Stefan Lage

Mit Gudrun nach Göteborg


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Sortierens, Begutachtens, Verwerfens und wieder Einpackens. Ich hatte zwar eine ungefähre Vorstellung davon, was ich alles unbedingt für eine Radreise mitzunehmen hätte, allerdings war mir nicht klar, wie wenig von diesen lebensnotwendigen Dingen in ein paar Fahrradtaschen passt. Nachdem ich drauf und dran gewesen war, von jedem Paar Socken nur eine Socke mitzunehmen, wurde mir klar, dass ich professionelle Hilfe beim Packen brauchte. Leider kenne ich keinen Fahrradtaschenpackprofi, deshalb habe ich jetzt jede Menge unnützes Zeug in meinen Taschen und das Fahrradreparaturwerkzeug liegt auf der Kommode, weil es wirklich unsinnig schwer ist.

      Vor mir liegt das ultimative Reiseabenteuer und ich kann nur hoffen, auch ohne Gesangbuch (und ohne Werkzeug) durch die weite Welt zu kommen. Genau darum stehe ich nämlich hier: Der Plan, der in über 50 Jahren in mir gereift ist, trägt nun endlich Früchte. Eine große, weltumspannende, entbehrungsreiche, unglaublich lange und unglaublich gefährliche, wenn auch möglicherweise unglaublich schöne Reise in unbekannte Länder und verborgene Welten liegt vor mir.

      Wobei, das ist im Überschwang der Begeisterung vielleicht ein ganz klein wenig übertrieben. Es könnte sein, dass der Plan nicht die ganzen 50 Jahre in mir gereift ist, sondern in den letzten zwei Wochen eine Art Blitzkeimung nebst Reife und Ernte durchgemacht hat. Entbehrungsreich ist auch nicht exakt das, was ich im Sinne habe, sondern mehr so eine Art Gegenteil davon. Mit Zelt und Isomatte bei Wasser und Brot – das mag sich zwar aufregend und kernig anhören, für mich klingt es nach verbesserungsfähigen Haftbedingungen. Und weltumspannend – naja – was heißt schon weltumspannend? Da wird ja allgemein auch zu viel hineingedeutelt. Ich meine, so viele Unterschiede wird es da schon nicht geben, also dürfte ein Teil der Welt, ein Ausschnitt sozusagen, ja auch seinen Zweck erfüllen. Oder, um es vereinfacht auszudrücken: Ich habe vor einigen Tage beschlossen, mal eine Woche Rad zu fahren.

      Meinen ursprünglichen Zeitplan - ca. ein Jahr mit Luft nach oben – habe ich nach einer Testfahrt im heimischen Kottenforst vorsichtshalber etwas zusammen gestutzt. Deshalb und weil mein Chef meine Zeitplanung zwar interessant, aber nicht genehmigungsfähig fand, verbleibt mir nun, alles in allem gerechnet, noch eine gute Woche für mein großes Reiseabenteuer. Für die weltumspannende Variante würde meiner Schätzung nach eine Woche nicht ganz ausreichen, deshalb ist es klar, dass ich mich Entfernungsmäßig etwas einschränken muss. Logische Konsequenz: Schweden. Schweden ist nach meiner Meinung ein Land, das sich geradezu anbietet, von einem enthusiastischen, wenn auch zugegebenermaßen leicht untertalentiertem Radfahrer wie mir erkundet zu werden. Man denke nur an die einsamen Landstraßen und an die liebenswerten Menschen, die alle von Astrid Lindgren beseelt und Königin Silvia inspiriert sind. Zwar ist mir Schweden entgegen meines Planes nicht völlig unbekannt, aber andererseits muss das ja auch kein Nachteil sein. Zumal ich zufällig gerade ein ganz ausgezeichnetes Schwedisch an der Volkshochschule erlernt habe. Meine ich. Wie ich später erkenne, sind meine Schwedischkenntnisse in einigen Details dann doch noch verfeinerungswürdig. So spricht der Schwede an sich schon ein sehr schönes Schwedisch, mit dem von mir gelernten Volkshochschulschwedisch kann es dann aber dann doch nicht mithalten. Das führt dazu, dass ich prinzipiell zwar ein ausgezeichnetes Schwedisch spreche und auch verstehe, nur eben nicht das in Schweden gesprochene.

      Aber um noch einmal auf den Beginn meiner Reise, also den Bonner Hauptbahnhof, zurück zu kommen: Wenn das ganze Projekt sich durchziehen lassen würde, ohne auf dem Bonner Hauptbahnhof herum zu stehen, dann wäre mir das auch recht. Bestimmt wäre es sehr schön, direkt von Bonn aus nach Schweden zu fahren, vor der Haustür aufs Rad steigen sozusagen und los geht die wilde Fahrt. Da es sich für mich aber noch viel schöner anhört, das erste Stück, sagen wir mal die ersten 600 Kilometer, mit der Bahn zu fahren, stehe ich nun auf dem Bahnhof und warte auf den Zug, der mich nach Norden, also irgendwie Schwedenwärts, bringen soll. Da eine Radreise ohne Rad wenig Sinn macht, muss mein Rad logischerweise mit, und da ein ICE logischerweise keine Räder mitnimmt, warte ich auf den Bummelzug nach Hamburg. (Das mit dem ICE und dem Nichtmitnehmen von Fahrädern entspringt einer speziellen Deutsche-Bahn-Logik, aber man hat mir versichert, es wäre logisch. Also schreibe ich es hier auch so hin.)

