Dagmar Isabell Schmidbauer

Dann stirb doch selber


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trotzdem davongefahren?

      Aus weiter Ferne hörte ich ein Martinshorn, gleich darauf noch eines. Es hatte also wieder einmal jemanden erwischt. Und dann fragte ich mich, warum sie sich nicht wenigstens geduckt oder ihre Haare zusammengebunden hatte. Mussten sie mir so wehtun?

      Als es nach einer kleinen Ewigkeit weiterging, stand auf unserer Spur ein Streifenwagen, der Verkehr wurde über die Gegenfahrbahn geleitet. Das Blinklicht auf dem Dach des Krankenwagens prallte wie eine stumme Mahnung von der Brückenunterseite zurück.

      An den Pfeiler der Brücke schmiegte sich ein Auto mit zusammengefalteter Kühlerhaube. Nur die rote Aufschrift schien unversehrt. Der Fahrer war viel zu weit auf den Standstreifen gefahren. Er musste abgelenkt worden sein, kein Mensch fährt so weit nach rechts. Ich folgte dem Winken des Polizisten und kurbelte mein Fenster herunter. „Was ist denn passiert?“, fragte ich, setzte zu einem Rechtfertigungsversuch an, wollte ihm klar machen, dass ich auf keinen Fall hier weg konnte. Dann begann ich zu zittern. Ein greller Blitz erhellte sein Gesicht, als er mich genervt zurückwies. „Fahren Sie bitte weiter, hier gibt es nichts zu sehen!“ Das Donnergrollen zog über mein Auto. Ich hatte nicht mehr die Kraft, etwas entgegenzusetzen. Auf Gaffer sind die Ordnungshüter nicht gut zu sprechen. Obwohl ich doch wirklich einen Grund hatte.

      Er saß noch im Auto. Sein Oberkörper war über das Lenkrad gebeugt. Neben dem Wagen stand ein Sanitäter, er hatte das Fenster eingeschlagen, unternahm aber nichts. Aus dem vorgebeugten Kopf floss ein dünnes, rotes Rinnsal, fast nicht zu erkennen. Noch einmal warf ich einen Blick hinüber. Der Fahrer bewegte sich nicht mehr. Ich schluckte, versuchte meine Tränen wegzublinzeln. Er hatte es so eilig gehabt. Kraftlos folgte ich den anderen Autos. Hinter mir wurde bereits gehupt. Keinen interessierte das Schicksal des anderen. Regen setzte ein. Unbarmherzig, als wolle er ganz schnell alle Spuren beseitigen!

      2. Szene

      Magdalena

      Niemals hätte ich geglaubt, was mir die Polizisten später erzählten, wenn ich es nicht mit eigenen Augen gesehen hätte.

      Als ich unsere Wohnung endlich erreicht hatte, versuchte ich noch immer mir einzureden, dass ich mich getäuscht haben musste, dass es nicht Harry war, der in diesem Auto am Brückenpfeiler saß, mit geöffneten reglosen Augen und einer Blutspur an den Schläfen. Aber es wollte mir nicht gelingen. Ich sah aus dem Fenster in die Nacht und versuchte mir ein anderes, ein schöneres, ein lebendigeres Bild von Harry vorzustellen. Eines, auf dem er lacht. Fast wäre es mir gelungen, doch dann klingelte es an der Tür, und als ich aufmachte, räusperten sich zwei verlegene Polizisten. Der eine war kräftig und groß und trug seine Uniform voller Stolz. Der andere wirkte beinahe lächerlich neben ihm, und das lag nicht nur an seinen blassroten Haaren und dem spärlichen Bartflaum. Beiden sah ich an, dass sie diesen Job nicht gerne machten. Sie suchten nach Worten, die sie nicht finden konnten, weil sie Harry nicht gekannt hatten, und ich wusste auch nicht, was ich an ihrer Stelle gesagt hätte, außer: „Es tut mir leid!“

      Ich versuchte mich zu sammeln, spielte weiterhin die Kühle, die das alles nichts anging, wollte es nicht glauben, nicht wahrhaben und sah meinen einzigen Ausweg in der Flucht, genau wie Harry machte ich mich vor der Wahrheit aus dem Staub. Ich begann zu schreien und nahm die folgende Dunkelheit als dankbare Erlösung an!

      Samstag 17.8.

      3. Szene

      Magdalena

      Mit dem Gefühl, es gäbe mich nicht mehr, wachte ich am nächsten Tag auf, öffnete vorsichtig die Augen und sah aus dem Fenster. Die Sonne schien mit letzter Kraft zu mir herein. Ich hatte lange geschlafen, weil mein Kopf sich weigerte, das Geschehene zu verstehen. Die apfelgrünen Vorhänge rechts und links der großen Sprossenfenster waren zurückgebunden. Über meinem Körper lag eine leichte Sommerdecke, schwarzweiß kariert. Wie mein Denken. Harry! Tapfer versuchte ich, nicht zu weinen. Wie oft hatten wir in diesem Bett gelegen und gelacht oder uns geliebt. Harry war so feinfühlig, so phantasievoll, einfach wunderbar! Kaum sah ich ihn vor mir, schon huschte ein winziges Lächeln über mein Gesicht. Doch mein Körper war nur noch eine leere Hülle, liegen gelassen und vergessen an einem Platz, an den er einmal gehört hatte. Mein Kopf lag in den Kissen und mein Blick war starr an die Decke gerichtet. Dort tanzten meine Gefühle herum. Der bohrende Schmerz in meinem Körper war allgegenwärtig, schien von nirgendwoher zu kommen und wollte nirgendwohin. Er blieb, wie ein Anhängsel, das sich einfach nicht mehr verscheuchen ließ.

