Mathias Bodkin

Giftmischer und andere Detektivgeschichten


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zur Antwort.

      »Glaubst du, daß ein Bubenstück verübt worden ist und daß Milly Gefahr droht?«

      »Ich fürchte es.«

      Mit der Selbstbeherrschung des armen Vaters war es aus. »Hilf mir, Paul,« flehte er verzweifelt, »rette mir die geliebte Tochter, mein einziges Kind! Gott erbarme sich meiner! Nicht wahr, du wirst mir beistehen um unsrer alten Freundschaft willen?« Inniges Mitgefühl leuchtete aus Becks Zügen auf, die wie verwandelt erschienen. »Nimm dich zusammen, John,« sagte er, dem Schulkameraden herzlich die Hand drückend. »Du wirst deine ganze Kraft brauchen, bevor die Sache zum Austrag kommt. Wie alt ist deine Tochter Milly jetzt?«

      »In einem Monat wird sie achtzehn Jahre.«

      »Das kürzt unser Geschäft ab. Könnte nicht dein älterer Bruder aus Chicago – Peter heißt er ja wohl? – dir auf der Stelle seinen Besuch machen?«

      Woodriff starrte ihn an, als hätte er plötzlich den Verstand verloren.

      »Ich meine, kann ich deinen ältesten Bruder vorstellen und etwa einen Monat lang bei dir im Hause wohnen, ohne Verdacht zu erregen?«

      »Ganz gewiß. Niemand kennt ihn hier und alle sind davon unterrichtet, daß ich ihn längst erwarte.«

      »Also, das ist abgemacht. Übermorgen wird dein Bruder Peter ganz überraschend aus Chicago eintreffen. Aber merke wohl, außer uns beiden soll niemand um das Geheimnis wissen. Keine Seele darf ein Wort davon erfahren.«

      »Auch Milly und Anna nicht?«

      »Unter keiner Bedingung. Sie müssen mich alle für Peter Woodriff halten. Heute möchte ich aber noch einen Blick in das Zimmer werfen, wo deine Tochter gestorben ist, ehe ich nach der Stadt zurückkehre.«

      »Wenn du als Peter kommen willst, solltest du dich lieber vorher gar nicht hier zeigen,« warf Woodriff klüglich ein.

      »Weiß irgend jemand, daß du den Geheimpolizisten Beck hierher berufen hast?« »Nur meine Tochter Milly.«

      »So wird es doch gut sein, wenn ich erscheine; es schadet auch gar nichts, daß ich sowohl mit Paul Becks, als mit Peter Woodriffs Augen Umschau halte. Ich glaube schwerlich, daß eine der jungen Damen oder sonst jemand mich bei meinem nächsten Besuch erkennen wird. Wie sieht denn übrigens dein Bruder Peter aus?«

      »Man sagt, daß er mir gleiche; nur ist er größer.«

      Im Hause zeigte sich Milly Woodriff sehr schüchtern und ängstlich in Gegenwart des Detektivs aus London. Die sonst so stille Anna Coolin sorgte dagegen freundlich für ihn, leistete ihm bei der Mahlzeit Gesellschaft und führte ihn nach dem Zimmer, wo noch die Leiche ihrer Cousine lag.

      »Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie behilflich sein, Herr Beck?« fragte sie und schaute ihn mit ihren unschuldsvollen blauen Augen wehmütig an. »Ich habe die arme Letty sehr liebgehabt.«

      »Davon bin ich überzeugt, mein Kind,« versetzte er in sanftem Ton. »Aber ich tue meine Arbeit am liebsten allein.«

      Beck verschloß die Tür von innen und machte sich sogleich ans Werk. Nichts entging seinen raschen Blicken, seinen flinken Händen. Zuletzt fegte er noch den Staub vom Fußboden in einen Winkel und untersuchte ihn genau; dann ließ er die Asche im Kamin durch seine Finger laufen. Er fand darin ein blaues Glaskügelchen, das an einem Ende zu einer langen Nadel geschmolzen war, und ein halbverbranntes Stückchen von einer weißen Pappschachtel. Im Kehricht entdeckte er einen kleinen gewundenen Goldring von geringem Wert, ein schmales Endchen weißes ausgezacktes Band, ein Gewirr von hellfarbigen Seidenfäden nebst vielen Stecknadeln und Haarnadeln, Diese Schätze zeigte er John Woodriff in der hohlen Hand, bevor er Abschied nahm.

      »Es sollte mich wundern, wenn ich nicht hier ein paar Buchstaben des Rätselworts hätte; nur muß es mir gelingen, sie aus dem Plunder herauszulesen,« sagte er.

      Zwei Tage später ließ sich ein großer, starkknochiger Mann, der, nach Anzug, Gestalt und Sprache zu urteilen, nur ein Jankee sein konnte, bei Herrn John Woodriff melden. Im ersten Augenblick war Woodriff ganz verblüfft. Als der Fremde ihn jedoch in seiner näselnden Sprache also anredete: »Wahrhaftig, John, du kennst deinen eigenen Bruder Peter nicht mehr. Und ich bin doch um die halbe Erde 'rum gefahren, weil ich dich mal wieder zu Gesicht bekommen wollte,« da faßte er ihn bei der Hand und hieß Beck mit großer Herzlichkeit willkommen.

