Klara Chilla

Die Schiffe der Waidami


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Positionen durch, an denen sich das Schiff gerade befand, oder wo Beuteschiffe versenkt wurden, die dann so später zu den Schiffsbauern geschleppt werden konnten.

      Da er und seine Frau stets nur voller Verachtung über die Piraten sprachen, hatte sie bereits als kleines Mädchen begonnen, die Piraten zu fürchten. Und nun schickte er sie selbst auf ein solches Piratenschiff! Er konnte sie so gut verstehen, und Tamaka hasste sich selbst dafür. Er hasste sich für seinen Auftrag, mit dem er Lanea Dingen aussetzte, von denen er selbst nur eine vage Vorstellung hatte.

      „Es muss sein, vertrau mir einfach.“

      Lanea nickte und lächelte ihn dann zaghaft an.

      „Ich vertraue dir, Vater.“ Sie drückte seine Hand, bevor sie sich umdrehte und begann, sich von jedem Einzelnen zu verabschieden.

      Tamakas Herz wurde schwer, während er dabei zusah. Die meisten nahmen Lanea in die Arme und drückten sie herzlich. Mancher junge Mann sah sie enttäuscht an. Als Lanea sich schließlich der alten Frau zuwandte, stockte Tamaka für einen Moment der Atem. Die Alte wickelte sich eine Strähne, die aus der Gefangenschaft des Zopfes geflüchtet war, um ihre knochigen Finger.

      „Folge nur deinem Weg, Kind – dann wirst du dich selbst finden.“ Ihre Stimme klang heiser, dann löste sie die Strähne von ihren Fingern und streichelte Lanea sanft über die Wange, die ihr spontan einen Kuss gab. Mit einem Lächeln, das nur jemand kennt, der so viel Zuneigung erfährt, drehte sich Lanea zu Tamaka um.

      „Lass uns gehen, Vater.“

      Lanea ging vor ihrem Vater her und bemerkte nicht die unsicheren Blicke, die er auf die Hütte von Tahuna und ihrem Vater Ronam warf, als sie daran vorbeikamen.

      *

      Tahuna ging schweren Herzens. Sie würde Lanea vermissen, aber sie freute sich auch auf die vor ihr liegende Zeit mit Kamun.

      Als sie vor der Hütte ihres Vaters anlangte, bemerkte sie verwundert, dass die einfache Holztür offenstand. Tahuna beschleunigte ihre Schritte, aus irgendeinem Grund hatte ihr Vater die Tür nicht schließen können. Sorge fraß sich wie ein ungebetener Gast in ihr Herz, und sie schritt mit bangem Gefühl in das Innere.

      „Vater? Ist alles in Ordnung?“ Ihre Worte tropften überlaut in die Stille. Besorgt ließ Tahuna ihren Blick durch den Hauptraum schweifen. Keine Spur von ihrem Vater! Sie wollte gerade den Vorhang zu dem Schlafraum ihres Vaters beiseiteschieben, als ihre Augen sich plötzlich weiteten und sie die Hand entdeckte, die unter dem schweren Stoff hervorragte. Das Entsetzen schnürte ihr die Kehle zu und ließ ihre Zunge zu einem unförmigen Klumpen anschwellen. Sie wollte schreien, irgendetwas sagen, doch kein einziger Laut kam über ihre Lippen.

      Im selben Augenblick wurde der Vorhang langsam zur Seite geschoben. Ihr Blick ruhte fassungslos auf ihrem Vater, der leblos auf dem Boden lag. Erst dann wanderten ihre Augen in entsetzlicher Langsamkeit auf die riesige und klobige Gestalt, die sich in den Rahmen schob. Stephen Stout! Tahuna keuchte auf. Seine kalten Augen betrachteten sie desinteressiert, und mit einem unangenehmen Lächeln seines breiten Mundes präsentierte er ihr ein blutbeflecktes Schwert.

      Immer noch stumm vor Entsetzen, drehte sich Tahuna auf der Stelle um und rannte kopflos aus der Hütte und in den direkt dahinter liegenden Dschungel. Sie lief blind und voller Panik. Ihr Herz raste und klopfte mit schmerzhaften Schlägen in ihrer Brust und in ihrem Kopf. Sie war nicht mehr in der Lage, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen und schlug wie blind mit ihren vorgestreckten Armen die Zweige und Blätter aus ihrem Weg. Der Pirat musste dicht hinter ihr sein. Sie spürte es mit erschreckender Gewissheit, auch wenn sie keinen Laut um sich herum wahrnehmen konnte, außer ihren eigenen keuchenden Atem und das Blut, das durch ihre Adern rauschte. Ihre schwarzen Haare flatterten wie eine vom Sturm zerrissene Fahne hinter ihr her und verdeckten für einen Wimpernschlag den Weg, als sie zurückblickte. Jeder Atemzug wälzte sich brennend durch ihre Lungen, und die Luft wurde knapp. Sie konnte nicht weiter, konnte nicht ewig so panisch davonrennen. Es schien doch niemand hinter ihr zu sein, und Tahuna stoppte ihren Lauf. Schweratmend stützte sie ihre Hände an einen bemoosten Baumstamm ab, der sich feucht und weich in ihre Handflächen schmiegte. Sie hielt den Kopf gesenkt und versuchte verzweifelt, die übermächtige Angst aus ihrem Verstand zu bannen. Es konnte unmöglich wahr sein, was gerade geschehen war. Ein einziger Augenblick hatte ihr ganzes Glück zerstört. Eben hatte sie noch mit Lanea zusammengesessen und darüber gelacht, dass sie bald den begehrtesten jungen Krieger des Dorfes heiraten würde und dann, einen Augenblick später, fand sie ihren Vater ermordet. Ermordet von einem Handlanger Bairanis. Die kalte Erkenntnis, dass dies auch der Grund für das Unwohlsein ihres Vaters gewesen sein musste, griff nach ihrem Herzen und bohrte sich wie ein Messer hinein. Ihr Vater hatte es gewusst …

      Tahuna wischte sich die Tränen aus den vor Kummer fast schwarzen Augen und blickte hoch.

      Sie musste zu Kamun; sie musste ihm von dem Verrat und dem Mord an ihrem Vater berichten. Vielleicht waren ja noch andere Seher in Gefahr.

      Erleichtert darüber, endlich wieder einigermaßen klar denken zu können und eine Entscheidung getroffen zu haben, löste sie sich von dem Baum und drehte sich um.

      Das Letzte was sie sah, war das kalte Funkeln von Metall im Sonnenlicht, bevor es sich mit tödlicher Präzision in ihr Herz bohrte und alle Überlegungen für immer auslöschte.

      *

      Lanea fühlte sich trotz der vor ihr liegenden Ungewissheit glücklich, während sie ihre Schritte durch das Dorf auf den Strand lenkte. Sie freute sich über alle Maßen für Tahuna; ihre Freundin hatte gestrahlt und sie einfach in ihr Glücksgefühl mit hineingerissen. Es war nur sehr bedauerlich, dass sie bei den Feierlichkeiten nicht mehr dabei sein würde. Ihr Vater hatte sich unmissverständlich ausgedrückt. Die Tsunami würde bereits beim nächsten Sonnenaufgang in See stechen, und sie musste noch heute ihr Quartier an Bord beziehen.

      Die Verabschiedung von ihren Eltern war erschreckend schnell gegangen, doch sie war auch dankbar dafür. Lanea hasste rührselige Momente und ging ihnen gerne aus dem Weg. Trotzdem hatte sie verwundert bemerkt, wie ihre Eltern ungeduldig auf ihren schnellen Aufbruch bestanden hatten. Das aufdringliche Gefühl, abgeschoben zu werden, hatte sich ihrer bemächtigt und nicht mehr losgelassen. Die Anweisungen ihres Vaters waren kurz und knapp gewesen und hatten mehr Fragen aufgeworfen als sie zu beantworten.

      Vor der Hütte, in der Tahuna und ihr Vater wohnten, hielt Lanea kurz an. Sollte sie hineingehen und Tahuna noch einmal Lebewohl sagen? Aber alles schien ruhig und vermittelte den Eindruck, als wäre niemand da. Eigentlich hatten sie sich ja bereits verabschiedet und eine weitere Begegnung würde ihnen beiden nur unnötig das Herz schwer machen. Sie seufzte, griff ihren Sack, in den sie ihre wenigen Habseligkeiten gestopft hatte, fester und ging weiter.

      Die Tsunami lag ruhig in der kleinen Bucht vor Anker und schien nur auf sie zu warten. Zwei Seeleute standen neben einem Beiboot, das ein Stück auf den Strand gezogen worden war, und warteten tatsächlich auf sie.

      Als die Männer Lanea entdeckten, griffen sie nach dem Boot und zogen es zurück in das Wasser, das mit sanften Wellen den zaghaften, aber konstanten Versuch wagte, das Boot am Ufer festzuhalten.

      „Auf geht’s Lanea“, murmelte sie vor sich hin und versuchte, ihren sinkenden Mut zu ignorieren, als sie auf die Männer zuging.

      *

      Am nächsten Morgen betrat Stephen Stout mit lässigem Schritt die Höhle des Obersten Sehers, der ihm bereits mit hochgezogenen Augenbrauen entgegensah und den Mund in einer merkwürdig ungeduldigen Geste verzog.

      Stout verneigte sich ehrfürchtig, als er in angemessener Distanz vor dem alten Mann stehenblieb.

      „Seid gegrüßt, Oberster Seher!“

      Bairani neigte wohlwollend den Kopf und deutete mit seinen langen Fingern auf ein paar Stühle, die an einer Seite der Höhle in einer mit kunstvoll gefertigten Decken verzierten Nische standen. Weißes Sonnenlicht, das durch eine von Menschenhand geschaffene Öffnung fiel, warf seinen großzügigen Schein auf die bunten Muster, die verschiedene Szenen aus den Legenden um die Göttin Thethepel darstellten, und erfüllten sie mit unwirklichem Leben. Eine Decke, die größer als die anderen war, wurde von nur einem einzigen überdimensionalem Bild geziert, auf