Namen übertragen lassen wollte.
Was eigentlich alle Alarmglocken hätte klingeln lassen und Situ Rinpoche zu einer fairen Untersuchung der phantastischen Behauptung hätte zwingen müssen, wurde zu der langgesuchten Ausrede, um seinem Rivalen hinterrücks einen Schlag zu versetzen. Nachdem Situpa mit seinen neu gewonnenen “Schuldbeweisen” die Runde gemacht hatte, verkündeten die drei Eminenzen - Situ Rinpoche, Gyaltsab Rinpoche und Jamgön Kongtrul Rinpoche - anmutig ihr Urteil, ohne den Fall näher untersucht zu haben. Sie waren in der Sache nicht die kleinste Spur tiefer gegangen und beschlossen einfach, Shamarpa vor Gericht zu bringen.
Und als sich nun die Lamas und ihre Schüler in dem regnerischen Dorf Sonada im Ost-Himalaya versammelten, um die zweitausend Einweihungen zu erhalten, machten sich die drei edlen Linienhalter daran, ein Glanzstück eigener Machart abzuliefern. An einem nebeligen Morgen, ungefähr bei der Hälfte der Einweihungen angelangt, erhielt Shamarpa einen überraschenden Brief von einigen Rechtsanwälten, die die drei Linienhalter vertraten. In feierlichem Ton überbrachten die Anwälte ihre harte Nachricht: Shamarpa sollte sich auf eine Auseinandersetzung vor Gericht gefaßt machen. Das Unglaubliche geschah - drei von Karmapas Herzenssöhnen beabsichtigten, ihren ältesten Kollegen öffentlich des Diebstahls von Karmapas Eigentum zu beschuldigen.
Der Schlag kam genauso hart wie unerwartet. Shamarpa konnte beim besten Willen nicht begreifen, daß sich die Linienhalter, statt die Behauptung zu untersuchen, dafür entschieden, lieber hinter seinem Rücken herumzuschnüffeln und ihn des Diebstahls bezichtigten. Indem sie das Unrecht noch durch eine Beleidigung steigerten, hatten die Eminenzen auch noch vor, ihren Coup auszuweiten. Shamarpa fand heraus, daß sie sich mit einer entscheidenden Frage an Kalu Rinpoche gewandt hatten. Am Ende der Zeremonie sollte der bedeutende Lama die vier Tulkus öffentlich darum bitten, den zukünftigen 17. Karmapa nach Tsurphu in das besetzte Tibet anstatt nach Rumtek, seinem neuen Hauptsitz, zu schicken. Es wurde erklärt, daß der gelehrte Thrangu Rinpoche und seine Ratgeber dringend, zum Wohl des alten Klosters, um diese Lösung bitten würden. Den nächsten Karmapa in einem chinesisch kontrolliertem Tibet einzusperren, klang nach einem merkwürdigen Schachzug mit unklaren Vorteilen, und noch heute denkt Shamarpa nur mit Unbehagen an die Treulosigkeit dieses Plans. Es traf ihn hart, daß die ganze Idee - hinter dem wohlwollenden Wunsch versteckt, Tsurphu wieder aufzubauen - nichts anderes war als ein Schachzug, um die Kontrolle über die Karma Kagyü Schule zu erlangen. Wenn es ihnen erst einmal gelungen war, Karmapa dem Zugriff der Kommunisten zu überlassen, könnten die mächtigen Lamas an der Spitze bleiben und machen, was sie wollten. Falls Kalu Rinpoche nach der Einweihung unerwartet mit diesem sonderbaren Wunsch aufgetaucht wäre, hätte Shamarpa seiner Bitte zustimmen müssen. Nachdem er die wertvollen Einweihungen von dem alten Meister erhalten hatte, ließ ihm die tibetische Etikette keine andere Wahl, als den Wunsch seines Lehrers zu erfüllen, egal wie absurd dieser auch war.
Angewidert von solchen Intrigen und weil er eine Kraftprobe während den Zeremonien vermeiden wollte, und auch die Aussicht vor Augen, daß der 17. Karmapa ein Bürger Rotchinas werden könnte, beschloß Shamarpa, Sonada zu verlassen. Nachdem er sich bei dem alten Kalu Rinpoche entschuldigt hatte, traf er in Delhi ein, um die ersten Schritte beim Bau des Karmapa Institutes zu überwachen. In Sonada aber blieb sein Sitz für die letzten drei Monate der Einweihungen auffallend leer.
Überall anders hätte das nur gesellschaftliche Empörung ausgelöst, aber für die Tibeter kam die plötzliche Abreise des obersten Linienhalters einem Erdbeben gleich. Um weitere Peinlichkeiten zu vermeiden, wurde eilig Beru Khyentse Rinpoche, ein weiterer bedeutender Kagyü Lama, als Ersatz herbeigebracht. Shamarpas Feinde benutzten seine Abreise sofort als ein weiteres Beispiel seiner Arroganz und hochmütigen Art. Als sich ihr Plan, den nächsten Karmapa in Tibet einzusetzen, in Luft auflöste, müssen die drei Tulkus zu der Überzeugung gelangt sein, daß Shamarpa ein gerissener Spieler sei - seine plötzliche Abreise von Sonada sprach dafür. Jetzt gab es kaum Zweifel, daß er sich nach Delhi zurückzog, um sich endgültig in den Besitz von Karmapas Land zu bringen.
