Wolfe Eldritch

Die Rückkehr des Wanderers


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eine Art und Weise, die normalen Menschen abging. Dabei ließ sie Liebe und Ruhe in das Tier strömen und linderte dessen Schmerz und Angst, so gut sie konnte.

      »Es ist gut, meine Kleine«, sagte die alte Frau mit einer Stimme, die jetzt dunkel und ruhig war, frei von Schluchzen und Zittern. Nichts an dieser Stimme erinnerte mehr an die brüchige Altweiberstimme. Dedra konnte sich nicht mehr daran erinnern jung gewesen zu sein, aber diese Stimme hatte etwas Vitales, fast Sinnliches.

      »Alles ist gut, ich werde mich um mein Katzenkind kümmern, wie ich es immer getan habe. Wie wir es füreinander getan haben, als wir es beide noch konnten. Als du noch für mich da sein konntest, mein Schatz.«

      Sie legte Grumpel ihre von der Arthritis zur Klaue gekrümmte Rechte auf die bebende Flanke, so sanft sie es vermochte. Das Zittern des Tieres hörte fast augenblicklich auf, der Atem wurde ruhig und gleichmäßig. Die alte Hand strich über das stumpfe, besudelte Fell und die Todesqual floss von dem Tier wie Wasser von einer glatten Oberfläche. Sie ergoss sich in die Haut und das Fleisch der alten Frau, floss in ihr Blut und in ihren Arm.

      Der Schmerz war wie flüssiges Feuer und wogte in Wellen durch sie hindurch, aber der Blick des Tieres wurde weich und ruhig. Sie nahm den Kopf der sterbenden alten Katze vorsichtig in die linke Hand und kraulte mit der rechten zärtlich ihr Fell. Ein leises Schnurren erklang und für ein letztes Mal trafen sich die Blicke von Dedra und Grumpel. Dann brach die alte Frau das Genick der Katze mit einer Bewegung, die in Präzision und Schnelligkeit das Alter ihrer Hände und Arme Lügen strafte. Die Pfoten des Tieres zuckten eine Sekunde, dann lag der verhärmte Körper still und friedlich. Als Dedra sich zitternd erhob, rannen Tränen ungehemmt ihre alten, zerfurchten Wangen hinab. Ihr Blick ruhte auf dem nun erkaltenden, zerschundenen Leib ihrer einzigen Gefährtin.

      Sie spürte Nässe an ihrer rechten Hand, hob sie an und sah das Blut. Sie nahm die Katze auf die Arme und legte sie auf ihren alten Schaukelstuhl. Vorsichtig und sanft, so als wäre das Tier noch am Leben, untersuchte sie den toten Körper. Noch immer liefen ihr Tränen über das Gesicht, doch sie bemerkte sie nicht, konzentrierte sich ganz auf das, was sie tat. Auf der rechten Seite des mageren, knochigen Körpers war eine kleine aber tiefe Wunde zu sehen. Dedra spreizte sie etwas und sah dann einen kleinen Bolzen. Er war bis tief in die Gedärme des Tieres eingedrungen. Es war der Bolzen einer Handarmbrust. Dedra kannte sich mit Waffen nicht sonderlich gut aus, aber das hier erkannte sie, weil sie diese Bolzen in den letzten Jahren schon einige Male gesehen hatte. Der alte Brent, der in seinen jungen Tagen eine Weile als Söldner durch die südlichen Lande gestreift war, besaß eine solche Waffe. Er ging damit ab und an auf Entenjagd. Außerdem war er ein Dreckstück, im Dorf bekannt für seine Grausamkeit.

      Ja, und Grumpel war es in der letzten Zeit besser gegangen, sie war wieder herumgestreunt. Früher hatte Dedra die Katze oft mit ins Dorf genommen. Vielleicht hatte das alte Tier noch einmal dorthin zurückkehren wollen. Vielleicht war es auch nur in der Nähe herumgelaufen. Das der alte Brent Hunde und Katzen hasste, war kein Geheimnis. Erst vorletztes Jahr hatte es Streit gegeben, weil er den kleinen Hund eines Nachbarn getötet hatte. Mit eben jener alten Einhandarmbrust, weil das Tier ihn angeblich angegriffen hatte.

      »Was hat denn die alte Katze?«, ertönte von der Tür her eine dünne Stimme.

      Dedra drehte langsam den Kopf und sah dem Mädchen direkt in die Augen. Clara stieß einen hohen, dünnen Schrei aus, drehte sich wieder ins Innere des Hauses um und war verschwunden.

      Dedras Blick fiel wieder auf ihre tote Freundin. Die alte Katze hatte keine Angst vor Menschen gehabt. Vor allem, weil ihr die Dorfbewohner oft Leckereien zugesteckt hatten. Man war eben nett zu der Katze der alten Kräuterfrau, die allen so bereitwillig und freundlich half. Zutraulich war Grumpel gegenüber den Leuten von Flusswalde geworden.

      Wenn Brent sie gerufen hatte, oder gar mit etwas Essbarem gelockt, war sie sicher arglos zu ihm gegangen. Und dann hatte dieses alte Schwein nichts Besseres zu tun gehabt, als ihr einen Armbrustbolzen in die Seite zu schießen. Danach musste Grumpel sich den ganzen Weg, stundenlang hierher zurückgeschleppt haben. Ein normales Tier wäre unterwegs verreckt, aber Grumpel war eben kein normales Tier gewesen. Dedras Freundin hatte durch ihre Hexenkunst nicht nur dreimal so lange gelebt wie eine normale Katze, sie war auch zäher und kräftiger gewesen. So hatte sie es geschafft, zum Sterben nach Hause zu kommen. Dedra noch ein letztes Mal zu sehen. Und ihr die Identität ihres Mörders mitzuteilen, oh ja.