      Ich habe wie ein richtig ordentlicher Fahrgastmensch die Wagenstandsanzeige studiert und schiebe mit Gudrun ab, hinaus aus der Bahnhofshalle und ans Ende des Bahnsteiges. Gudrun ist natürlich mein Fahrrad. Dass ich Gudrun schiebe, hat natürlich auch seinen Grund, denn normalerweise fährt man ja auf seinem Fahrrad und das tue ich auch normalerweise. Heute hat Gudrun jedoch einen ihrer bockigen Tage, und da ist es besser, man schiebt sie ein bisschen.

      Ich stehe hier draußen, am äußersten Ende des Bahnsteigs, weil hier das Fahrradabteil halten wird. Sagt die Bahn. Und die, so denke ich, müsste es ja eigentlich wissen. Schließlich fährt die jeden Tag hier lang, da schleifen sich solche Dinge doch irgendwann ein.

      Also kommt der Zug. „De Zoch kütt!“ brülle ich begeistert, doch bis auf ein paar hoffnungsvolle „Kamelle?“ Rufe erziele ich keine große Resonanz. Und rauscht an mir vorbei. „Yeah Baby“ rufe ich „zeig mir dein Fahrradabteil!“ Und grad als ich denke, dass nun aber nicht mehr so richtig viel Zug übrig ist, knatschen einige empörte Bremsen auf, in einer schrill quitschenden, Nerven zerfasernden und Lebenszeit verkürzenden Art, wie es nur empörte Zugbremsen können, und äußerst widerwillig kommt de Zoch nun doch noch zum Stehen. Wo ich stehe, ist Fahrradabteil.

      Naja, fast jedenfalls. Die paar hundert Meter wollen wir mal als moderate Unschärfe gelten lassen. Also Gudrun wieder untern Arm und im Laufschritt zum richtigen Wagen. Der Zug muss schließlich weiter, wie mir ein ungeduldiger Schaffner deutlich signalisiert. Ich muss auch weiter, insofern passt es ja. Ich wuchte Gudrun die meterhohen Stufen zum speziell für Radfahrer erbauten Fahrradabteil hoch. Für Mountainbiker mag das eine Sportliche Herausforderung sein, für mich und Gudrun fühlt es sich wie eine Erstbesteigung des Drachenfelses ohne Steigeisen und Seil an. Leider haben nämlich weder ich noch die Deutsche Bahn bedacht, dass Gudrun normalerweise nicht mit 2 Packtaschen und 45 Kilo Gepäck am Hinterteil beladen ist. Gudrun und ich, wir legen uns erstmal lang auf den Bahnsteig und überdenken unsere Situation von vorn.

      Diese sieht nach erster Analyse so aus: Ich zerre wie wild am Lenker und Gudrun sitzt wie ein störrischer Esel mit ihrem fettem Hintern auf dem Bahnsteig und rührt sich nicht von der Stelle. Das sieht mir nach einer klassischen Patt Situation aus, vielleicht mit einem leichten Stellungsnachteil meinerseits. Aus dem Fahrradabteil schauen mich mittlerweile ein paar Dutzend Kollegen an. Also jetzt nicht Kollegen von der Arbeit (was auch eine leicht gruselige Vorstellung wäre. Ich fahre in den Urlaub, und in der Bahn sitzen ein paar dutzend Kollegen! Mich gruselt es ein bisschen, aber nur ein bisschen, dann fällt mir wieder ein, dass sich das alles gerade nur in meinem Kopf abspielt und ich jetzt mal in die Gänge kommen muss.)

      Mit Kollegen meine ich selbstredend Radfahrer, so welche wie ich. Die ihr Fahrrad in die Deutsche Bahn gequetscht haben und dann irgendwo auf große Fahrt gehen. Also fahren. Nachdem sie mit der Bahn gefahren sind. Uns verknüpft ja jetzt ein gemeinsames Schicksal, ein Band, das uns zu Gefährten, ja, zu Kollegen macht. So denke ich. Die Kollegen drinnen im Zug denken fast genauso, nur mehr so in die Richtung „Hier ist alles voll. Sie können hier nicht mehr mitfahren“. Genau genommen denken sie das nicht nur, sie sagen es auch. Ja, wir Radfahrer sind schon eine lustige Bande!

      Schön, denke ich, sind wir also wieder beim „Sie“. Kein Problem, unter Kollegen. Trotzdem will ich mitfahren und was ich will, das kann ich auch. Denke ich. Außerdem habe ich Platzreservierung und dann kann ich allemal. Ich rappel ich mich auf und schaffe es, Gudruns Vorderrad so weit anzuwuchten, das ich es auf die oberste Stufe aufplumpsen lassen kann. Dann zerre ich den ganzen Rest die nächsten Stufen hinauf, wobei es einige leicht beunruhigende Geräusche gibt, die ich jedoch mannhaft ignoriere. Und schon bin ich drin. Es stellt sich heraus, dass einige der Geräusche nicht durch Gudrun, sondern offenbar durch meinen vom Radfahren erst noch zu stählenden Körper verursacht waren. Ich kugel meine Schulter wieder in die vorgesehene Position und suche meinen Stellplatz. Dort liegt allerdings ein älterer Herr in Neongelb mit Pinkapplikationen und bewacht sein enorm schickes Mountainbike. „Entschuldigung“ frage ich den Herrn, den ich für den Mut bewundere, sich in ein Outfit zu zwängen, welches offensichtlich für seine Enkeltochter gedacht war. „Ich würde gerne mein Fahrrad hier abstellen.“

      Der