Wolfgang Bendick

Kreuzweg zu anderen Ufern


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      PROLOG

       PROLOG

      Ich fühlte mich frei. Völlig frei. Ein wunderschönes Gefühl. Hatte ich doch einen Beruf gewählt, der es mir ermöglichte, ohne Bindung zu sein, hinzugehen, wo ich wollte, zu denken, was ich wollte: Seemann!

      Doch trotz allem, oder gerade wegen dieses Berufes, befand ich mich auf einem Logenplatz, um das Elend in der Welt zu sehen. Manchmal wunderte ich mich wirklich, schämte mich schier, dass ich mich nicht auf der anderen Seite befand, bei den Elenden. Was hatte bewirkt, dass ich einer von den wenigen war, mit denen es das Schicksal beim Verteilen der Geburtsorte gut gemeint hatte? Und manchmal dachte ich mir, dass meine Freiheit gar nicht echt sei, nur eine Selbsttäuschung, denn: entweder sind wir alle frei und erleben uns als Brüder ohne Angst und ohne Hass, oder aber wir müssen noch an der Freiheit arbeiten, damit sie ein Gemeingut wird…

      Ist es unsere Lebensweise im Überfluss, die es uns erlaubt, solche Gedanken zu hegen, oder sind solche Gedanken Menschen aller Klassen zu eigen, zumindest einem geringen Teil von ihnen, und bewegt sie dazu, zu Idealisten zu werden, zu Träumern von einer heilen Welt?

      Und dann stellt sich die Frage: Wie und wo den Hebel ansetzen, um die Welt in eine etwas harmonischere Richtung rotieren zu lassen? Sollte man erst Millionen verdienen, welche man dann über das Elend verstreut, um es auszumerzen? Soll man eine Revolution machen, um den Menschen einen neuen Weg zu zeigen und den Reichen das zu nehmen, was sie uns über Generationen vorenthalten haben, um es gerecht zu verteilen? Ersteres schien mir zu langwierig und außerdem hatte meine Mutter schon immer gesagt: „Geld verdirbt den Charakter!“ Die wenigen Reichen, die ich kannte, waren ein vortreffliches Beispiel dafür. Und für das zweite hatte ich nicht den Mumm. Allein von meiner Gestalt her war ich eher ein Schwächling und außerdem waren meine Ideale Albert Schweizer und Mahatma Gandhi, also alles Pazifisten.

      Und Revolutionen hatte es schon genug gegeben, gab es noch immer irgendwo auf der Erde, wie ich selbst in den besuchten Ländern erlebt hatte, und alle führten nur durch ein Blutbad zu einer erneuten ungerechten Verteilung der Güter… Nein, man müsste das anders angehen, kam es mir in den Sinn, von innen her, angefangen bei der Bildung, dem Übermitteln von universellen Werten von Kindheit an! Dem Geld seinen Stellenwert zu geben, der ihm zusteht: Eine Nebensache! Eine Art Schmierstoff, schmutzig, aber notwendig, der ein Teilen der Güter der Welt und damit ein harmonisches Zusammenleben auf der Erde ermöglichen könnte…

      Solcher Art waren meine Gedanken, während ich auf meinem Moped durch die Buchenwälder zwischen dem Ammersee und Starnberger See knatterte, auf dem Wege nach Walzell, einem Ortsteil von Loisachtal – mir noch völlig unbekannt – um mich dort an einer Schule vorzustellen. Ich hatte gerade auf dem Schiff abgemustert, hatte ein paar Wochen Landurlaub vor mir, bevor es auf einen neuen Dampfer, meinen letzten, wie ich mir vorgenommen hatte, gehen sollte.

      Um Bildung zu vermitteln, musste man erst mal selber welche haben, war meine logische Schlussfolgerung gewesen. Diese hatte mich zu der Entscheidung geführt, als erstes das Abitur nachzumachen, um dann zu studieren – entweder Pädagogik oder Theologie – und den Menschen zeigen zu können, wo es lang ging… Nur gab es zu jener Zeit wenige Schulen, auf denen man das Abi nachholen konnte, da der ‚zweite Bildungsweg‘, wie er genannt wurde, erst in den Kinderschuhen steckte. Angeblich gab es nur zwei Institute in Deutschland, wo das möglich war, ein staatliches bei Köln und ein anderes, kirchliches, eben hier in Walzell.

      Ich hatte Zeit. Mein Rendezvous war für 14 Uhr angesetzt, also nach dem Mittagessen. Die schmale Teerstraße schlängelte sich durch den hochstämmigen Wald. Es war kein Verkehr, war ja auch Mittagszeit. Ich ergötzte mich an den Kurven, ließ mich regelrecht hineinfallen, um mich durch ein Drehen am Gasgriff wieder heraus zu hebeln, soweit das bei den 2,6 PS des Motors meiner kleinen Zündapp überhaupt möglich war. Meine Freunde fuhren inzwischen Motorräder, wenn nicht gar Autos und hupten mitleidig, wenn sie mich überholten. Doch mir ging es nicht um Geschwindigkeit. „Klein, aber fein!“, war eine Devise meiner Mutter gewesen und irgendwie auch zu meiner geworden. Eine andere war: „Geld allein macht nicht glücklich, aber es beruhigt!“ Es lag ein leichter Geruch von trockenem Laub und Sommertag in der grünlichen Luft, die hier und da von einem goldenen Sonnenpfeil durchstoßen wurde. Die Schatten der Äste zeichneten dann skurrile Muster auf den Asphalt.

