Irene Dorfner

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Opfer machte jeden sprachlos.

      „Es gibt keinen Hinweis auf den oder die Täter. Ich musste erfahren, dass seit Anfang September Gegenstände von Brücken geworfen wurden, ohne dass uns dies gemeldet wurde.“

      „Auch Pflastersteine?“

      „Nein. Schenk sprach von Zierkürbissen, Äpfeln und Kleinobst, wovon offenbar Reste gefunden wurden. Von Pflastersteinen weiß die Polizei nichts. Die ausführlichen Berichte sind hier,“ sagte Krohmer und zeigte auf den dünnen Stapel Papiere vor sich.

      „Hat die Presse darüber berichtet?“ Hans Hiebler las nur sporadisch die Tageszeitung und hatte davon noch nichts gehört.

      „Nein. Der Altöttinger Kollege Schenk hatte entschieden, die Informationen zurückzuhalten. Er ging von einem Streich aus und ließ im Hintergrund ermitteln. Trotzdem sind offensichtlich einige Informationen darüber durchgesickert, wodurch sich eine Bürgerwehr gebildet hat, die seit einigen Wochen auf Brücken Wache schieben soll. Genauere Informationen über diese Bürgerwehr sind nicht bekannt. In den Ermittlungsakten gibt es nur Andeutungen und Vermutungen.“

      „Eine Bürgerwehr? Ist die Reaktion nicht etwas übertrieben?“

      „Den Altöttinger Kollegen wurden acht Fälle gemeldet. Ein Wahnsinn!“

      „Eine Gruppierung wie eine Bürgerwehr bringt immer Probleme mit sich,“ stöhnte der 52-jährige Leo Schwartz, der auch heute wieder verschlafen hatte. Das geschah in letzter Zeit häufiger, seitdem er mit seinem 55-jährigen Freund und Kollegen Hans Hiebler um die Häuser zog. Beide waren Junggesellen und hatten genug davon. Leo wollte nicht mehr allein sein und suchte auf diesem Weg eine Frau, die zu ihm passte. War das wirklich der richtige Weg? Er hatte keine Ahnung. „Sie vermuten mehrere Täter, Chef?“

      „Vorerst ja. Kümmern Sie sich darum und ziehen Sie den oder die Verrückten aus dem Verkehr,“ brummte Krohmer. Er hasste solche unberechenbaren Typen, deren Opfer jeder werden konnte. Immer wieder sah Krohmer auf die Uhr. Auf was wartete er?

      „War es das, Chef?“, drängelte der 41-jährige Werner Grössert, der wie immer einen sehr teuren, modernen Anzug trug und aussah, als käme er direkt aus einem Modekatalog. Er war fassungslos, was er bezüglich der Brückenwürfe hören musste.

      „Haben Sie es eilig?“, herrschte ihn der Chef an.

      Was war nur mit Krohmer los? Er war heute sehr nervös, was nicht zu ihm passte.

      Dann öffnete sich die Tür und Tatjana Struck trat ins Besprechungszimmer. Sofort standen alle auf und begrüßten die siebenunddreißigjährige Kollegin, die wegen einer Schussverletzung lange im Krankenhaus war.

      „Warum hast du keinen Ton gesagt, dass du wieder einsatzfähig bist?“, rief Leo erleichtert und umarmte die Frau, der die Aufmerksamkeit und die körperliche Nähe merklich unangenehm waren. Während Hans und Werner das spürten und sich zurückhielten, merkte Leo nichts davon und drückte und herzte die Frau, die er sehr vermisst hatte. Er ließ es sich während der letzten Monate nicht nehmen, sich regelmäßig über ihren Gesundheitszustand zu informieren und sie ab und an zu besuchen.

      Alle sprachen durcheinander und Krohmer schmunzelte. Die Überraschung war ihm gelungen. Es sah anfangs mit Tatjanas Genesung nicht gut aus, die Ärzte befürchteten das Schlimmste. Aber Frau Struck hatte gekämpft und war jetzt wieder einsatzfähig, obwohl ihr noch eine Kur zustand, die sie jedoch abgelehnt hatte. Hatte sie die zu voreilig und leichtfertig abgelehnt? Das zu bewerten, stand Krohmer nicht zu, das war die private Entscheidung der Kollegin Struck. Jetzt war die Mordkommission wieder komplett und in Anbetracht des Falles war das von Vorteil.

      Krohmer ging in sein Büro. Er war nicht wegen der Kollegin Struck angespannt und genervt, sondern wegen des Anrufs des Staatsanwaltes, den er vorhin hatte abwürgen müssen. Das gefiel Eberwein sicher nicht. Der mochte es nicht, wenn er warten musste. Es ging um den Fall Ziegler und den damit verbundenen Brückenwürfen. Woher wusste Eberwein davon? Er hatte vorhin nur deutlich gemacht, dass sich die Mordkommission umgehend und mit vollem Einsatz um den Fall kümmern solle. Krohmer versprach, sich wieder bei ihm zu melden.