Trotz ihrer Behauptung, sie hätten einen gewitzten Dieb auf frischer Tat ertappt, bekamen die drei Linienhalter ihren Auftritt vor Gericht nicht. Rechtsanwälte, vom Generalsekretär engagiert, wiesen die Absurdität der Beschuldigung nach. Das umstrittene Stück Land war dem 16. Karmapa von der damaligen indischen Premierministerin Indira Gandhi geschenkt worden. Aus verschiedenen Gründen - politischen und anderen - hatte die indische Regierung beschlossen, das Land für 99 Jahre zu verpachten. Um dies deutlich zu machen, wurde jährlich eine symbolische Gebühr von einer Rupie bezahlt. Das bedeutet, daß der wirkliche Eigentümer des Grundstückes die indische Regierung war und nicht Karmapa. Damit war die ganze Anschuldigung, man hätte Seiner Heiligkeit das Land weggenommen und es jemandem anderen übertragen, hinfällig.
Als der 16. Karmapa verstorben war, mußten die ganzen Dokumente, den Platz betreffend, richtig formuliert werden, da es in den vorliegenden Orginalpapieren einige Fehler gab. Deswegen war eine gesetzmäßige Unterschrift nötig, die den 16. Karmapa repräsentierte. All dies geschah, nachdem die Gruppenherrschaft der vier Rinpoches gegründet worden war und während Shamarpas Amtszeit, in der er die Belange der Schule vertrat. Zu dieser Zeit war der Karmapa Charitable Trust noch nicht wiederentdeckt worden, also wurde Shamarpa folgerichtig zum Unterzeichner des richtiggestellten Pachtvertrages. Dieses ausgebesserte Dokument war es, das Lea Terhune ausgegraben hatte und das die Grundlage für ihre Schlußfolgerung lieferte, daß Shamarpas Unterschrift unter dem neuen Vertrag bedeutete, er wäre der neue Eigentümer. Die Rinpoches stimmten ihr freudig zu.
Nun war Shamarpa an der Reihe, seinen Kollegen mit dem Gericht zu drohen. Nachdem er das Vertrauen verloren hatte, daß die drei Linienhalter auch fähig waren für ihre Linie einzustehen, schlug er vor, den geplanten Prozeß gegen die drei fallenzulassen, falls sie im Gegenzug damit einverstanden wären, die Gruppenherrschaft aufzulösen. Mit Erleichterung nahmen Jamgön und Gyaltsab Rinpoche die Gelegenheit, sich Rückendeckung zu verschaffen, wahr und unterschrieben bereitwillig die entsprechende Erklärung.
Und so hörte die gemeinsame Herrschaft über die Kagyü-Linie, nach einigen instabilen Jahren, auf zu existieren. Shamarpa übernahm, gemäß der historischen Tradition, innerhalb Karmapas Organisation die Rolle des Stellvertreters Seiner Heiligkeit, was er aber nur in offiziellen Belangen und bei öffentlichen Zeremonien tat. Die vier Rinpoches blieben, wie früher vereinbart, weiterhin gemeinsam mit der Aufgabe betraut, den 17. Karmapa zu finden. Shamarpa fand es sinnvoll, den drei bei einer so heiklen Aufgabe nicht allzuviel Freiheit zu gewähren. Die neuesten Annäherungsversuche des kommunistischen China an Situ Rinpoche waren nicht einfach nur besorgniserregend, sondern geradezu gefährlich. Die Pflege und Verwaltung von Karmapas Eigentum und Projekten fiel von nun an unter die Zuständigkeit des Charitable Trust.
Diese bizarren Vorfälle hatten wohl die positive Wirkung, daß sie Shamarpas Augen für das betrügerische Vorgehen seiner Kollegen öffneten. Sie bewirkten eine enge Allianz zwischen ihm und Topga Yulgyal, der sich dauernden Angriffen ausgesetzt sah, weil er beharrlich versuchte, die Linie von ihrem mittelalterlichen Ballast zu befreien. Topga Yulgyal und Shamar Rinpoche wurden so zu Partnern, die moderne Werte im Leben von Rumtek einführten und dem etwas veralteten Körper der Linie zu neuem Elan verholfen. Diese ehrlich gemeinte Anstrengung verschaffte dem Generalsekretär unnachgiebige Feinde und vermehrte die Liste derer, die Shamarpa bereits hatte.
Unbeeindruckt von ihren schweren Verfehlungen beschränkten Tai Situ und Gyaltsab Tulku von da an ihren Kontakt zu dem obersten Linienhalter und dem Generalsekretär auf offizielle Angelegenheiten. Dieses neue Einstellung war nicht einfach nur leichtfertige Rivalität. Zwei Jahre nach Karmapas Tod wurde eine Spaltung an der Spitze offenbar, die seid der Verbrennungszeremonie immer sichtbarer geworden war.
Jamgön Kongtrul versuchte, im Gegensatz zu seinen beiden Kollegen, sein Verhalten zu bessern. Nachdem er erkannt hatte, welches Unrecht Shamarpa angetan worden war, gestand er seine Fehler ein und versuchte, auf der Basis von Vertrauen und Respekt, eine neue Beziehung zum höchsten Linienhalter herzustellen.
Ihre schwer verdiente Zusammenarbeit wurde nahezu ein Jahrzehnt später abrupt durch einen tragischen Unfall beendet, der den Verlauf der Ereignisse, von denen in diesem Buch erzählt wird, beschleunigte.
KAPITEL 4
Die Verleumdung