Johann Wolfgang von Goethe

Johann Wolfgang von Goethe: Gesammelte Dramen


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Herz ausgeübt hat; mit weniger Aufmerksamkeit wirst du es leicht. Was waren deine Hoffnungen als Schüler des ersten Grades?

      RITTER. Besser zu werden, als ich bin, und, durch Eure Hülfe, das Gute, was ich erkenne, in Ausübung zu bringen.

      GRAF. Und was erfuhrst du, als du aus dem Munde des Domherrn die Grundsätze des zweiten Grades vernahmst?

      RITTER. Ich erfuhr zu meinem Entsetzen: daß Ihr Euch bisher nur verstelltet und die Schüler zum besten hattet; daß man die, die Ihr Gehülfen nennt, zu weltklugen Menschen machen, sie zu Egoisten stempeln, die zartesten Empfindungen der Freundschaft, der Liebe, der Treue und jeder schönen Anforderung, die unser Herz unwiderstehlich macht, aus ihrem Busen reißen und sie, ich darf es wohl sagen, zu gemeinen, ganz gemeinen, schlechten, ganz schlechten Menschen machen wollte. Du weißt, mit welchem Abscheu ich diesen Übergang verwarf. Weiter hab ich nichts zu sagen: ich verändere meine Gesinnungen nicht, und – entlaß mich!

      GRAF. Eben deswegen schließ ich dich an mein Herz, werfe meinen Hut vor dir weg und grüße dich als Meister. Du hast die Prüfung überstanden, du bist der Versuchung entgangen, du hast dich als einen Mann gezeigt, den ich suche. Alles, was du aus dem Munde des Domherrn gehört hast, was leider dieser Unglückliche nebst mehrern andern für Wahrheit hält, ist nur Prüfung, nur Versuchung. Wenn die erhabenen, großen, uneigennützigen Meister einen Lehrling, der sich gut anläßt, weiter vorwärts führen wollen, so versuchen sie ihn erst, und am sichersten geschieht es, wenn sie ihm die scheinbaren Vorteile eines eigennützigen Betragens vorlegen. Greift er darnach, so tut er einen Schritt zurück, indem er glaubt, einen vorwärts zu tun. Wir lassen ihn lange Zeit in seinem Sinne hingehen, und glücklich ist er, wenn wir ihn nach und nach durch große Umwege zum Licht führen.

      RITTER. Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Glaubt denn der Domherr, daß die Grundsätze, die er mir mit soviel Behaglichkeit vorgetragen, die rechten, die wahren sind?

      GRAF. Freilich glaubt er's, der Unglückliche!

      RITTER. Und du, sein Busenfreund, ziehst ihn nicht aus diesem Irrtum?

      GRAF. Ich arbeite daran. Es ist aber schwerer, als du denkst. Der Eigendünkel eines halbklugen Egoisten hebt ihn über alle Menschen hinweg; indem er sie zu übersehen glaubt, läßt er sich alles nach und gibt andern eben dadurch Gelegenheit, ihn zu übersehen, ihn zu beherrschen.

      RITTER. Ihr solltet nicht ruhen, bis ihm die Augen geöffnet sind.

      GRAF. Damit du einsehen lernst, wie schwer das ist, sollst du mir helfen, ihn auf den rechten Weg zu bringen.

      RITTER nach einer Pause. So wäre es denn wahr, daß ich mich an Euch nicht geirrt habe? daß ich in dir, je länger ich dich kenne, immer den Bessern, den Größern, den Unbegreiflichen finde? Meine Dankbarkeit ist grenzenlos, meine Freude verstummt in dieser Umarmung.

      GRAF. Nun gehe, mein Sohn. Drüben in dem Zimmer sind Kleider zurechtgelegt, in denen man sich nur dem Großkophta zeigen darf. Wären alle, die sich ihm heute vorstellen, rein wie du, so würde er von seiner Erscheinung selbst große Freude haben. Du wirst große Wunder sehen und wirst sie bald verstehen, ja bald selbst hervorbringen lernen. Gehe, staune und schweige.

      RITTER. Ich bin ganz, ich bin ewig dein!

      Siebenter Auftritt

      DER GRAF allein. So wäre denn auch dieser nach seiner Art zur Ordnung gewiesen. Man muß die Angeln, die Netze nach Proportion der Fische einrichten, die man zu fangen gedenkt, und wenn es ein Walfisch ist, wirft man mit Harpunen nach ihm. Den Mäusen stellt man Fallen, Füchsen legt man Eisen, Wölfen gräbt man Gruben, und die Löwen verscheucht man mit Fackeln. Diesen jungen Löwen habe ich auch mit einer Fackel zur Ruhe gebracht, und ich darf den Meisterstreich wagen, der mein Ansehen bei allen befestigen muß. Die Dekoration ist in Ordnung, die Marquise hat mich verstanden, und es wird alles glücklich vonstatten gehen.

