Irene Dorfner

Zahltag


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sagte Tatjana.

      „Ich glaube nicht, dass uns das weiterbringt. Die Zeugin Alramseder sagte, dass es zur Tatzeit stockdunkel war. Der Pflasterstein hätte jeden treffen können, auch ihren eigenen Wagen. Aber wenn du meinst, sprechen wir mit den Eltern, ich begleite dich.“ Hans nahm seine Jacke. Er musste raus hier. Schon seit Tagen saßen er und seine Kollegen an alten Fällen, mit denen der Chef immer wieder ankam, wenn kein aktueller Fall vorlag.

      „Dann übernehme ich mit Werner die Zeugen,“ sagte Leo. Auch er war froh darüber, endlich aus dem Büro zu kommen. Wie Hans hasste auch er trockene Büroarbeit.

      Es war kalt geworden, sehr kalt. Überall sah man Weihnachtsdekorationen, die zum Ende November jedes Jahr angebracht wurden. Dieses Jahr begann die Adventszeit besonders früh. Auch die Stadt Mühldorf ließ sich nicht lumpen und dekorierte den Stadtplatz, über den sie gerade fuhren, mit üppigen Sternen und Lichterketten. Hans liebte diese Jahreszeit, auch wenn sie ihn gleichzeitig traurig stimmte. Seine Eltern lebten schon lange nicht mehr und mit Wehmut dachte er daran, wie heimelig und gemütlich sein Elternhaus in der Vorweihnachtszeit geschmückt war. Der Duft von Weihnachtsplätzchen durchzog das Haus und überall glitzerte und funkelte es. Das war lange vorbei. Hans hatte kein Händchen für Dekoration und so blieben die alten Erinnerungsstücke in den Kartons auf dem Speicher.

      „Was ist mit dir? Träumst du?“, riss ihn Tatjana aus seinen Gedanken. „Ich habe dich etwas gefragt.“

      „Entschuldige, ich war gerade ganz woanders. Wie war deine Frage?“

      „Ich möchte wissen, ob es in der Zwischenzeit irgendetwas Neues gibt? Hat jemand geheiratet? Wurden Kinder geboren? Hast du endlich eine Frau gefunden, die es mit dir aushält?“

      „Du warst gerade mal ein halbes Jahr weg. Außerdem haben wir dich abwechselnd besucht und dich auf dem Laufenden gehalten. Wie sieht es bei dir aus?“

      „Ich bin wieder hier, das muss reichen,“ sagte Tatjana und zündete sich eine Zigarette an. Das war bereits die Zweite, seit sie unterwegs waren. Tatjana war dünn geworden, viel zu dünn. Optisch sah sie immer noch gleich aus. Sie trug zu Jeans und dicken, bequemen Schuhen einen der selbstgestrickten Pullover, die sie sonst auch immer trug. Diese wurden von Häftlingen gestrickt, die sich dadurch für die Zeit nach dem Knast ein Zubrot verdienten; dieses Projekt hatte auch Tatjana ins Leben gerufen. Hans ließ sich von dem Äußeren nicht täuschen. Seine Kollegin hatte sich verändert und er hoffte, dass sich das wieder legte, denn er mochte sie genau so, wie sie vor dem tragischen Zwischenfall gewesen war. Ihr Unterton war schnippisch und kam etwas zu scharf rüber. Außerdem wurde sie nervös, wenn man versuchte, ihr in die Augen zu sehen. War er zu kritisch und beobachtete sie zu genau? Vielleicht hatte sie einfach nur schlecht geschlafen.

      Vor dem Haus der Familie Ziegler atmete Hans tief durch. Die bevorstehende Unterhaltung mit den Eltern des Opfers schlug ihm jetzt schon auf den Magen. Tatjana ging es ähnlich. Vorhin war sie von ihrem Vorhaben noch völlig überzeugt, jetzt zweifelte sie. Warum wollte sie unbedingt mit den Eltern sprechen? Den Sohn hatte es zufällig getroffen, das stand für sie außer Frage. Was wollte sie hier? Sie zündete eine weitere Zigarette an.

      „Möchtest du Zeit schinden? Irgendwann müssen wir da rein,“ sagte Hans und stieg aus. „Oder hast du es dir anders überlegt? Sollen wir wieder fahren?“

      „Nein. Jetzt sind wir hier und ziehen die Sache auch durch.“ Tatjana warf die Kippe auf die Straße und klingelte an dem schlichten, gepflegten Einfamilienhaus. Die Lautstärke der Türglocke überraschte beide. Ein Mann Mitte fünfzig öffnete die Tür.

      „Kriminalpolizei Mühldorf. Mein Name ist Struck, das ist mein Kollege Hiebler. Wir sind hier, ….“ Weiter kam Tatjana nicht. Der Mann drehte sich wortlos um und ging ins Haus, wobei er die Haustür offenließ. Tatjana und Hans folgten dem Mann und staunten nicht schlecht, als sie den Staatsanwalt Eberwein im Wohnzimmer vorfanden.

