hatte einen Verwandten, der . . . «
Aber der Oberst ließ sich das Wort nicht nehmen, und fuhr fort, seine Geschichte von der Wirkung des Opiums auf die Frau seines Schwagers zu erzählen.
»Aber es ist schon über vier Uhr«, sagte endlich einer der Geschworenen.
»Also wie ist’s, meine Herren?« wandte sich der Obmann an die Geschworenen. »Wollen wir sie für schuldig erklären, aber ohne den Vorsatz, zu berauben, und fremdes Eigentum hat sie nicht entwendet?«
»Ist’s recht?«
Pjotr Gerassimowitsch, der mit seinem Siege zufrieden war, willigte ein.
»Aber sie verdient mildernde Umstände«, fügte der Kaufmann hinzu.
Alle waren einverstanden, nur der Genossenschaftler nicht, sondern er bestand darauf, daß man antworten müsse: »nein, unschuldig.«
»Das kommt ja darauf heraus«, erklärte der Obmann. »Auf diese Weise ist sie ja unschuldig.«
»Also drauf los: und verdient mildernde Um stände. Was also geblieben ist, auch das wird damit getilgt . . . « sagte lustig der Kaufmann.
Alle waren so müde geworden und hatten sich so in den Debatten verwickelt, daß es niemand in den Sinn kam, der Antwort beizufügen: ja, aber ohne den Vorsatz, des Lebens zu berauben.
Nechljudow war so aufgeregt, daß auch er es nicht bemerkte.
In dieser Fassung wurden die Antworten auf gezeichnet und in den Gerichtssaal getragen.
Rabelais schreibt, daß ein Jurist, den man um seinen Urteilsspruch anging, nach einem Hinweis auf alle möglichen Gesetze und nach Verlesung von zwanzig Seiten sinnlosen juristischen Lateins den Streitenden vorgeschlagen habe, einfach zu würfeln: Paar oder Unpaar. Wenn Paar — so habe der Kläger recht, wenn Unpaar — der Beklagte.
So war es auch hier. Dieses und nicht ein anderes Urteil wurde gefällt, nicht weil alle damit einverstanden waren, sondern erstens darum, weil der Präsident, der so viel Zeit zu seinem Resümee gebraucht, es diesmal unterlassen hatte, etwas, was er sonst immer zu erwähnen pflegte, zu sagen; nämlich, daß die Geschworenen die Frage auch so beantworten könnten: »Ja, schuldig, aber ohne Vorsatz, des Lebens zu berauben.« Der zweite Grund war der, daß der Oberst sehr ausführlich und langweilig die Geschichte von der Frau seines Schwagers erzählte. Der dritte der, daß Nechljudow so aufgeregt war, daß er die Weglassung der Klausel: »aber ohne Vorsatz, des Lebens zu berauben«, nicht merkte, sondern glaubte, daß schon die Klausel: »ohne vorgefaßte Absicht, zu berauben«, die Anklage vernichte. Der vierte Grund endlich für die Annahme dieses Urteils war der, daß Pjotr Gerassimowitsch im Zimmer nicht anwesend war; er war gerade hinausgegangen, als der Obmann die Fragen und Antworten noch ein mal durchnahm. Der hauptsächlichste Grund aber war der, daß alle ermüdet waren und möglichst bald frei werden wollten. Daher stimmten sie alle der Entscheidung zu, durch welche die ganze Sache am schnellsten erledigt wurde.
Die Geschworenen klingelten. Der Gendarm, der mit gezogenem Säbel an der Thür stand, steckte die Waffe in die Scheide und trat zur Seite. Die Richter setzten sich auf ihre Plätze, und einer nach dem anderen traten die Geschworenen ein.
Der Obmann trug mit feierlichem Ausdruck den Fragebogen. Er trat an den Präsidenten heran und überreichte ihm denselben. Der Präsident warf auf den Bogen einen Blick und machte mit der Hand ein demonstratives Zeichen des Staunens. Er wandte sich an seine Kollegen und begann sich mit ihnen zu besprechen.
Den Präsidenten wunderte es, daß die Geschworenen, während sie die eine Klausel: »ohne Vorsatz, zu berauben« eingefügt hatten, die zweite Klausel: »ohne Vorsatz, des Lebens zu berauben«, außer Acht gelassen hatten. Es ergab sich also nach Ansicht der Geschworenen, daß die Maslowa Weder gestohlen, noch geraubt, zugleich aber ohne jeden ersichtlichen Zweck einen Menschen vergiftet hatte.
