Mathias Bodkin

Giftmischer und andere Detektivgeschichten


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Barbara plötzlich in Süddeutschland, wo sie in Pension war. Das Telegramm ging verloren und man hatte sie schon begraben, als ich ankam. Der Arzt meinte, sie sei einem Herzleiden erlegen. Damals glaubte ich ihm; es lag kein Grund vor, daran zu zweifeln. Aber jetzt bin ich überzeugt, daß sie auch mit Morphium vergiftet worden ist, wie meine arme Letty. Der Verlauf war der ganz gleiche. Noch am Morgen fühlte sich Barbara völlig gesund und frühstückte mit den andern Mädchen. Dann ging sie in ihr Zimmer, um Briefe aus England zu lesen, die sie erhalten hatte. Eine Stunde später fand man sie mit geschlossenen Augen im Lehnstuhl zurückgesunken. Man glaubte zuerst sie schlafe, aber sie war tot.«

      »Und deine Tochter Letty starb auf ähnliche Weise?«

      »Genau so. Ihre Zwillingsschwester Milly war mit Anna Coolin, ihrer Cousine, die bei uns auf Besuch ist, zu einer Gesellschaft von jungen Leuten am andern Ende der Stadt geladen, wo sie über Nacht bleiben wollten. Letty aber hatte die Einladung ausgeschlagen, um mich nicht allein zu lassen. Wir frühstückten miteinander und sie war wie immer lustig und guter Dinge, dann gingen wir zusammen aus. Wo der Pfad zum Seestrand abzweigt, trennten wir uns. Letty erwartete einen Brief von einer früheren Schulgefährtin und schlug den Weg nach der Stadt ein, um dem Briefträger zu begegnen. Ich ging zum Meer hinunter mit der Absicht, ein paar Makrelen zu fangen. An der Biegung der Straße warf mir Letty noch eine Kußhand zu. Ich sollte sie nicht mehr lebendig wiedersehen.

      »Als ich nach einigen Stunden heimkehrte, fand ich das ganze Haus in Schmerz und Unruhe. Die beiden Mädchen waren eben nach Hause gekommen und hatten Letty quer über das Bett hingestreckt gefunden, als sei sie plötzlich umgefallen – sie war tot. Die Leichenschau erkannte auf Morphiumvergiftung. Sie müsse beinahe zehn Gran reines Morphium zu sich genommen haben, erklärte der Doktor; das sei genug, um binnen dreißig Minuten den Tod herbeizuführen.«

      »Hatten deine Töchter vielleicht ein Liebesverhältnis?«

      »Ich habe nie von etwas Derartigem gehört. Sie sind noch sehr jung, kaum der Schule entwachsen. Letty hatte ihr achtzehntes Jahr noch nicht vollendet. Daß sie und Milly Zwillingsschwestern sind, sagte ich dir ja schon. Barbara war genau ebenso alt, als sie vor einem Jahr in Deutschland vergiftet wurde.«

      »Es waren muntere, lebenslustige Mädchen, sagst du?«

      »So vergnügt wie die Vögel in den Zweigen. Den Gedanken an Selbstmord laß nur ganz beiseite.«

      »Wenn Selbstmord und Zufall ausgeschlossen sind, so käme ein Mord in Frage. Was für Leute waren im Hause, als deine Tochter Letty vergiftet wurde?«

      »Nur langjährige treue Diener der Familie. Ebensogut könnte man mich selbst verdächtigen. Es läge ja auch gar kein denkbarer Beweggrund vor und alle hatten sie lieb.«

      Die Art, wie er das Wort »Beweggrund« aussprach, machte Beck stutzig; er blieb plötzlich auf dem einsamen Strand stehen, wandte sich um und sah Woodriff voll ins Gesicht. »Du verbirgst etwas vor mir, John. Ist dir ein Beweggrund für das Verbrechen bekannt?«

      »Ich weiß von keinem!«

      »Aber du hast eine Vermutung Sei offen gegen mich, wenn ich dir helfen soll,«

      »Der Gedanke ist so ungeheuerlich, daß ich ihn kaum zu fassen mag. Überdies ist es ja unmöglich.«

      »Das zu beurteilen, mußt du mir überlassen. Erst wenn man die Unmöglichkeit aus dem Weg geräumt hat, kommt man zu dem, was möglich ist,«