      Dieser hatte sich für seine Rolle wunderbar herausstaffiert. Peter Woodriff aus Chicago war ein hochgewachsener Mann, fast drei Zoll größer als Herr Beck, dem er nicht im geringsten glich. Um die Augen und den Mund hatte er eine starke Familienähnlichkeit mit John Woodriff, die jedermann sogleich auffiel; man erkannte beim ersten Blick, daß sie Brüder waren. Als die beiden Mädchen gerufen wurden, um den Onkel Peter zu begrüßen, kamen sie schnell mit ihm auf vertrauten Fuß. Er war so klug und dabei so lieb und gut. Als er von ihrem Kummer hörte, zeigte er sich tief betrübt und bahnte sich damit den Weg zu aller Herzen.

      Von Tag zu Tag wuchs ihre Liebe zu dem Onkel, der gegen beide Nichten die Güte selber war, doch schien Anna Coolin sein Liebling zu sein. Aus der früher so lustigen, lebensfrohen Milly Woodriff lastete der Verlust ihrer Zwillingsschwester noch zentnerschwer. Wenn sie auch von Zeit zu Zeit auf Augenblicke ihren Gram vergaß und ihre feurigen dunkeln Augen wieder wie früher aufleuchteten, wenn sie einen der komischen Späße des Onkels mit heiterem Scherzwort erwiderte oder ein lustiges Liedchen zu trällern begann, so verstummte doch der fröhliche Laut gleich wieder, und der Glanz verschwand aus ihren Augen, weil die Erinnerung an ihren nie endenden Kummer von neuem erwachte. Anna war eine viel ruhigere Natur. Selbst der Schmerz konnte sie nicht aus ihrem stillen Gleichmut bringen. Sie bildeten einen merkwürdigen Gegensatz, der große, derbe, weltkluge Mann und das harmlose, kleine, unschuldige Mädchen, aber jedenfalls fühlten sie sich sehr zu einander hingezogen.

      Peter Woodriff sah sich von Anfang an in den engsten Familienkreis aufgenommen. Er spielte seine Rolle so ganz natürlich, daß John Woodriff, dem jede Verstellung fremd war, sich häufig darauf ertappte, daß er unwillkürlich mit ihm sprach und sogar an ihn dachte, als ob er wirklich sein Bruder wäre. Während Peter Woodriff seine Nichte Anna mit Freundlichkeit überhäufte, bewies sie ihm ihre Zärtlichkeit durch allerlei kleine vertrauliche Mitteilungen über ihr Leben daheim in Liverpool, die ihn höchlich zu interessieren schienen. Daß sie ihren Vetter Coleman nicht leiden könne, gestand sie ganz offen; nach einer Weile stellte sich auch heraus, daß der Doktor der schüchternen Kleinen den Hof gemacht und sie durch seine Bewerbungen erschreckt hatte. Ein andermal machte sie sich Vorwürfe, ob sie auch ihrem armen Vetter in der Gunst des reichen Onkels nicht geschadet habe, klagte, daß sie so vorurteilsvoll sei, lobte die Herzensgüte und Tüchtigkeit des jungen Doktors und erzählte zum Beweis allerlei Geschichten von seiner Behandlung armer Patienten.

      So vergingen der trauernden Familie mehrere Wochen auf möglichst angenehme Weise. Die heilende Zeit hatte die erste heiße Qual ihres Kummers gestillt und selbst die Furcht, die in John Woodriffs Herzen lauerte, halb eingeschläfert. Onkel Peter schien übrigens mehr Gefallen an der Gesellschaft seiner Nichten, als an der seines Bruders John zu finden, der ihn ruhig gewähren ließ. Häufig gingen die Mädchen dem Briefträger entgegen, wenn er die Postsachen aus der Stadt brachte, und der Onkel versäumte es nie, sie auf diesen Gängen zu begleiten. Nach dem zweiten Drittel des Wegs gelangte man zu einer Säule mit einem roten Briefkasten. An diese gelehnt, pflegte der Onkel seine Zigarre zu rauchen, während die Mädchen sich vom Postboten ihre Briefe einhändigen ließen.

      An einem Oktobermorgen – es war ein denkwürdiger Tag für alle Beteiligten – fiel die Ernte an Briefen besonders reichlich aus; auf Millys Teil kam überdies noch als schönster Preis eine keilförmige Schachtel mit Hochzeitskuchen, die zierlich in weißes Papier gewickelt und mit einem hellblauen Siegel verschlossen war. Beglückt eilten die Mädchen mit ihren Schätzen nach Hause zurück, setzten sich im Wohnzimmer ums offene Feuer, erzählten einander, was in den Briefen stand, und lasen sich einzelne Stellen vor, während Onkel Peter, in die Zeitung vertieft, mit der Zigarre im Schaukelstuhl saß.

      Den Hochzeitskuchen hatte Milly als Bestes bis zuletzt aufbewahrt. Die Pappschachtel war nach hergebrachter Weise mit einem schmalen,