»Sehen Sie mal, was für einen Blödsinn die gebracht haben!« sagte er zu dem Mitgliede links. »Das bedeutet ja Zwangsarbeit, während sie doch unschuldig ist . . . «
»Nun, wo denn unschuldig«, meinte das strenge Mitglied.
»Ganz einfach unschuldig. Meiner Ansicht nach giebt das eine Veranlassung zur Anwendung des § 817.«
Der § 817 lautet dahin, daß das Gericht, wenn es die Verurteilung für ungerecht erachtet, das Urteil der Geschworenen aufheben kann.
»Wie meinen Sie?« wandte sich der Präsident an das gutmütige Mitglied.
Das gutmütige Mitglied antwortete nicht gleich, er sah auf die Nummer des vor ihm liegenden Papiers und addierte die Zahlen, — es ging nicht durch drei. Er hatte die Absicht, seine Zustimmung dann zu geben, wenn die Summe durch drei teilbar wäre. Aber obgleich drei in der Zahl nicht aufging, so stimmte er dennoch aus Gutmütigkeit zu.
»Ich denke auch, daß man es thun müßte«, sagte er.
»Und Sie?« wandte sich der Präsident an das mißmutige Mitglied.
»Auf keinen Fall!« antwortete dieser entschieden. »Die Zeitungen schreiben schon so wie so, daß die Geschworenen Verbrecher freisprechen, was werden sie erst sagen, wenn der Gerichtshof dasselbe thut. Ich bin in keinem Falle einverstanden.«
Der Präsident sah nach der Uhr.
»Schade, aber was ist da zu machen . . . « Und er übergab die Fragen dem Obmann zur Verlesung.
Alle erhoben sich, der Obmann räusperte sich, verlegen von einem Fuß auf den anderen tretend, und las die Fragen und Antworten vor. Alle Beamten des Gerichts, der Sekretär, die Advokaten und sogar der Staatsanwalt äußerten Zeichen des Erstaunens.
Die Angeklagten saßen teilnahmlos da, ohne, wie es schien, die Bedeutung der Antworten zu verstehen.
Wieder setzten sich alle und der Präsident fragte den Staatsanwalt, mit welchen Strafen nach seiner Ansicht die Angeklagten zu belegen seien.
Der Staatsanwaltsadjunkt war über seinen unerwarteten Erfolg bezüglich der Maslowa sehr er freut und schrieb denselben seiner Beredsamkeit zu. Er schlug irgendwo etwas nach, erhob sich ein wenig und sagte:
»Simon Kartinkin wäre auf Grund des Artikels 1452 und § 4 des Artikels 1453, Jewfimia Botschkowa auf Grund des Artikels 1659 und Jekaterina Maslowa auf Grund des Artikels 1454 abzuurteilen . . . «
Alle diese Strafen waren die strengsten, die nur angewandt werden konnten.
»Das Gericht entfernt sich, um die Entscheidung zu treffen«, sagte der Präsident, sich erhebend.
Alle erhoben sich nach ihm, und mit dem erleichternden und angenehmen Bewußtsein einer vollbrachten That fingen sie an, hinauszugehen oder sich im Saal hin und her zu bewegen.
»Aber mein Bester, wir haben doch etwas Schändliches zusammengepfuscht«, sagte Pjotr Gerassimowitsch, an Nechljudow herantretend, dem der Obmann etwas erzählte. »Wir haben sie doch zur Zwangsarbeit verdonnert.«
»Was sagen Sie?« rief Nechljudow aus, ohne diesmal die unangenehme Familiarität des Lehrers zu bemerken.
»Ja natürlich«, meinte der Lehrer. »Wir haben ja in der Antwort nicht gesagt: »schuldig, aber ohne den Vorsatz, des Lebens zu berauben.« Der Sekretär erzählte mir eben, daß der Staatsanwalt fünfzehn Jahre Zwangsarbeit beantragt.«
»Wir haben es doch so beschlssfen«, sagte der Obmann.
Pjotr Gerassimowitsch fing an zu streiten. Er meinte, daß es selbstverständlich gewesen wäre, daß, wenn sie das Geld nicht entwendet, sie auch nicht die Absicht gehabt hätte, den Kaufmann zu vergiften.
»Ich hatte doch die Antworten vor Schluß der Beratung verlesen und niemand protestierte«, entschuldigte sich der Obmann.
»Ich war damals gerade aus dem Zimmer hinausgegangen«, sagte Pjotr Gerassimowitsch. »Wie haben Sie es denn verpaßt?«
»Ich hätte das nie geglaubt«, sagte Nechljudow.