      Plötzlich – war ein Schlagloch die Ursache gewesen? – ein Ruck, ein Klappern, schon hatte ich die Kupplung gezogen und kam am Straßenrand zu stehen. Mir war klar, dass es die Kette war. War sie gerissen? Nein, sie war nur abgesprungen! Ich bockte die Karre auf den Ständer, suchte unter der Sitzbank mein Bordwerkzeug und machte mich ans Schrauben. Routine. Doch waren meine Hände nachher so schwarz, dass ich Bedenken hatte, so zu dem Treffen zu erscheinen. Obwohl – dachte ich mir – für ein Rendezvous mit einem der Schwarzröcke vom erzbischöflichen Ordinariat in Augsburg könnte das vielleicht ein glückliches Omen sein. Ich versuchte, die Hände mit Blättern sauber zu wischen. Vergeblich. Ich zog den Benzinschlauch vom Hahn und rieb meine Hände mit dem würzigen Saft, der herausquoll, ein. Das ging schon besser! Es blieben nur noch die Fingernagelränder schwarz. Da bemerkte ich unweit hinter den Bäumen einen kleinen Waldsee. Ich fuhr bis auf den kleinen kiesbestreuten Parkplatz. „Wörthsee “ stand auf einem Holztäfelchen und „Angeln verboten!“ Ich rutschte das niedrige Ufer hinunter und kratzte etwas Sand und Kies aus der unterhöhlten Böschung. Damit scheuerte ich meine Hände, bis sie rot waren. Doch die Nägel blieben weiterhin schwarz.

      An der Schule und dem Seminar – mehrere nicht zu übersehende große Gebäude inmitten von kleinen Reihenhäuschen – angekommen, fragte ich die Sekretärin, die mich empfing, erst mal nach den Toiletten und nach Seife. Dann setzte ich mich auf eine Bank im hohen und dämmerigen, breiten Flur und wartete auf das, was passieren würde. Ein leichter Essensgeruch hing noch in der Luft. Leises Tellerklappern zeugte von reger Tätigkeit in der Spülküche. Wie viele Personen mochten hier leben? Wie war man untergebracht? Solche und andere Dinge gingen mir durch den Kopf. Aber meine Entscheidung war schon getroffen. Sollte es von Seiten der Schule keine Vorbehalte geben, würde ich mich hier für die nächsten Jahre integrieren. Wäre doch gelacht, wenn ich das nicht aushalten würde…

      Da öffnete sich mir gegenüber eine Tür und heraus trat eine hagere, hohe Gestalt in Schwarz von bestimmt über 80 Jahren. Was mir auffiel, waren die grauen Haare in Form eines Bürstenschnittes. Irgendwie roch die Person sogar alt. Fast modrig. Wie soll ich das sagen, nach Mottenkugeln oder jenen Kräuterpastillen aus dem Reformhaus, die ein hohes Alter versprechen, wenn man sie regelmäßig lutscht. „Prälat Vil vom erzbischöflichen Ordinariat Augsburg!“, stellte er sich vor. „Ich bin zuständig für die Zulassung der Studenten des Bistums Augsburg in das Seminar St. Matthias!“ Ich folgte ihm in das Büro, das sicherlich für solche Gespräche vorgesehen war.

      Er nahm hinter einem breiten Schreibtisch Platz und wies auf einen Stuhl davor. Ich bemerkte, dass von mir immer noch ein leichter Benzingeruch ausging und versuchte meine Fingerspitzen in den Händen zu verstecken, denn trotz der Seife waren diese schwarz geblieben. In den Toiletten hatte ich außer der Klobürste keine andere gefunden. Und diese als Nagelbürste zu benützen, war mir doch etwas zu abwegig erschienen.

      Das Frage- und Antwortspiel zwischen uns zog sich eine Weile hin. Es erinnerte mich etwas an Katz- und Maus. Er war der Kater und eindeutig in der beherrschenden Position. Irgendwie wollte er mein religiöses Leben ergründen, sagen wir mal, die Tiefen meiner Seele sondieren. Einer höheren kirchlichen Persönlichkeit als einem Pfarrer hatte ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht genähert, kam es mir in den Sinn, oder, halt doch, bei der Firmung hatte mir damals ein ‚Weihbischof‘ die Salbung und den Backenstreich gegeben.

      Er erklärte mir, dass ich schriftlich ein offizielles Aufnahmegesuch stellen müsste, mit Begründungen und so weiter. „Warten sie, ich werde ihnen ein Muster ausstellen, welches sie dann abschreiben und an der entsprechenden Stelle einreichen müssen“. Und er schrieb mir mit seiner etwas zittrigen Hand, durch deren Haut ich meinte die einzelnen Knochen sehen zu können, in der alten deutschen Schrift, welche ich zum Glück damals in der Volksschule noch gelernt hatte, folgendes auf ein Blatt Papier: „An den hochwürdigen Herrn Prälaten