Stefan Lage

Mit Gudrun nach Göteborg


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möglich, denke ich. Gudrun drängelt ein bisschen, ich stupse mal versuchsweise ihren Vorderreifen gegen den Menschen. „He! Vorsichtig!“ Jetzt meine ich, so etwas wie sanfte Empörung heraus zu hören. „Das ist ein Shimano-Anzug!“ „Ist wohl nicht so haltbar wie eine richtige Hose?“ frage ich verständnisvoll und schupse noch ein bisschen nach. Der Herr ist eingeschnappt. „Mit dem war ich schon am Nordkap und in Neuseeland!“ „Ach so“ sage ich teilnahmsvoll „Naja, da leiden diese billigen Kunststoffe natürlich, erst die Kälte und dann die Hitze. Wird da schon etwas porös, oder“ Ich zeige auf die Stelle, wo Gudruns Vorderrad deutliche Abriebspuren hinterlassen hat und bin stolz auf mein Mitgefühl. Empathie, das ist es nämlich, was uns Radler auszeichnet. Wie eine große Familie. „Arschloch!“ murmelt mein neuer Freund und krabbelt ein Stück beiseite. Kommunikation, denke ich mir, Kommunikation öffnet eben viele Tore.

      Gudrun ist gut versorgt in einer ca. 2 Meter hohen Halterung untergebracht und macht einen zufriedenen Eindruck. Zu der seltsamen, von der Deutschen Bahn erfunden Unterbringungseinrichtung, die angeblich für Fahrräder gedacht ist, möchte ich an dieser Stelle eigentlich gerne etwas sagen. Nur, was soll man zu so einer Mann und Material sinnlos folternden Vorrichtung, welche die Bahn euphorisch „Fahrradhalterung“ nennt, eigentlich sagen? Es ist wie so oft im Leben – bei den wirklich traurigen Dingen fehlen einem die Worte. Ich sage: Anschauen und selber urteilen. Beziehungsweise. verurteilen.

      Ich beginne damit, Satteltaschen, Lenkertasche, Gepäckträgertasche, Pedaltaschen und Taschenhilfstaschen mittels ihrer vielfältigen und einfallsreichen Befestigungsapparaturen abzubauen. Da ich alle diese Taschen erst vor 20 Minuten korrekt gemäß Bedienungsanleitung an den zahlreichen Rahmenteilen meines Rades befestigt habe – was zugegebenermaßen geringfügig länger als 20 Minuten in Anspruch genommen hat – fällt der Abbau doch bedeutend leichter. In meinem Überschwang baue ich gleich noch ein oder zwei Teile von benachbarten Rädern mit ab. Ein Kurbelartiges Gebilde mit seltsamen Drähten kann ich nicht gebrauchen und baue es irgendwo wieder an, während das kleine Gerät mit den vielen Anzeigen und Blinklichtern eine beruhigende Wirkung auf mich ausübt und ich es deshalb behalte. Stressabbau ist ja ein wesentlicher Grund für meine Reise und etwas mit beruhigender Wirkung kann deshalb wohl nichts schaden.

      Bepackt wie der Sherpa eines Mount Everest Touristen mit ebenso überentwickelten finanziellen Möglichkeiten wie unterentwickelten bergsteigerischen Talenten mache ich mich auf den Weg zu meinem Sitzplatz. Ich habe nämlich nicht nur den Stallplatz für Gudrun reserviert, nein, auch für mich war mir das Beste gerade gut genug. Ich habe Sitzplatzreservierung. Eigenartig nur, das die Nummern auf meiner Reservierung irgendwie gar nicht so ähnlich aussehen, wie die auf Gudruns Ticket. Sollte ich etwa in einem anderen Wagen platziert sein, fern von Gudrun? Haha, denke ich, was für ein blöder Gedanke! Auf so einen Gedanken würde ja nun nicht einmal die für ihren zuweilen recht schrägen Humor bekannte Deutsche Bahn kommen. Ich lasse also beruhigt die armen Seelen hinter mir, die sich mit Seilen, Ketten und Natodraht an ihre Räder gefesselt haben und wild entschlossen scheinen, die nächsten paar Tage auf Eisenbahnblech zu campieren.

      Ich hingegen marschiere guten Mutes auf die Tür zu, die den Weg zu meinem Platz für die nächsten Stunden Zugfahrt verbirgt und drücke frohgelaunt den fulminanten Vorkriegstüröffner. Die Tür macht erstmal nichts. Dann rührt sich irgendwo tief in ihrem Innern ein längst vergessen geglaubter Mechanismus aus Kalkablagerungen und rostigen Relais. „Zuuaaaawoooosch“ macht die Tür mit spürbar äußerster Kraftanstrengung und scheint somit zufrieden. Ich bewundere die Leistung in gebührender Weise, kann aber fairerweise nicht umhin zu bemerken, das sich ansonsten rein gar nichts getan oder bewegt hat. Ich drücke nochmal. „Züüüaarghwooooosch!“ quält sich die Tür ab. Mehr tut sich allerdings immer noch nicht. „Dreiiiimaaaal muss man drücken!“ ruft hinter mir ein hilfreicher Mitreisender. Aha, denke ich, kein Fehler, sondern ein bekanntes Verhalten. Ich drücke gehorsamst ein drittes Mal. „Zuuuüüüaaaa-zuuuoooohhhhrg-zwooooosch“ rülpst die Tür in ihren Todeszuckungen heraus und langsam, ganz langsam schiebt sich ein winziger Spalt auf, in den ich entschlossen erst meinen Fuß und dann meinen Teebecher klemme. Noch ein energischer Ruck in die richtige Richtung und die Tür gibt sich endgültig geschlagen. Ich schleife mich und mein Gepäck in den nächsten Waggon.