      Der Blick auf meinen Wecker wurde von einem halbvollen Wasserglas und einem braunen Pillenglas verstellt. Ich überlegte, wie die Sachen dorthin gekommen sein konnten. Es hatte mit den Polizisten zu tun. Sie hatten Sylvia geholt und die hatte nichts Besseres gewusst, als gleich ihren Chef zu alarmieren. Seine Haare waren viel zu kurz und zu blond, sein Gesicht schrecklich braun und die Falten viel zu tief für seine jugendliche Aufmachung. Sein Poloshirt war ein wenig verschwitzt, vielleicht kam er vom Sport, aber das teure Rasierwasser überdeckte jeden Geruch. Ich hatte jedes Detail an ihm registriert, nur um nicht an Harry denken zu müssen. Und dann hatte er gelächelt, mit seinen wunderbaren Zähnen. Dritte Generation. Sylvia lief die ganze Zeit um ihn herum, und er sagte, er wolle mir eine Spritze geben, damit ich zur Ruhe käme. Dankbar sah ich ihn an, doch, er sollte mir ruhig eine Spritze geben und dann gehen, und Sylvia sollte er am besten gleich mitnehmen, sonst käme sie nur noch auf die Idee, uns etwas Schönes zu kochen.

      Ich stand auf und sah aus dem Fenster. Die Wolken, die das Gewitter gestern mitgebracht hatte, waren fast alle verschwunden. Wahrscheinlich war es den ganzen Tag schön. Einfach so, als ob nichts geschehen wäre. Von unten hörte ich keinen Laut, die Jungs hatten Ferien.

      Unsere Wohnung war ein neu gestaltetes Loft im oberen Stock einer alten Fabrik. Die Werkräume wurden zur Wiedereingliederung junger Leute ins Berufsleben genutzt. Das hörte sich toll an und manchmal klappte es auch.

      Auf der Straße fuhren sporadisch Autos vorbei und im Hof radelte Anna mit ihrem neuen Fahrrad. Als es laut krachte, wusste ich, worum es sich handelte. Sie hatte mal wieder die Müllcontainer hinten in der provisorischen Überdachung angefahren.

      Auf einmal hielt ich es nicht mehr aus.

      „Harry!“, rief ich in die leere Wohnung. Meine Stimme klang rau und brüchig und wenig charmant, aber es war einfach gut, seinen Namen zu rufen. „Harry!“, versuchte ich es gleich noch einmal, ohne auf eine Antwort zu hoffen. Und dann weinte ich und in Gedanken hörte ich meine Mutter sagen: „Weine nur, viel mehr können wir jetzt sowieso nicht machen. Die Leute werden uns aus dem Weg gehen und wie Aussätzige behandeln!“ Daraufhin hatte ich sie ungläubig angesehen. Ich hatte doch nichts verbrochen, warum sollten die Leute das tun?

      Langsam ging ich in die Küche, zum Kühlschrank, um mir etwas anderes als dieses fade Wasser, das noch immer neben meinem Bett stand, zu holen. Ich nahm ein Weinglas, warf ein paar Eiswürfel hinein und schenkte Cola drauf, natürlich light. Seit ich Harry kannte, machte ich Diät und quälte mich mit der Vorgabe, endlich abzunehmen und mich nicht von seinen Fressorgien anstecken zu lassen. Harry hatte einen so wunderbaren Körper.

      ... Eins, zwei, drei, Cha-cha, vier, fünf, sechs, Cha-cha. Frau Heidinger war irgendwo am Rande des Saales und zählte laut vor. Wir standen uns gegenüber, nur eine Armlänge von einander entfernt, nahmen Haltung an und begannen leise mitzuzählen. Ich musste lächeln, wieso hatte er ausgerechnet mich ausgewählt? Auf seiner Brust klebte ein Schildchen mit seinem Namen. Harry! Eins, zwei, drei, Cha-cha, vier, fünf, sechs, Cha-cha. Es waren viele nette junge Leute da, aber keiner schien mir so begehrenswert wie dieser Harry! „Wie wäre es mit uns, Magdalena?“, hatte er gefragt und meine Stimme hatte sich fast überschlagen, als ich „Ja gerne!“ antwortete. Eins, zwei, drei, Cha-cha, drehen, drehen, drehen, Cha-cha. An seiner Hand tänzelte ich herum und landete wieder in seinem Arm. Es war so wunderbar, wie er mich führte und ich mich hingab, und ich hoffte nur, dass keiner auf die Idee kam jetzt nach einer Pause zu schreien.

      Zwei Stunden später liefen wir über einen holprigen Feldweg und lachten und zählten noch immer: Eins, zwei, drei, Cha-cha, vier, fünf, sechs, Cha-cha. Auf einmal blieb er stehen, zog mich an sich und küsste mich.