      „Herr Eberwein? Was machen Sie hier?“

      „Ich bin ein Freund der Familie Ziegler. Gut, dass Sie sich um den Fall kümmern. Willkommen zurück, Frau Struck,“ sagte Eberwein und gab ihr sogar die Hand. „Ich darf mich verabschieden. Ich gehe davon aus, dass Sie alles daransetzen, um den Mörder von Patrick so schnell wie möglich zu finden?“

      „Selbstverständlich.“

      Der Termin bei Gericht war schneller vorbei, als gedacht. Eberwein fühlte sich dazu verpflichtet, seinem Freund und dessen Frau persönlich beizustehen. Jetzt, da die Kriminalbeamten hier waren, konnte er beruhigt gehen. Eberwein war zufrieden, die Kriminalpolizei arbeitete wie gewünscht mit vollem Einsatz an dem Fall.

      Das Ehepaar Ziegler beantwortete alle Fragen der Kriminalbeamten. Sie schilderten ihren Sohn in den buntesten Farben, was ihnen augenscheinlich sehr schwerfiel. Besonders Barbara Ziegler war am Boden zerstört und musste sich sehr konzentrieren, alle Fragen richtig zu verstehen. Für Hans stand außer Frage, dass sie unter Medikamenten stand. Paul Ziegler war sehr viel gefasster. Er hing an Hans‘ und Tatjanas Lippen und vervollständigte die Aussagen seiner Frau, wenn sie ihm nicht ausführlich genug schienen. Tatjana und Hans hatten keine Fragen mehr. Sie würden am liebsten so schnell wie möglich verschwinden, aber Frau Ziegler hinderte sie daran.

      „Sie dürfen sich gerne in Patricks Zimmer umsehen. Wir haben nichts verändert. Alles ist noch so, wie es unser Sohn hinterlassen hat. Kommen Sie bitte.“

      Nach den Aussagen der Eltern war es für die Kriminalbeamten nicht notwendig, das Zimmer des Opfers zu durchsuchen, aber Frau Ziegler bestand darauf. Sie folgten der Frau in die erste Etage. Überall hingen Fotos des Opfers in den unterschiedlichsten Altersphasen. Patricks Zimmer war sehr schlicht, aber sauber und ordentlich.

      „Sehen Sie sich alles an. Vielleicht finden Sie etwas, dass für die Ermittlungen wichtig wäre. Sie dürfen gerne den Laptop mitnehmen, wenn Sie mir versprechen, dass ich ihn wiederbekomme. Das war das letzte Geschenk an unseren Sohn zu seinem letzten Geburtstag. Mein Mann kennt sich damit sehr gut aus, er und Patrick haben ihn gemeinsam ausgesucht und stundenlang darüber diskutiert. Ich verstehe davon nichts.“ Sie weinte nicht, sondern starrte nur auf den Laptop. Was ging in diesem Moment in der Frau vor? Tatjana und Hans sahen sich alles an und waren froh, als sie endlich in ihrem Wagen saßen.

      „Das war keine gute Idee gewesen,“ sagte Hans, der völlig fertig war. „Was hat das gebracht? Warum wolltest du mit den Eltern sprechen?“

      „Ja, das hätten wir uns sparen können. Trotzdem war es gut, dass wir hier waren. Wir wissen mehr vom Opfer und haben den Verlust und die Trauer der Eltern gespürt und ihnen das Gefühl gegeben, dass wir den Tod des Sohnes sehr ernst nehmen. Das war wichtig für die beiden. Finden wir das Arschloch, das Ihnen das angetan hat.“

      3.

      Andreas Hegel war wütend, als er mitbekam, dass man sich überall über den nächtlichen Unfall unterhielt. Egal, wo man hinkam, war das das Thema Nummer eins. Es schien, als ginge ein Aufschrei durch die Bevölkerung. Es machte die Runde, dass Pflastersteine geworfen wurden und das Auto deshalb verunglückte. Und es wurde von einem Toten gesprochen. Diese Nachricht schockierte ihn.

      Er selbst hatte in den letzten Wochen mehrere Gegenstände von Brücken geworfen, die jedoch allesamt ihre Ziele verfehlten. Niemand hatte überhaupt Notiz davon genommen, seine Aktionen waren völlig sinnlos gewesen. Erst gestern hatte er beschlossen, weit größere und schwerere Gegenstände zu benutzen, damit man endlich auf ihn aufmerksam wurde. Und jetzt das! Pflastersteine waren starker Tobak! Abgesehen von der Art der Gegenstände lag es auf der Hand: Irgendjemand ahmte ihn nach und war damit auch noch erfolgreich, während seine Aktionen verpufften.

      Andreas fuhr nach Hause und warf wütend seine Jacke in die Ecke des Wohnzimmers, wobei mehrere Flaschen umgeworfen wurden. Dass seine Wohnung und er selbst immer mehr verwahrlosten, merkte er längst nicht mehr. Seit der unsäglichen Gerichtsverhandlung vor drei Monaten hatte sich sein Leben grundlegend verändert. Mit dem Unfall im Juli, den er nicht selbst verursacht hatte, fing alles an. Ein Fahrzeug hatte ihm die Vorfahrt genommen und war mit hoher Geschwindigkeit