John Mobray

The Plateau - Aufstieg in den Tod


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war die Annahme, dass es irgendwer jemals dort hinauf, und auch wieder herunterschaffen könnte.

      Es war unmöglich.

      Kurt Perlmann

      In seiner frühen Kindheit war er in dem großen Familienverbund mit einer Mischung aus Respekt und leichtem Spott das "Riesenbaby" genannt worden, und diese Titulierung hatte er bis heute nicht verloren. Ihn selbst störte das nicht, denn er konnte sehr selbstironisch sein. Vielleicht gab es einen Zusammenhang zwischen seiner beeindruckenden körperlichen Gestalt und seinem Gemüt, so etwa, als würde er aufgrund seiner Konstitution niemals an seiner Stärke zweifeln und damit jeder Situation gelassen entgegentreten können. Das auf den ersten Blick recht grobschlächtige Bild eines möglicherweise intellektuell schlichten Mannes stimmte aber so nicht. Kurt Perlmann war eigentlich künstlerisch-musisch begabt und hatte von seinen Eltern vehement zu seinem sechsten Geburtstag eine Gitarre verlangt. In seiner Familie war der Ton durchaus rau, und seine drei älteren Brüder lästerten unverhohlen über dieses Ansinnen.

      "Ich frag mich" hatte Jakob gesagt "wie das Riesenbaby mit seinen dicken Wurstfingern überhaupt die Saiten treffen will. Sehr Euch diese Griffel doch einmal an! Der wird es nie schaffen, der Klampfe vernünftige Töne zu entlocken."

      Das sollte sich so bestätigen, aber für Kurt war das nicht entmutigend, denn er war stur und beharrlich und sagte sich, dass er mit viel Übung doch schon irgendwie weiterkommen würde. Ob die Gitarre das richtige Instrument war konnte er noch nicht abschließend einschätzen, aber es sollte schon ein Saiteninstrument sein, keines mit Tasten. Jedenfalls übte er weiter und es erschien ihm wichtig, besonders die Finger seiner linken Hand ordentlich koordinieren zu können. Das gelang ihm nach und nach immer besser, aber tatsächlich bereiteten ihm seine großen Finger Probleme. Er konnte seine Finger zwar schnell auf dem Griffbrett setzen, aber das Problem der Größe seiner Hände ließ sich eben nicht aus der Welt schaffen. Nach zwei Jahren Training gab er auf, weil er nie über ein halbwegs passables Spielen hinauskommen würde, und das befriedigte ihn nicht. Zu dieser Zeit hatte er in der Schule mit erheblichen Lerndefiziten insbesondere in den naturwissenschaftlichen Fächern zu kämpfen und er merkte, dass er nur mit immensen Anstrengungen im Stoff mitkommen könnte. Da er sich ungern helfen ließ biss sich selbst durch und in dieser Phase war ihm klar geworden, dass er nicht unbedingt ein mit allzu großer Logik gesegneter Mensch war, und sich vieles würde erarbeiten müssen, was anderen keine Mühe bereitete. Er wusste aber auch, dass er dass er auf musikalischem Gebiet etwas erreichen könnte, wenn er das für ihn passende Instrument finden sollte. Dabei lag das schon ziemlich klar auf der Hand und es war ausgerechnet sein Vater, der ihm den entscheidenden Anstoß gab.

      "Weißt du Kurt" hatte er gesagt "als ich früher Rockmusik gehört habe war klar, wer die Chefs auf der Bühne sind. Erst kommt der Sänger, dann der Gitarrist, der Schlagzeuger, falls es einen gibt, der Keyboarder, und zum Schluss der Bassist. Ich sehe noch wie heute Mick Jagger, Jon Anderson von "Yes" oder Robert Plant vor mir. Wobei mir Plant immer etwas steif und ungelenk erschien, aber seine Stimme war schon der Hammer. Jagger war eine alte Rampensau, und Anderson derjenige, der alle zur Liebe bekehren wollte. Aber all deren Theater war nur möglich, weil sie weitere Könner um sich herum hatten. Jimmy Page an der Gitarre, Keith Richards, der alte Saufaus an der Klampfe. Im Hintergrund hauten die Drummer auf die Pauken und zupften die Bassmänner ihre Melodien. Man kann ja heute mit Software die Parts der einzelnen Musiker mal aus einem Song rausnehmen, also meinethalben mal den Bass verschwinden lassen. Wie klingt das dann? Scheiße! Warum versuchst du es nicht noch einmal mit einer Bassgitarre?"

      Da Kurt mittlerweile einen vernünftigen Lernrhythmus gefunden hatte fiel für ihn wieder mehr Freizeit zum Üben ab. Mit 16 Jahren war er soweit, sich nach einer Band umzusehen. Zu dieser Zeit wusste er selbst nicht genau wie sein Leben weitergehen sollte, aber er musste sich langsam Gedanken über seine berufliche Zukunft machen. Bis zum Abschluss der 12. Klassenstufe an der High School blieben ihm noch zwei Jahre. Auf der Bassgitarre waren seine Fähigkeiten recht beachtlich, und nicht mit seinen Anfängen auf der Akustikgitarre vergleichbar. Er beherrschte nunmehr komplizierte Basslinien und spielte schnell, sicher und sehr sauber. Ob das allerdings ausreichen würde um als Profimusiker seinen Unterhalt verdienen zu können konnte er selbst nicht bewerten. Auch deswegen zog es ihn jetzt auf die Bühne, um sich dort ausprobieren zu können.