      »Es tut uns leid wegen der Katze. Dürfen wir jetzt bitte nach Hause«, erklang die zaghafte Stimme von Thomas hinter ihrem Rücken.

      »Ihr«, fauchte Dedra, indem sie zu ihnen herumfuhr. »Ihr widerlicher, undankbarer Abschaum aus diesem dreckigen, dreimal verfluchten Dorf.«

      Die Worte selbst drangen gar nicht zu Thomas durch. Er sah nur das Gesicht der Alten und den Ausdruck in ihren Augen. Der Junge ergriff die Hand seiner Schwester und zog sie hinter sich durch den Mittelgang der Hütte entlang. Sie rannten zur vorderen Tür, er stieß sie auf und wenige Augenblicke später liefen sie den Waldweg entlang. Wie von Dämonen gejagt rannten sie in Richtung der Straße, die zum Dorf führte. Hinter ihnen befand sich freilich nichts als die kühle, feuchte Luft dieses grauen Morgens.

      Die alte Frau, die bis zum heutigen Tage über ein halbes Jahrhundert lang die Kräuterfrau von Flusswalde gewesen war, stand nach wie vor auf ihrer Veranda. Die Trauer und das Gefühl kalter Leere in ihrem Inneren verblassten und machten dem Zorn platz. Aber in ihr brodelte mehr als nur die Wut auf einen alten, bösartigen Mann, der ihr das Einzige genommen hatte, das ihr lieb und teuer gewesen war. Ein Teil von ihr wusste sehr gut, dass nicht das ganze Dorf dafür verantwortlich war, was dieser eine Mann getan hatte. Und doch breitete sich der Zorn auf den Ort und jeden seiner Bewohner aus wie ein dunkles Feuer in ihrem Herzen.

      Der vernünftige Teil wusste, das Dedra den Menschen hier nicht nur geholfen, sondern auch jeden in Unglück gestürzt hatte, der ihr in die Quere gekommen war. Diese Stimme der Vernunft wusste ebenfalls, wer und was sie war. Aber diese Stimme verstummte nicht einfach nur, sie lag ebenso im Sterben, wie die arme Grumpel es noch vor wenigen Momenten getan hatte.

      Ein uralter, schwarzer Hass brach sich aus ihrem tiefsten Inneren Bahn, fraß sich durch ihre Eingeweide und verdrängte alles andere. Die alte Frau gab einen Ton von sich, der dem Fauchen einer großen Katze nicht unähnlich war, und ballte die Hände zu Fäusten. Diese Bewegung hatte sie mit ihren arthritischen Gelenken seit über zwanzig Jahren nicht mehr bewerkstelligen können. Ihre langen, schmutzigen Fingernägel brachen in ihren Fäusten und die schartigen Kanten schnitten ihr in die Handflächen. Dünne Fäden dunklen Blutes rannen aus ihren Fäusten, als sie diese langsam hob. In ihrer Rechten mischte sich ihr Blut mit dem ihrer toten Katze.

      Bilder flammten vor ihrem inneren Auge auf und flogen daran vorbei. Wie sie die kleine, zerschundene Katze halbtot im Wald gefunden hatte. Ein zerkratzter, zitternder, winziger Körper. Flauschiges, dunkles Haar und rehbraune Augen, kleine Hände, die nach ihr griffen. Aber mussten es nicht Pfoten sein, statt Hände? Hungrige Schreie nach Futter. Oder nach Milch? Ein Ausdruck tiefster Verwirrung und Erstaunens legte sich auf das Gesicht der alten Frau, der sie für einen Moment wie eine völlig Schwachsinnige aussehen ließ.

      Dann brach ein Schrei aus ihrer Kehle, so voll von Verzweiflung, dass er fast ein Schluchzen war. Erinnerungen an schreiende und sterbende kleine Kinder und Katzen verschwammen, als sie kreischend gegen den alten Schaukelstuhl trat. Die tote Grumpel, die noch darauf gelegen hatte, rutschte herunter und blieb auf den kalten Planken der Veranda liegen. Dedra, die ebenso wenig gespürt hatte, wie sich ihr Knöchel bei dem Tritt stauchte, wie sie den brechenden kleinen Zeh bemerkt hatte, schaute auf den Kadaver hinab. Sie packte den Körper mit einer blutenden Hand und warf ihn achtlos durch die offene Tür in die Hütte. »Kein Kind, du bist nicht meines«, fauchte sie leise.

      »Nicht mein Kind, du nicht, niemand. Ich bin keine Mutter, ich hatte keine Mutter, nie.« Ihr Gesicht war zu einer Fratze aus urtümlichem Zorn und Hass verzogen, die Augen weit aufgerissen und glasig. Vor ihrem inneren Auge erschienen die Gesichter der Menschen, die sie seit ihrer Ankunft in Flusswalde getroffen hatte. Sie sah Hunderte von Männern, Frauen und Kindern, ein Kommen und Gehen, ein Geborenwerden und Sterben über fünf Jahrzehnte hinweg. Ein Bilderwirbel in die Vergangenheit vor fünfzig Jahren,