      EIN BEDIENTER in einem langen weißen Feierkleide. Alles ist fertig, Herr Graf! Der Domherr, der Ritter, die Damen sind alle gekleidet. Wollen Sie sich hier anziehen? Soll ich Ihre Kleider herüberbringen?

      GRAF. Nein, ich komme! Folge mir und tue dein Amt.

      Achter Auftritt

      Vorsaal und Eingang in die ägyptische Loge.

      Musik.

      Sechs Kinder kommen gepaart in weißen langen Kleidern, mit fliegendem Haar, Rosenkränze auf dem Kopfe und Rauchfässer in den Händen.

      Sechs Jünglinge hinter ihnen, weiß, aber kurz gekleidet, gleichfalls mit Rosenkränzen auf dem Haupte, jeder zwei Fackeln kreuzweise über der Brust. Sie ziehen anständig über das Theater und stellen sich an beide Seiten.

      CHOR DER KINDER.

      Schon eröffnet ist der Tempel,

      Sind die Hallen, sind die Grüfte.

      Weihrauch reinige die Lüfte,

      Die um diese Säulen wehn.

      CHOR DER JÜNGLINGE.

      Holde Kinder, zarte Sprossen,

      Bleibet in dem Vorhof stehn,

      Und ihr Weisen, ihr Genossen,

      Eilt, ins Heiligtum zu gehn.

      Musik.

      Die Genossen der Loge kommen zwei und zwei aus entgegengesetzten

      Kulissen, jedesmal ein Frauenzimmer und eine Mannsperson. Sie begegnen einander, grüßen sich und treten an die Tür der Loge.

      CHOR DER KINDER UND JÜNGLINGE.

      Klein und ärmlich wie die Zwerge,

      Tief umhüllt von Rauch und Wahn,

      Stehn wir vor dem heil'gen Berge –

      Geister, dürfen wir hinan?

      CHOR VON INNEN.

      Bringet Ernst zur ernsten Sache,

      Kommt zum Licht aus Dunst und Wahn.

      Daß der Kophta nicht erwache –

      Leise, leise tretet an.

      Die Pforte öffnet sich. Die Genossen treten hinein; die Pforte schließt sich, und es kommt wieder ein neues Paar. Zeremonie und Gesang werden wiederholt. Es fügt sich, daß der Domherr und die Nichte zusammentreffen und miteinander ins Heiligtum gehen. Sie sind die letzten. Die Musik verliert sich ins Pianissimo, die Kinder treten in die Kulissen, die Jünglinge fallen auf die Knie zu beiden Seiten des Proscenii.

      Neunter Auftritt

      Der Vorhang geht auf, und es zeigt sich ein Saal mit ägyptischen Bildern und Zieraten. In der Mitte steht ein tiefer Sessel, auf welchem eine in Goldstoff gekleidete Person zurückgelehnt liegt, deren Haupt mit einem weißen Schleier bedeckt ist. Zur rechten Hand kniet der Domherr, zur linken der Ritter, vorwärts neben dem Domherrn die Marquise, neben dem Ritter der Marquis, dann die Nichte. Die Musik verliert sich.

      DOMHERR. Erhabener unsterblicher Greis! Du erlaubst Unwürdigen, sich deinen Füßen zu nähern, Gnade und Hülfe von dir zu erbitten. Du schläfst, oder vielmehr du scheinst zu schlafen: denn wir wissen, daß du selbst in deiner Ruhe aufmerksam und tätig bist und das Wohl der Menschen beförderst. Gib uns ein Zeichen, daran wir erkennen, daß du uns hörst, daß du uns hold bist!

      Musik, nur wenige Töne. Der Verschleierte hebt die rechte Hand auf.

      RITTER. Du siehst hier eine Anzahl Menschen vor dir, die, aufgemuntert durch das Versprechen deines würdigsten Schülers, in vollem Vertrauen sich zu dir nahen und hoffen, daß du ihre Bedürfnisse befriedigen werdest. Freilich sind diese Bedürfnisse sehr verschieden; doch selbst das Mannigfaltigste wird einfach vor deinem allgemeinen Blick, vor deiner ausgebreiteten Macht. Wirst du uns erhören, wenn wir gleich unwürdig sind?

      Musik, wie oben, nach Verhältnis. Der Verschleierte richtet sich auf.

      MARQUISE.