      „Herr Eberwein? Meine Leute bearbeiten den Fall. Die Unterlagen aus Altötting liegen bereits vor. Frau Struck ist wieder mit an Bord, wodurch unsere Mordkommission wieder komplett wäre.“

      Eberwein interessierte diese Information nur am Rande. Ihm ging es nur um den Fall Ziegler.

      „Finden Sie das Schwein,“ sagte Eberwein wütend. „Machen Sie Druck bei Ihren Leuten. Urlaubsanträge sind gestrichen, dieser Fall geht vor. Halten Sie mich auf dem Laufenden.“ Eberwein hatte aufgelegt. Er zitterte und war immer noch sehr betroffen über die Todesnachricht. Das Opfer Patrick Ziegler war der Sohn seines besten Freundes. Er hatte ihm versprechen müssen, den Täter zu finden, der den Tod des einzigen Kindes zu verantworten hatte. Wie hätte er dem verzweifelten Mann dieses Versprechen verweigern können? Paul Ziegler und er waren seit dem Kindergarten befreundet und trafen sich regelmäßig. Wie oft sie gemeinsam im Urlaub waren, konnte er nicht mehr zählen. Sein eigener Sohn und Patrick waren ebenfalls befreundet. Und jetzt diese schreckliche Tragödie. Ja, es war richtig gewesen, ihm die Aufklärung des Mordfalles zu versprechen. Eberwein nahm seine Tasche, er hatte einen Termin bei Gericht und war spät dran. Er nahm sich vor, ab sofort in ständiger Verbindung mit Rudolf Krohmer zu bleiben, auch wenn er dem Chef der Mühldorfer Polizei damit auf die Nerven gehen sollte.

      Davon ahnte Krohmer nichts, als er sich seiner Arbeit zuwandte.

      „Jetzt reicht es aber,“ sagte Tatjana genervt. Sie mochte die Aufmerksamkeit bezüglich ihrer Person nicht und konnte nur sehr schwer damit umgehen. Sie war seit gestern Abend wieder in Mühldorf und war froh darüber. Die erdrückende Fürsorge ihrer Eltern, ganz besonders die ihres Vaters, ging ihr fürchterlich auf die Nerven. Ihr Vater bequatschte sie von morgens bis abends, in Frankfurt zu bleiben. Sie solle den Job bei der Polizei quittieren und sich irgendwo eine ruhige, ungefährliche Arbeit suchen, um die sich ihr Vater kümmern würde. Aber darauf konnte sie gerne verzichten. Sie liebte ihre Arbeit und wollte nichts anderes machen. Vor knapp einem Jahr hatte sie den Absprung von zuhause geschafft und jetzt war sie endlich wieder in Mühldorf. Ihre Wohnung war verwaist und kalt. Trotzdem fühlte sie sich dort wohler als irgendwo sonst auf der Welt. Sie war heute sehr früh aufgestanden und war vor ihrem ersten Arbeitstag seit diesem unsäglichen Vorfall in Wolfratshausen wieder in ihrem Leben angekommen. Vielleicht konnte sie wieder so etwas wie Normalität aufbauen und endlich wieder zur Ruhe kommen. Sie konnte es kaum erwarten, wieder durchzustarten. „Was liegt an, Leute?“

      „Der Chef hat uns einen Fall aufs Auge gedrückt, der nicht gut aussieht. Irgendwelche Deppen werfen unterschiedlichste Gegenstände von Brücken auf Straßen.“

      „Verletzte?“

      „Seit heute gibt es einen Toten.“

      „Wer ist das Opfer?“

      „Patrick Ziegler. Der Junge war gerade mal 21 Jahre alt. Sein Fahrzeug wurde in voller Fahrt mit einem Pflasterstein getroffen.“

      „Sonst noch etwas? Das können doch noch nicht alle Informationen gewesen sein.“

      „Nun mal ganz langsam, junge Frau,“ sagte Hans. „Wir haben den Fall erst vorhin übertragen bekommen. Wir wissen auch noch nicht mehr.“

      Mit großem Eifer machten sich die Kriminalbeamten an die Arbeit. Die Tatsache, dass das Todesopfer noch so jung war und er das einzige Kind der Familie war, schlug allen auf den Magen. Die Berichte der Altöttinger Kollegen waren dürftig, sie hatten nicht die kleinste Spur auf die Brückenwerfer. In den Unterlagen gab es auch keinen konkreten Hinweis auf Mitglieder der Bürgerwehr.

      Werner hatte die entsprechenden Brücken, von denen Abwürfe gemeldet wurden, auf einer Karte eingezeichnet.

      „Es waren hauptsächlich Brücken in Altötting und Neuötting betroffen. Niemand hat den- oder diejenigen gesehen. Die Meldungen wurden von betroffenen Autofahrern vorgenommen. Ich habe eine Liste mit Namen und Adressen angefertigt,“ schloss Werner seine Ausführungen.

      „Wo und