihrer Verwirrung von ihm greifen lassen.
Hassan kam etwas träge heran, ging das Bachufer nieder, trank ein wenig und sah nach dem Himmel. Es würde ein warmer Tag werden. Unter der großen Linde gefiel es ihm, er dachte sich, zwischen diesen dicken Wurzeln finde ich irgendeine Höhle, die mir den gewünschten Schlupfwinkel für den sonnigen Tag bietet, vielleicht, daß ich dort auch ein Mäusenest entdecke und für den Abend auf eine gesunde Mahlzeit rechnen kann.
Nun muß man wissen, daß Hassan in Zwistigkeiten mit seiner Familie geraten war, um zu verstehen, daß er kein eigenes Heim hatte. Sein Vater hatte ihm eines Abends ohne viel Umstände erklärt, er solle sich ein eigenes Jagdgebiet suchen, denn die Umgebung ihrer gemeinsamen Behausung ernähre nicht mehr Vater, Mutter und die kleineren Geschwister, am allermeisten deshalb, weil es fast unglaublich sei, wieviel er, Hassan, an einem Tage verschlänge. Das läge an den Jahren; aber nun sollte er gehen.
So rasch findet nun aber ein Igel kein neues Heim, auch dachte Hassan daran, sich zu verheiraten, und so war er genötigt, sich in der Fremde umzusehen. Und wie es oft ist, wenn man keinen anregenden Umgang mit seinesgleichen hat, so kommt man leicht ans Herumtreiben, und so war es geschehen, daß sich Hassan einmal wieder gründlich verspätet hatte.
Als er nun langsam durch Blumen und Gräser auf die Linde zuschritt, dachte er: Hier sieht es nach guter Beute aus. Er gähnte und kroch unter die Wurzeln. Da sah er im Moos einen hellen Schimmer und erschrak, denn es war schwer zu begreifen, wie hier in die Schattendämmerung des Moosgrundes ein Lichtschein kommen sollte. Glühkäferchen kamen im Morgengrauen nicht vor, so konnte es nur noch ein Stückchen faulendes Holz sein, das oft einen weißlichen Glanz ausstrahlte, wie er im Sumpf erfahren hatte. Er bog um die letzte Wurzel, die wie ein dicker Schlangenleib aus den Farnkräutern kroch, und spähte vorsichtig in den Grund der kleinen Höhle, aus welcher das Licht kam.
Da sah er einen unendlich kleinen Menschen mit hellgoldenem Haar im Moos liegen, auf einem weißen Kissen von Blumenblättern und in einem schimmernden Kleid, erglänzend und feiner gewoben als Spinnweben im Sonnenschein der Waldtiefe, und so leicht wie kühler Wind, der kaum das Zittergras bewegt. Es war durchaus nicht zu erkennen, woher das Licht kam, bis Hassan zu seiner unbeschreiblichen Verwunderung gewahr wurde, daß die Stirn, das Angesicht und die Hände des kleinen Menschenwesens aus eigenen Lichtgründen leuchteten. Was aber sein Gemüt am meisten bewegte, war der Ausdruck von Traurigkeit in dem schlafenden Angesicht des fremden Wunderkindes. Hassan mußte, er