Christoph Hammer

Målerås


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„Herbstferien“ genannt. „Das Kind muss ja einen Namen haben!“ Schließlich gab es eine Schulpflicht. Aber so war dem Gesetz genüge getan und alle waren zufrieden. Bis auf die Kinder!

      Denn Ferien, das heißt doch, mit den Freunden durch den Wald streifen zu können und an einem besonders warmen Herbsttag vielleicht noch mal in den Badesee Långegöl zu springen. Aber in dieser Woche Anfang Oktober, in der wir keinen Unterricht hatten, mussten wir stattdessen von morgens bis abends vornüber gebeugt auf dem Kartoffelacker stehen und die dicken Knollen einsammeln. Abends tat uns dann das Kreuz so weh, dass wir nur noch stöhnend ins Bett sinken konnten.

      Irgendwann nach den Herbstferien kam also dieser finnische Junge zu uns. Man sagte, der Waldbesitzer habe seinen Vater in Finnland angeworben, weil er besonders gut darin war, „schwierige“ Bäume zu fällen, die der Wind in eine Position gebracht hatte, in der sie so unter Spannung standen, dass sie drohten, die Holzfäller zu erschlagen. Außerdem sagte man, er habe die Fähigkeit, einem Baum schon vor dem Fällen anzusehen, ob der Kern gut sei. Vor allem einige Laubbäume hatten die schlechte Eigenschaft, von außen ganz gesund auszusehen und von innen doch verrottet zu sein, sagt mein Großvater. Und der muss es wissen, denn er hat sein ganzes Leben lang als Baumrücker im Wald gearbeitet.

      Der Finne kam nicht im Oktober, als noch das Herbstlaub der Ahornbäume am Bahnhof leuchtete und wir auf der Lindenstraße durch die zusammengefegten Laubhaufen tobten, bis der Herr Sägewerksdirektor aus dem Fenster brüllte und uns Einhalt gebot. Nein, es war wohl schon November, als es jeden Tag regnete und die Pferde vor Anstrengung dampften, wenn sie mit ihren schweren Holzfuhrwerken endlich den Kaj, die Verladerampe am Nordbahnhof, erreicht hatten.

      Janni Vaikonen erschien an einem trüben Herbsttag in unserer Schule. In der alten Schule von Målerås wohlgemerkt, in der es nur einen Klassenraum für alle Kinder und eine Lehrerin, Fräulein Berg, gab. Sie hatte dieses Amt von ihrem Vater übernommen. Der alte Berg war ein strenger Schulmeister nach herkömmlicher Art und Weise gewesen. „Bei ihm tanzte der Rohrstock“, pflegten unsere Eltern zu erzählen und fügten dann meist hinzu, „das hat uns nicht geschadet!“

      Fräulein Berg war da von ganz anderer Art. Sie war herzensgut und freundlich zu uns. Sie erhob fast nie die Hand gegen uns. „Das hat uns auch nicht geschadet!“, sagte ich dazu.

      Nur an ein Ereignis dieser Art kann ich mich erinnern. Einmal stand Magnus an der Tafel und machte eine sehr freche Bemerkung, als sie ihn ermahnte. Er murmelte etwas wie, „Reg dich nicht auf, vertrocknete Jungfer!“ Fräulein Berg hatte den Rohrstock ihres Vaters, der seit seiner Pensionierung ungenutzt auf seinem angestammten Platz auf dem Pult lag, schneller ergriffen als wir uns versahen, und rief empört: „Jetzt ist aber Schluss!“

      Dann verabreichte sie Magnus drei kräftige Schläge auf das Hinterteil. Erst danach wurde ihr bewusst, was geschehen war. Sie legte den Rohrstock vorsichtig zurück auf das Pult und hielt erschrocken die linke Hand vor den Mund. Magnus stand reglos an der Tafel und schaute weiter stur auf die seine Hand mit der Kreide. Fräulein Berg ging zu ihm, legte sanft die Hand auf seinen Rücken und flüsterte, „Entschuldige Magnus, ich wollte dich nicht schlagen. Es ist einfach so passiert“ Magnus drehte sich langsam um, grinst über das ganze Gesicht und sagte, „Ach, Fräulein Berg, das hatte ich doch verdient. Und wissen Sie, wenn ich bedenke, was ich zu Hause jeden Tag an Leckerbissen dieser Art bekomme, dann war das doch nur eine winzig kleine Vorspeise!“

      Dann ging er zurück zu seinem Platz, wedelte kurz mit einer Hand, grinste dazu anerkennend zu uns herüber und ließ sich vorsichtig auf sein lädiertes Hinterteil nieder.