      Seltsam, dass mir gerade jetzt Dantes Göttliche Komödie in den Sinn kommt. Ich lasse zwar nicht, wie von Dante empfohlen, alle Hoffnung fahren, aber mir schwant, dass das jetzt nicht einfach wird. Vor mir erstreckt sich ein brodelndes Inferno aus planlos herumirrenden Rentnern, herrenlosen Koffern, kichernden Teenies, platzenden Reisetaschen, entnervten Müttern und überforderten Vätern, herabstürzenden Rucksäcken und kreischenden Kleinkindern, quer liegenden Krückstöcken und Alkoholleichen, stoischen Schaffnern und lustigen Kegelclubdamen. Jeder Anwesende scheint in eine eigene, völlig unterschiedliche Richtung zu streben, was als Ergebnis einen unauflösbaren Stillstand hervorbringt. Das niemand ernstlich zu Schaden kommt, liegt nur daran, dass der verfügbare physikalische Raum dafür nicht ausreicht.

      Worauf all diese Menschen mit ihren zahllosen Gepäckstücken, die hilflos im Gang herumstolpern, gerade noch gewartet haben, das ist jemand, der mit riesigen Satteltaschen, Rücksäcken und zusätzlichen Stoffbeuteln, der genau durch diesen Gang hindurchspazieren möchte. Also ich.

      Mit den Stoffbeuteln ist es übrigens so eine merkwürdige Sache, weil ich nämlich genau weiß, dass es beim ursprünglichen Packen noch gar keine Stoffbeutel gegeben hat. Theoretisch ist alles, was ich auf meiner Reise brauche oder zu brauchen glaube oder einfach ungern alleine ohne mich zu Hause zurücklassen möchte, schon längst sicher und ordentlich in Satteltaschen und Rucksack verstaut. Nur ein allerletztes, winziges Detail, eine Kleinigkeit, eigentlich unbedeutend, aber wer weiß, vielleicht gibt es eine Situation, in der man genau diese Kleinigkeit, also diese klitzekleine Packung Pfefferminzbonbons gerade gerne lutschen möchte und Platz nimmt sie eh nicht weg. Dafür die Taschen wieder aufmachen lohnt sich nicht, das kann man auch schnell in einen Stoffbeutel stecken, den kann man noch in der Hand tragen, ist praktisch wie Luft, so wenig. Und noch ein kleiner Apfel, wo die Stofftasche jetzt eh schon da ist. Und dann stehe ich in der Bahn mit zwei randvollen Stoffbeuteln.

      Dass mir dabei orientierungslos herumirrende Menschen ohne besondere Richtungspräferenzen entgegenkommen, erweist sich auch nicht als besonders hilfreich. Ich rufe abwechselnd „‘tschuldigung!“ und „sorry!“ in keine bestimmte Richtung, versuche es probeweise mal mit dem freundlichen Seglergruß „Raum!“ und beginne mit dem todesmutigen Versuch, das gegenüberliegende Ende des Wagens zu erreichen und dabei mindestens 50% meines Reisgepäcks ohne dauerhafte Schäden mit über die Ziellinie zu schleifen. Lustige Idee.

      Um einige unwichtigere Details meiner Reiseausrüstung ärmer, dafür um einige neue Erkenntnisse bezüglich der Robustheit älterer Damen mit Rollkoffer reicher schleppe ich mich und die Überreste meines Allwetter-Himalaya-Tiefsee-Offroad-Biking Equipments in den nächsten Waggon. Nun aber zu meinem Sitzplatz! Ich atme tief durch und nötige die Schiebetür vor mir zu dem mir bereits bekannten zutiefst entrüstetem Keuchhusten. Welch überraschende Wendung der physikalischen Gesetze! Dieser Wagen ist nicht nur noch voller als der vorherige, er bietet offenbar im Inneren mehr Raum, als er von außen umschließt. Zumindest scheint dies die Auffassung der optimistischen Personen zu sein, die von allen nur denkbaren Richtungen hineinströmen, um sich ein kuscheliges Plätzchen zu suchen. (Einstein sagt hierzu, dass in einem Eisenbahnwaggon genau zwei Richtungen zur Verfügung stehen, aus denen jemand strömen kann. Das mag sein, aber in einem Waggon der Deutschen Bahn zur Hauptreisezeit werden schließlich noch ganz andere Naturgesetze außer Kraft gesetzt.)

      Ich will ja nur hindurch, also meine ich, es wäre es doch nur zu verständlich, wenn man gemeinsam etwas an den Rändern komprimieren würde, um das zu ermöglichen. Ich teile diese meine Meinung der herumvagabundierenden Menge mit, jedoch wird die Meinung ebenso wenig geteilt wie die Menge. Ich werfe einige Taschen ungefähr in meine geplante Marschrichtung und beginne, auf den Köpfen der entfesselten Meute hinterher zu klettern.

      Nur wenige Haltestationen und etliche überfüllte Waggons später erreiche ich den Speisewagen. Zwei Gruppen mit lustigen T-Shirts angezogene wild verzweifelt Spaß suchender Jungesellinnen-Abschieds-Damen sorgen hier für Stimmung. Die T-Shirts sind je nach Gruppenzugehörigkeit in altrosa