herbei. „Hilf mir, Charise. Wir müssen sie rechts und links von Miles legen, wie eine Leiter. Vielleicht kann er sich dann mit den Armen darauf abstützen und sich etwas nach oben ziehen.“ „Aber das Moor ist doch überall, wie sollen denn die Stämme …“ „Ich dachte ja nur, weil Holz schwimmt und so.“ „Könntet ihr jetzt mal aufhören zu debattieren? Mir ist echt saukalt!“ Seine Stimme bebte und allmählich ließen wohl auch seine Kräfte nach. „Hier drin ist es so kalt wie in einem Grab.“ „Miles, hör auf so etwas zu sagen!“ Tränen der Hilflosigkeit liefen mir übers Gesicht. Da. Etwas bewegte sich in den Sümpfen seitlich von Miles, kam auf ihn zu. Entsetzt blickte ich in die Richtung. „Miles, nicht bewegen. Da kommt …“ „Ich kann mich eh nicht mehr bewegen. Oh, verdammt. Was ist das denn?“ Doch Charise schrie schon wie am Spieß. „Ein Krokodil. Es kommt …“ „Halt endlich die Klappe, Charise! Prima. Jetzt hat es uns entdeckt.“ In Windeseile ging ich gedanklich die Möglichkeiten durch, die uns blieben. Wir mussten das Tier irgendwie von Miles ablenken. Ich zog die Blechbüchse aus dem Rucksack und schwenkte sie hin und her. Davon abgelenkt drehte das Reptil seinen flachen Kopf und steuerte langsam auf mich zu. Ich bewegte mich immer weiter von Miles und Charise fort, um sie aus der Gefahrenzone zu bringen. Dabei hoffte ich, nicht selbst im Moor zu versinken. Jetzt konnte ich den schlammbraunen Kopf des Krokodils erkennen, sein Maul mit den messerscharfen Zähnen. Fast sah es aus, als würde es mich anlächeln. „Avery, spiel jetzt nicht die Heldin!“, rief Miles mit angstvoller Stimme und mein Ablenkungsmanöver verfehlte seinen Zweck. Das Krokodil ließ von mir ab und schwamm geradewegs wieder auf Miles zu, der nun in wilder Panik zu strampeln begann. Ich schrie, Charise schrie, doch diesmal war das Reptil nicht zur Umkehr zu bewegen. Dann war es nur noch wenige Meter von Miles entfernt. Ein letzter, kraftvoller Stoß und es schoss aus dem Moor hervor. Das Wasser schien zu brodeln. Arme, Beine und das schnappende Maul des Krokodils gerieten in einen wilden Strudel, bevor sie im Sumpf versanken und nicht mehr auftauchten. Fassungslos starrte ich auf die Stelle, wo Miles verschwunden war. Vor unseren Augen einfach verschwunden. Es war, als wäre ich mit ihm in die Tiefe gezogen worden. Starr vor Entsetzen haftete mein Blick auf die Stelle, konnte sich nicht lösen. Ich fiel auf die Knie, geschüttelt von Weinkrämpfen. Charise nahm mich in die Arme, steif, unbeholfen. Ihr fehlten die Worte ebenso wie mir. Dafür gab es keine Worte. Mein Freund Miles war getötet worden. Ich fühlte mich schuldig, weil ich ihn nicht hatte retten können. Alles brach mit einem Mal über mir zusammen. Ich heulte wie ein Tier. Stundenlang. Ohne Tränen, denn dafür hatte ich keine Flüssigkeit mehr in mir. Es war mir egal, ob die Herren von Kandalar mich hören konnten. Mir war alles egal. Als das Tageslicht zu schwinden begann, war es schließlich Charise die mit leiser, kratziger Stimme sprach. „Wir müssen weiter, Avery.“ Ich nickte matt und kam wieder auf die Beine. War es das, was das Leben für mich vorgesehen hatte? Einfach weiterlaufen bis zum Umfallen? Wer würde als Nächstes sterben? Charise oder ich? Wir machten uns auf. Dumpf vor seelischem Schmerz. Links, rechts, rechts, geradeaus, links. Eine Ewigkeit. Die Angelruten benutzten wir inzwischen als Wanderstab, stachen in den Boden vor uns und um uns, damit wir nicht wieder ins Moor gezogen wurden. Aber wer konnte schon wissen, was sonst noch für Überraschungen auf uns lauerten? Der Boden wurde fester, trittsicherer. Dafür nahm die schwüle Luft zu, trieb uns den Schweiß aus den Poren, quetschte uns aus wie eine Zitrone. Ein leichtes Rauschen, wie von Wind, war in der Ferne zu hören, dabei bewegte sich kein Lüftchen. Charise schien es auch gehört zu haben, doch reichte unsere Spucke nicht einmal mehr zum Sprechen. Ich nickte stumm in die Richtung, aus der das Rauschen kam. Wir gingen weiter bis das Geräusch zu einem Donnern anwuchs. Ein feiner, kühlender Sprühnebel benetzte unsere Haut und plötzlich tat sich vor uns ein steinernes Wasserbecken auf, gespeist von einem tosenden Wasserfall. Etwas derartig Gewaltiges hatte ich noch nie gesehen. Wie aus dem Nichts stürzten die Wassermassen über moosige Felsvorsprünge und bildeten einen dichten Vorhang. Rechts und links oberhalb der Felsen reckten sich üppig grüne Baumkronen in den Himmel. Der Durst trieb uns zum Wasser, doch versperrten uns scharfkantige, moosbewachsene Findlinge den Weg. Wie Betrunkene strauchelten wir weiter, stolperten und fielen, schürften Knie und Hände auf, bis wir endlich einen Zugang zum Fluss fanden. Schließlich ließen wir uns völlig entkräftet am Uferrand nieder, schöpften mit bloßen