      Klassenraum Museum Madesjö, Nybro. Foto: Aufnahme des Verfassers

      Damals hatten wir nur einen großen Klassenraum. Rechts saßen die Kleinen und links vom Mittelgang wir Großen. Morgens, zu Beginn sprach Fräulein Berg ein Gebet mit uns und dann sangen wir gemeinsam ein Lied, das zur Jahreszeit passte. Dieses Ritual ließ sich unsere Lehrerin nicht nehmen, auch wenn wir Großen das Gebet nur gottergeben hinnahmen und bei dem Lied allenfalls brummten. Dann gab sie uns eine Stillarbeit, ein Kapitel zu Lesen im Deutsch-, im Erdkunde-oder auch im Geschichtsbuch. In dieser Zeit übte sie mit den Kleinen das Alphabet oder das Einmaleins. Nach der großen Pause gingen die Kleinen nach Hause und dann machte Fräulein Berg mit uns „lebendigen Unterricht“, wie sie es nannte. Wehe, wenn man dann nicht wenigstens einige der Fragen aus dem Morgenkapitel beantworten konnte. Dann konnte es sein, dass man das ganze Kapitel abschreiben musste. Vater oder Mutter mussten die Strafarbeit anschließend unterschreiben, sonst gab´s am nächsten Tag zwei Kapitel auf. Allein die Mühe, dass die Eltern ihren Namen unter den Zettel kritzeln mussten, reichte in manchen Familien aus, um einem der Delinquenten einen ordentlichen Klaps hinter die Löffel zu geben.

      Ich saß im Klassenraum ganz hinten. Zu dieser Zeit war ich zwar erst 13 Jahre alt, aber groß und mager, wie eine Bohnenstange. Ich sollte hinten sitzen, damit ich den anderen nicht die Sicht auf die Tafel nahm, sagte Fräulein Berg.

      Vor mir saß Janni aus Finnland. Meist hatte er die Bank für sich alleine, denn Nisse aus Alsterfors war oft nicht anwesend. Er war kränklich und wenn das Wetter schlecht war, ließ seine Mutter ihn nicht in die Schule gehen, sondern unterrichtete ihn zu Hause nach einem Plan, den sie alle paar Wochen mit der Lehrerin verabredete.

      Meist hockte Janni also alleine in der Bank vor mir. Er war so anders als die Kinder aus dem Dorf und er sah auch anders aus! Mit seinen dunklen Haaren zwischen all den strohblonden Köpfen, sah er aus wie ein Birkenpilz zwischen Pfifferlingen. Immer hatte er diesen ernsten, fast muffigen Gesichtsausdruck und schaute mit zusammengekniffenen Lippen und halb geschlossenen Augen nach vorn.

      „Setz dich doch mal bitte gerade hin!“ hatte die Lehrerin ihn einmal freundlich ermahnt.

      „Warum?“ hatte er daraufhin gefragt.

      „Damit du besser aufpassen kannst!“

      „Aber ich passe doch auf, oder haben Sie jemals erlebt, dass ich nicht bei der Sache war oder eine Antwort nicht wusste?“

      Das stimmte! Janni sah zwar immer so aus, als döse er gerade ein, aber wenn die Lehrerin etwas fragte, war er sofort hellwach, bei der Sache und gab so gut wie nie eine falsche Antwort.

      „Nein“, gab die Lehrerin daher zu.

      „Warum soll ich mich dann, anstatt auf Ihren Vortrag, darauf konzentrieren gerade wie ein Stock zu sitzen, so dass mir nachmittags das Kreuz weh tut, wenn ich nach Hause gehe?“

      Darauf hatte die Lehrerin nur gelächelt, die Schultern hochgezogen und ihn gewähren lassen.

      Dann war da dieser Pullover, den er ständig trug, ein handgestricktes Ungetüm aus kratziger Schafswolle mit einem eingestrickten blauen Finnenkreuz vorne auf der Brust. Am Hals, an den Ärmeln und am unteren Ende waren mit blauer Wolle Bündchen angestrickt. Jahrelang habe ich ihn tagtäglich in diesem Monstrum gesehen und als er größer wurde, wuchs auch der Pullover. Irgendwann meinten wir, an den Ärmeln und dem unteren Bündchen einen Absatz in der Farbe zu entdecken. Gustav meinte, da habe Jannis Mutter wohl beim Färben ein paar Blaubeeren zu viel erwischt. Aber er hütete sich, das laut zu sagen.

      Ach ja, Gustav. Gustav der Größte, der Schönste, der Wichtigste und der Stärkste in unserer Schule. Gustav war ein schrecklicher Angeber. Aber in ihm steckte ein guter Kern, denn er war freigiebig und hilfsbereit. Meine Banknachbarin, Elsa Bergström, himmelte ihn an. Es stimmte, Gustav war der Größte von uns Kindern in Målerås, die wir uns nach der Schule noch manchmal trafen, wenn es unsere häuslichen Pflichten zuließen.

      Er war damals schließlich schon 14 Jahre alt und damit auch der Älteste. Er sah gut aus, mit seinen halblangen, blonden Haaren und den ebenmäßigen Gesichtszügen. Also war er auch der Schönste. Da hatte Elsa Recht.

      Der Bedeutendste von uns Kindern war er auch, jedenfalls nach seiner Meinung. Denn sein Vater war der Bahnhofsvorsteher. Elsas Vater war auch Bahnhofsvorsteher, aber vom kleineren Südbahnhof. Die Bahn, die dort endete, war lediglich die Schmalspurbahn aus Kosta und Lessebo. Gustavs Vater dagegen leitete den Nordbahnhof, wo die großen Züge hielten, die von Sävsjöström kamen und über Nybro nach Kalmar fuhren.

      Der