      »Um dir alles zu erklären, muß ich etwas weit ausholen: Wir Woodriffs waren fünf Geschwister, vier Brüder und eine Schwester. Robert, der älteste, wurde Arzt und ließ sich in Liverpool nieder. Sein einziger Sohn, Coleman Woodriff, erwählte denselben Beruf und erbte bei seines Vaters Tod die nicht sehr einträgliche Praxis. Mein zweiter Bruder Peter lebt seit dreißig Jahren in Chicago, wo es ihm gut geht. Er ist unverheiratet und verspricht jedes Jahr, uns zu besuchen. Mit dem, was ich dir erzählen will, hat er nichts zu schaffen. Der dritte Bruder bin ich und Dick war der jüngste. »Dick haßte Robert von Grund seiner Seele, aber er und ich waren die besten Freunde, bis es das Unglück wollte, daß wir beide dasselbe Mädchen liebten. Wir kämpften redlich zusammen, wie Brüder, um ihre Liebe und ich gewann den Preis. Meine arme Alice! Sie war die beste Frau, die je einen Mann beglückt hat, aber sie starb nach der Geburt der Zwillinge. Um ihretwillen waren mir die beiden Kleinen doppelt ans Herz gewachsen. Dick konnte seine Enttäuschung nicht überwinden. Es kam zu keinem Zerwürfnis zwischen uns, dazu war er ein viel zu rechtschaffenes Gemüt; aber er gab sein gutes Maklergeschäft in Liverpool auf und ging nach Australien, wo er vor drei Jahren gestorben ist. Er hatte sich auf die gewagtesten Spekulationen mit Grundstücken und Bauplätzen eingelassen, aber alles gelang ihm. Du kennst ja das Sprichwort: ›Unglück in der Liebe, Glück im Spiel.‹ So wurde er ein reicher Mann.

      »Wir blieben in regem Verkehr bis zuletzt. Alle vier Wochen gab er mir Nachricht, Die Mädchen liebte er sehr; mehr im Andenken an Alice, glaube ich, als um meinetwillen. Alljährlich schickte er ihnen schöne Geschenke und bei seinem Tod hinterließ er ihnen sein gesamtes Vermögen, das sich fast auf eine Viertelmillion Pfund Sterling beläuft.«

      »Allen drei zu gleichen Teilen?«

      »Ja, oder falls eine sterben sollte, den Überlebenden, nachdem sie ihr achtzehntes Jahr erreicht hätten.«

      Beck pfiff leise vor sich hin. »Wie aber, wenn keine achtzehn Jahre alt würde?« fragte er nach einer Pause.

      »Darüber enthält das Testament keine Bestimmungen. Meinem Bruder Dick ist wohl eine solche Möglichkeit nicht in den Sinn gekommen. Aber ich habe einen Rechtsgelehrten darüber befragt und den Bescheid erhalten, daß, falls meine drei Töchter sterben, bevor sie das achtzehnte Jahr erreicht haben, das Testament meines Bruders keinen Wert mehr hat und das ganze Vermögen, das in Häusern und Ländereien besteht, dem Doktor Coleman Woodriff zufällt, der der gesetzliche Erbe des Verstorbenen ist.«

      »Da haben mir ja einen klaren Beweggrund, der auch stark genug sein dürfte,« sagte Beck.

      »Aber der Gedanke ist unsinnig,« versicherte Woodriff mit Bestimmtheit. »Selbst wenn man annehmen wollte, daß der Sohn meines Bruders ein solcher Teufel wäre, was ich für unmöglich halte, so kann er doch nichts damit zu tun haben. Er war in Liverpool, als Barbara vergiftet wurde. Er ist auch jetzt dort, während Letty hier an Gift gestorben ist.«

      »Was für ein Mensch ist denn dieser Coleman Woodriff überhaupt?«

      »Ein ganz braver und kluger Mann, wie ich höre, obgleich er nie auf einen grünen Zweig gekommen ist. Das wenige, was ich von ihm gesehen habe, hat mir nicht mißfallen. Meine verwitwete Schwester – seine Tante – Frau Coolin, die in Liverpool wohnt und ihn kennt, liebt ihn sehr. Ihre einzige Tochter Anna ist bei uns zu Besuch.«

      »Was hält denn Anna von Doktor Coleman?«

      »Sie mag ihn nicht leiden, das steht fest. Aber junge Mädchen sind oft unvernünftig. Anna ist ein schüchternes, stilles kleines Ding, zwei Jahre älter als Milly, doch würde man sie für viel jünger halten; sie ist unerfahren wie ein Kind und kennt die Welt noch wenig. Trotz ihrer Abneigung gegen Doktor Coleman, weiß sie doch nur Gutes von ihm zu berichten, Glaube mir, Paul, du tust am besten, ihn ganz aus dem Spiel zu lassen, wenn du der Sache wirklich auf den Grund kommen willst.«

      Wieder schwiegen sie eine geraume Weile. »Hat denn deine Tochter Letty den Brief erhalten, welchen sie erwartete?« fragte Beck endlich.

      »Ich weiß es nicht. Das Feuer in ihrem Zimmer war ausgegangen, aber in der Asche fand sich etwas verbranntes Papier.«

      »Und nirgends wurde eine Spur von Gift entdeckt?«

      »Nicht die geringste. Nach Aussage der Dienerschaft hat sie bei ihrer Rückkehr nichts gegessen. Ich habe ihre Tür gleich abgeschlossen in der Hoffnung, daß du kommen würdest.«

      Es kostete den unglücklichen Vater offenbar die größte Anstrengung, auf Becks Fragen klaren, ruhigen Bescheid zu geben, während Schmerz und Furcht ihn zu überwältigen drohten. Schweigend und mit völlig ausdruckslosem Gesicht schritt Beck weiter, ohne den flehenden, hilfesuchenden Blick seines Gefährten zu beachten. Endlich ertrug es