Händen das rettende Wasser. Ich trank und würgte, würgte und trank, bis der Durst fürs Erste gestillt war. Vorsichtig wusch ich mir anschließend den Schmutz von der Haut, kühlte die sonnenverbrannten Stellen und die Mückenstiche. Am liebsten wäre ich direkt in den Fluss hineingesprungen, um ein Bad zu nehmen. So viel Wasser. Niemand hatte uns in der Schule gelehrt, dass es westlich von Gullorway so etwas Fantastisches gab. Man sprach immer nur von den Sümpfen und dass sie undurchdringlich wären, dass ein seltsam kriegerisches Volk mit Pfeil und Bogen darin lebte. Ein Stück weiter, wo der Boden wieder ebener zu werden begann, stieß ich auf Flusskrebse. Blau schimmernd und sie waren viel größer und fetter, als bei uns am Mukonor. Bevor das Tageslicht völlig erlosch, griff ich nach den zappelnden Krebsen, zerdrückte sie auf einem Stein und aß sie roh. Charise sah mir zu und würgte, doch versuchte sie es kurze Zeit später selbst. Wenn wir nicht verhungern wollten hatten wir keine andere Wahl. Wir bekamen noch ein paar dieser Krebse zu fassen, bis die restlichen das Weite suchten. „Und jetzt? Was essen wir jetzt?“, fragte Charise und hatte wieder diesen anklagenden Unterton in der Stimme. „Ich schätze, für heute war das alles. Das Tageslicht schwindet bereits und wir brauchen ein Lager für die Nacht. Morgen suche ich nach Kräutern und angle was für uns.“ „Und damit kennst du dich aus?“ „Wir werden sehen.“ Kaum das die ersten Sonnenstrahlen am nächsten Morgen erschienen, begab ich mich auf die Suche nach einem passenden Köder für die Angel. Ich fing ein paar von den bläulichen Krebsen und steckte sie in Miles Dose. Während ich Charise mit dem Sammeln von Holz beauftragte, warf ich die Angel aus und hoffte, dass in dem tosenden Strom überhaupt Fische schwammen. Für die atemberaubende Umgebung mit dem wundersamen Wasserfall hatte ich kaum ein Auge. Ich war nur damit beschäftigt Nahrung zu finden, irgendetwas, das wir jetzt gleich essen konnten, damit der bohrende Schmerz in meinem Magen endlich aufhörte. Der Schmerz in meinem Herzen hingegen würde bleiben. Immer wieder stellte ich mir die Frage, warum Gullorway und warum hatte es Miles treffen müssen? Wie hatten uns die Herren von Kandalar gefunden und hatte Charise am Ende Recht mit ihrer Behauptung, dass sie nach uns suchten? „Wie viel Holz soll ich denn noch heranschleppen? Außerdem ist alles nass“, maulte sie. Wortlos nahm ich ihr den Stapel ab, hin und wieder einen Blick auf die Angel werfend. Dann schabte ich mit dem Messer die feuchte Rinde ab, legte sie zum Trocknen auf einen der Steine und schnitzte kleine und größere Späne. In eines der flacheren Hölzer bohrte ich mit dem Messer eine Mulde hinein und fixierte das Holz dann mit dem Fuß auf dem Boden. Schließlich wählte ich einen kleinen, runden Stock, steckte ihn in die geschnitzte Vertiefung und begann ihn zwischen meinen Händen zu zwirbeln. Charise wies ich unterdessen an, kleinere Hölzer und Holzschnitzer aufzuschichten. „Wozu soll das gut sein?“ Sie schüttelte den Kopf, befolgte aber meine Anweisungen. „Vielleicht, um Feuer zu machen?“ Mir stand inzwischen der Schweiß auf der Stirn in dem Bemühen, das Holzstück wenigstens zum Rauchen zu bringen. „Du hättest ihn retten können“, stieß sie unvermittelt hervor, mit einem verkniffenen Ausdruck um die aufgesprungenen Lippen. Sie hockte auf einem Stein, ein Bein baumelte im Wasser. Missmutig folgte sie meinem Tun. Und als ich nicht antwortete setzte sie nach, „Du hättest irgendetwas zeichnen können, um ihn aus dem Moor herauszuholen.“ „Du vertreibst die Fische“, sagte ich mit nur mühsam unterdrücktem Beben in der Stimme, bemüht, ihre Worte nicht an mich herankommen zu lassen. Miles retten? Wie hätte ich etwas zeichnen sollen, ohne Papier und Stift? Heiß gruben sich die Schuldgefühle in meine Seele. „Ach ja? Welche Fische denn?“, konterte sie. Sie nahm den Fuß aus dem Wasser und lief unruhig auf und ab. Sie machte mich wahnsinnig damit, doch sagte ich es ihr nicht. Schließlich war sie die Einzige, die ich jetzt noch hatte. Ich rieb und rieb den Stock zwischen meinen Händen und – tatsächlich stieg ein kleines, dünnes Rauchfähnchen auf. Mit neuem Eifer setzte ich meine Arbeit fort und schließlich brachte ich eine winzige Flamme zustande. „Es funktioniert“, jubelte ich. Stolz hielt ich das glimmende Holz an den aufgeschichteten Stapel und kurz darauf fing dieser Feuer. Eilig brachten wir jede Menge abgestorbener Zweige, trockene diesmal und schichteten sie auf das Feuer. Wir legten Steine darum, um es beisammen zu halten. Wieder kontrollierte ich die Angel. Kein Fisch, dafür war der Köder abgefressen. Also musste es hier Fische geben. Während Charise das Feuer in Gang hielt, suchte ich eine seichtere Stelle