Stefan Lage

Mit Gudrun nach Göteborg


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bisschen enttäuschend finde. Ich denke ein wenig über professionelle Radfahrer nach, zu denen ich jetzt ja gewissermaßen zähle. Auch wenn meine Tour zugebenermaßen noch in der Anfangsphase steckt, fühle ich mich dem gewöhnlichen Autotouristen doch schon recht weit entfremdet. Ich meine, Autofahrer – das ist doch eine ganz andere Welt, eine furchtbar touristische Welt, die ich schon vor Stunden verlassen habe. Echte Reisende fahren mit dem Rad und entdecken die Natur und die Landschaft und kommen in Kontakt zu den Menschen und sind deshalb keine Touristen. Es sind freundliche Besucher, interessiert an Leuten und Gebräuchen, jedoch keinesfalls aufdringlich, sondern stets angenehm zurückhaltend. Sie lernen vorab die Sprache, kaufen im örtlichen Kaufmannsladen ein und bemalen ihr Fahrrad in den Landesfarben. Fast schon Einheimische, könnte man sagen. So wie ich. Autofahrer hingegen – ach, die sind mit uns Radfahrern ja überhaupt nicht zu vergleichen. Wir sind schon ein besonderes Völkchen, wir Radfahrer, denke ich. Und doch ganz natürlich geblieben, einfach und bescheiden.

      Solchermaßen innerlich gestärkt mache ich mich daran, mal ein wenig durchs Schiff zu flanieren. Großmütig denke ich daran, dass ja nicht jeder als Radfahrer geboren werden kann und manch Autofahrer vielleicht gar nichts dafür kann, dass er es halt nur bis zum Autofahrer gebracht hat. Natürlich werden mich alle sofort als Radfahrer erkennen, da sie mich ja mit bewundernden und etwas neidischen Blicken beobachtet haben, wie ich forsch und doch elegant aufs Schiff gebyket kam. Geentert, sagen wir Seeleute auch, aber ich will die Landratten hier nicht unnötig mit Fachchinesisch verwirren.

      Leider scheint es den restlichen Passagieren aber komplett gleichgültig zu sein, dass sie einen waschechten Radfahrer an Bord haben. Sind alle viel zu viel mit sich selbst beschäftigt, stelle ich fest und mich selbst an die Reling, von wo aus ich einen, wie ich hoffe, kenntnisreich-weltbefahrenen und deshalb leicht gelangweilten Blick auf die Weiten des Ozeans werfe. Wobei gelangweilt es ganz gut trifft, denn viel zu gucken gibt es ja eigentlich nicht auf so einem Ozean. Wasser halt, und davon viel. Selbst in der realistisch betrachtet doch überschaubar kleinen Ostsee. Wenn man sich die Ostsee auf der Karte ansieht, sollte man doch meinen, dass bei den paar Zentimetern Wasser Schweden längst zu sehen sein müsste. Ist es aber nicht. Wegen der Erdkrümmung. Die Erdkrümmung sorgt nämlich dafür, das Dinge, die eigentlich so furchtbar weit weg gar nicht sind, trotzdem nicht gesehen werden können. Es liegt daran, dass die Schwerkraft das Wasser, weil es schwer ist, nach unten zieht, während sie dem Licht, welches viel leichter ist, nichts anhaben kann. Da die Augen nun aber stets dem Licht folgen und von Wasser schnell gelangweilt werden, verschwindet das Wasser unterhalb des Blickes der Schwerkraft folgend und der Blick verliert sich mit dem Licht in der unendlichen Weite des Ozeans. Abends, wenn wenig Licht ist, geht dass logischerweise noch schneller. Es ist Abend, meine Augen langweilen sich in der unendlichen Weite und ich geh was essen.

      Skandinavisches Buffet. Das ist jetzt aber mal was für die wirklich Hungrigen. Da stapeln sich all die leckeren Dinge, die man in Skandinavien nie und nimmer serviert bekommt. Hähnchen und Würstchen und Kartoffelgratin und Nudeln und Hackbällchen und Pommes Frites und Schweinebraten und dunkle Soße und Brot und dreierlei Suppen und viererlei Salate und allerlei Gemüse und was weiß ich nicht alles. Esse ich natürlich alles nicht. Jetzt kommt nämlich der Geheimtipp (der eigentlich nun kein Geheimtipp mehr ist, weil ich ihn in einem massenhaft verbreiteten Standardwerk enthülle): