zusammen bei der Mutter eingetreten, blieb aber nicht im Zimmer.
»Wenn maman müde wird und Sie wegjagt, so kommen Sie zu mir«, sagte sie zu Nechljudow gewandt in einem solchen Tone, als wäre zwischen ihnen beiden nichts vorgefallen. Und mit einem heiteren Lächeln schritt sie lautlos über den dicken Teppich und verließ das Zimmer.
»Nun, guten Tag, mein Freund, setzen Sie sich und erzählen Sie mir . . . « sagte die Fürstin Sofja Wassiljewna mit ihrem kunstvollen, verstellten, aber dem natürlichen vollständig ähnlichen Lächeln, welches ihre schönen langen Zähne entblößte, die so geschickt gemacht waren, als wären sie echt. »Ich höre, daß Sie aus dem Gericht in einer sehr trüben Gemütsverfassung zurückgekommen seien. Ich glaube, daß es für Leute von Herz sehr schwer sein muß . . . « sagte sie französisch.
»Ja, das ist wahr«, erwiderte Nechljudow. »Man fühlt sehr oft seine Un . . . Man fühlt, daß man kein Recht hat, andere zu richten . . . «
»Comme c’est vrai!« rief sie aus, als sei sie von der Wahrheit seiner Bemerkung frappiert. Wie immer, suchte sie auch jetzt ihrem Gegenüber zu schmeicheln.
»Nun, und wie steht es denn mit Ihrem Gemälde? Ich interessiere mich dafür sehr«, fügte sie hinzu, »wäre ich nicht so leidend, so wäre ich schon längst bei Ihnen gewesen . . . «
»Ich habe es ganz aufgegeben«, antwortete trocken Nechljudow, dem heute die Unwahrheit ihrer Schmeichelei ebenso offenbar war, wie ihr verheimlichtes Alter. Er konnte durchaus nicht die rechte Stimmung finden, um liebenswürdig zu sein.
»Sehr unrecht von Ihnen. — Wissen Sie, unser berühmter Repin hat mir gesagt, daß er entschieden Talent habe«, wandte sie sich zu Kolossow.
»Daß sie sich nicht schämt, so zu lügen!« dachte Nechljudow stirnrunzelnd.
Nachdem die Fürstin sich überzeugt hatte, daß Nechljudow heute nicht bei Laune sei, und es unmöglich sein würde, ihn in ein angenehmes und interessantes Gespräch hineinzuziehen, wandte sie sich an Kolossow mit der Frage nach seiner Meinung über ein neues Drama. Sie that dieses in einem Ton, als ob die von Kolossow zu erwartende Meinungsäußerung jegliche Zweifel beseitigen, und als ob jedes Wort dieser Äußerung verewigt werden müßte.
Kolossow verurteilte das Drama und sprach bei dieser Gelegenheit seine Ansichten über die Kunst aus. Die Fürstin zeigte sich von der Richtigkeit seines Urteils bewältigt, versuchte zwar den Autor des Dramas zu verteidigen, aber ergab sich sofort wieder, oder fand wenigstens eine vermittelnde Ansicht. Nechljudow sah und hörte zu, aber sah und hörte etwas ganz anderes, als was vorging.
Indem er bald der Fürstin, bald Kolossow zu hörte, sah er erstens, daß sowohl die Fürstin, als auch Kolossow sich eigentlich weder für das Drama, noch für einander interessierten. Wenn sie sprachen, so thaten sie es nur dem physiologischen Bedürfnis zuliebe, nach dem Essen die Zungen- und Kehlmuskeln zu bewegen. Zweitens sah Nechljudow, daß Kolossow, der Schnaps, Wein und Likör getrunken hatte, bereits etwas betrunken war, nicht so betrunken, wie es die selten trinkenden Bauern zu sein pflegen, sondern so, wie es Leute sind, denen der Alkoholgenuß zum gewohnten Bedürfnis geworden ist. Kolossow schwankte nicht, sprach kein dummes Zeug, sondern befand sich nur in einem anormalen, auf geregt-selbstzufriedenem Zustande. Drittens sah Nechljudow, daß die Fürstin während des Gesprächs immerfort beunruhigt zum Fenster hinüberblickte, durch welches sich ein schräger Sonnenstrahl zu ihr hinüberzustehlen begann. Sie fürchtete, daß die Sonne ihr Alter zu grell beleuchten würde.
»Wie wichtig das ist«, sagte sie auf irgend eine Bemerkung Kolossows hin und drückte dabei auf den gleich neben der Couchette angebrachten Knopf der Klingel.
Der Doktor erhob sich und ging, als eine im Hause gut bekannte Persönlichkeit, ohne ein Wort zu sagen, zum Zimmer hinaus. Die Fürstin begleitete ihn mit den Augen und führte das Gespräch weiter.
»Bitte Philipp, ziehen Sie die Gardine zu«, sagte sie, als auf ihr Klingeln der schöne Lakai eintrat, und wies mit den Augen auf die Gardine am Fenster.
»Nein, sagen Sie, was Sie wollen, es ist etwas Mystisches darin, und ohne Mystizismus giebt es keine Poesie«, sprach sie, indem sie mit dem einen ihrer schwarzen Augen geärgert die Manipulationen des Lakais, der die Gardine zuzog, verfolgte.
»Mystizismus ohne Poesie ist Aberglaube, und Poesie ohne Mystizismus Prosa . . . « sagte sie mit einem trüben Lächeln, ohne den Blick von dem mit der Gardine beschäftigten Lakai zu wenden.
»Philipp, nicht diese Gardine . . . Am großen Fenster . . . sagte die Fürstin endlich mit dem Ausdrucke einer Märtyrerin. Sie schien sich offen bar selbst zu bemitleiden wegen der Anstrengung, die sie machen mußte, um diese Worte auszusprechen. Und sogleich führte sie sich zur Beruhigung mit der von Fingerringen bedeckten Hand eine aromatisch rauchende Pachitos an den Mund.
Der muskulöse, schöne Philipp mit dem breiten Brustkasten verneigte sich ein wenig, als ob er sich entschuldigte. Mit weichen Schritten ging er mit seinen starken Beinen, an denen die Waden hervor traten, über den Teppich zum andern Fenster und begann, die Fürstin aufmerksam betrachtend, die Gardine so zu ordnen, daß nicht ein Strahl mehr seine Herrin belästigen könnte. Aber er hatte es wieder nicht recht gemacht, und wieder mußte die gemarterte Fürstin ihr Gespräch über den Mystizismus unterbrechen, und den sie unbarmherzig quälenden, ungeschickten Philipp zurechtweisen. Für einen Augenblick flammte in den Augen Philipps ein Funke auf.
»Der Teufel mag daraus klug werden, was du willst! — Das meint er wahrscheinlich innerlich«, dachte Nechljudow, der das ganze Spiel beobachtet hatte. Aber der schöne und starke Philipp verbiß sogleich wieder seine Ungeduld und fuhr ruhig fort, das zu thun, was ihm die ausgemergelte, kraftlose, durch und durch verkünstelte Fürstin befahl.
»Gewiß, es steckt ein großes Stück Wahrheit in der Lehre Darwins«, sprach, auf dem niedrigen Lehnstuhl ausgestreckt, Kolossow, indem er die Fürstin mit schläfrigen Augen ansah. »Aber er überschreitet die Grenzen . . . «
»Glauben Sie an die Vererbungstheorie?« wandte sich die Fürstin an Nechljudow, der sie durch seine Schweigsamkeit deprimierte.
»An die Vererbungstheorie? Nein . . . « antwortete Nechljudow, nachdem er die Frage aufgefaßt hatte. Er war in diesem Augenblick ganz von sonderbaren Vorstellungen gefangen genommen, die in seiner Phantasie aufstiegen. Neben dem starken, schönen Philipp, den er sich als Modell dachte, stellte er sich den nackten Kolossow vor, mit seinem, einer Wassermelone gleichenden Bauch, dem Kahlkopf und den wie Peitschenschnüre herabhängenden muskellosen Armen. Ebenso stellten sich ihm unklar auch die jetzt mit Samt und Seide bedeckten Schultern der Fürstin so vor, wie sie in Wirklichkeit aussehen müßten. Aber dieses Bild war zu schrecklich, und er gab sich Mühe, es wieder zu bannen.
Die Fürstin maß ihn mit den Augen.
»Übrigens, Missy erwartet Sie«, sagte sie. »Gehen Sie doch zu ihr hinüber, sie wollte Ihnen etwas Neues von Schumann vorspielen . . . Sehr interessant . . . «
»Nichts wollte sie spielen. Zu was sie das alles doch lügt!« dachte Nechljudow, als er sich erhob und die durchscheinende, knöcherne, beringte Hand der Fürstin drückte.
Im Salon begegnete ihm Jekaterina Alexejewna und sing sogleich an zu sprechen:
»Ich sehe, mein Fürst, daß auf Sie die Pflichten eines Geschworenen etwas niederdrückend wirken . . . « sagte sie, wie immer, französisch.
»Ja, nehmen Sie es mir nicht übel, ich bin heute nicht bei Laune und habe nicht das Recht, auch andere durch meinen Mißmut anzustecken«, antwortete Nechljudow.
»Warum sind Sie denn schlechter Laune?«
»Gestatten Sie mir, Sie damit nicht zu belästigen«, sagte er, nach seinem Hut suchend.
»Haben Sie es denn vergessen, daß gerade Sie es immer sagten, daß man die Wahrheit immer aussprechen müsse, und wie viel bittere Wahrheiten Sie uns damals gesagt haben. Warum wollen Sie es denn jetzt nicht thun? — Erinnerst du dich, Missy?« wandte sich Jekaterina Alexejewna an die zu ihnen herausgekommene Missy.