      Kurt Perlmann war mit seinen mittlerweile 33 Jahren unter den Bassisten eine Institution. Er vereinte in seinem Spiel beste Technik und bekam schnelle Läufe ohne Mühe hin, aber das machte keinen Unterschied zu den anderen Gitarristen, die handwerklich genauso gut waren. Was ihn von den anderen abhob war seine Experimentierfreude. Und wenn er weiter so kreativ bleiben würde, könnte er eines Tages zu den ganz Großen seiner Zunft gehören.

      Dave Brody, der Junge

      Seine Mutter war zweimal in eine Suchtklinik eingewiesen worden, als sich ihr Problem nicht mehr unter den Teppich kehren ließ. Bei einem Einkauf war sie offensichtlich volltrunken zusammengebrochen und vom Rettungsdienst ins Krankenhaus gebracht worden. In ihrem Blut war ein Alkoholgehalt von 3,2 Promille festgestellt worden. Der Arzt hatte Richard Brody klipp und klar erklärt, dass seine Frau dabei wäre, sich in das Grab zu trinken. Eine Ultraschalluntersuchung hätte zudem ergeben, dass sowohl Leber als auch Bauchspeicheldrüse irreversibel geschädigt wären, und es letztlich nur eine Frage der Zeit wäre, bis sie sterben würde. Selbst bei einem sofortigen und absolutem Alkoholverzicht würde es nur noch für einen kurzen Aufschub des Unabänderlichen reichen, der Zug wäre längst schon abgefahren. Ob er, Richard Brody, denn gar nichts vom Problem seiner Frau mitbekommen hätte, hatte der Arzt noch wissen wollen. Doch hatte er zugegeben, aber er wäre gar nicht mehr zu ihr vorgedrungen, sie wäre wie verschlossen gewesen. Dann hätte er eben professionelle Hilfe holen müssen war der Arzt laut geworden, aber vermutlich wäre der heile Schein wichtiger gewesen, wie er es einschätzen würde.

      Richard Brody hatte die langen Jahre seit dem Ausbruch der Suchtkrankheit seiner Frau ständig das Gefühl gehabt, mit den Angelegenheiten seines Lebens überfordert zu sein. Anfangs hatte sich alles so glücklich gefügt, sie liebten sich, er kam in seinem Job voran, dann wurden die Kinder geboren. Als er die ersten Anzeichen des Alkoholismus bei Alice bemerkt hatte war er der Überzeugung gewesen, dass sie einfach mit ihrer Rolle als Mutter und Hausfrau unzufrieden war. Er versuchte sie zu bewegen sich im Ort irgendwie ehrenamtlich zu engagieren, so dass sie vielleicht eine sinnvolle Aufgabe finden könnte, die sie mit Gleichgesinnten zusammen bewältigen könnte. Aber zu dieser Zeit war seine Frau bereits in einen Abwärtsstrudel aus Langeweile, Unterforderung und einer beginnenden Depression gefangen. Selbst wenn er es richtig gewollt hätte, er hätte ihr niemals richtig helfen können. Stattdessen hatte er die Augen zugemacht, und die Dinge einfach laufen lassen.

      Dave Brody würde es seinem Vater nie verzeihen können, dass er aus falscher Scham und Angst vor einer schlechten öffentlichen Meinung nicht gehandelt hatte. Er selbst erlebte ständige Sticheleien in der Schule und wusste auch nicht, wie er sich dagegen wehren sollte. Er war aber zu dieser Zeit gerade einmal zehn Jahre alt gewesen, sein Vater aber ein erwachsener Mann, von dem man Tätigwerden verlangen konnte.

      2004 war Alice Brody an Leberzirrhose gestorben, und danach war ihr Mann zusammengebrochen. Er wusste wohl sehr gut, dass seine Schuld an dem Drama hoch war. Dave wurde in die Rolle des Familienoberhauptes gedrängt, da sein Vater nur noch apathisch reagierte, aber wenigstens noch seinem Job nachging, so dass Geld glücklicherweise kein Problem war. Dave richtete alle Aufmerksamkeit auf seine jüngere Schwester Lea, um diese vor bösartigen Meinungen von außen zu bewahren, und er entzog sie dem Einfluss seines Vaters immer mehr. Mahlzeiten nahm er mit ihr zusammen ein, sein Vater musste allein essen. Er betreute sie in schulischen Dingen, ging mit ihr Kleidung kaufen, redete mit ihr. Sein Vater war nur noch Luft für ihn.

      Richard Brody war als Bezirksleiter eines Baustoffhändlers zu einem großen Teil seiner Arbeitszeit bei seinen Kunden vor Ort. Das hatte für ihn immer ein Reiz dieses Jobs ausgemacht: im Büro erarbeitete er die Verkaufsplanungen und rechnete die Zahlen durch, aber dann ging er mit dem Firmenwagen auf die Reise. Selbstverständlich ließ er sich diese Touren von seinen Vorgesetzten absegnen. Was er aber in welcher Zeit schaffte, ob er tatsächlich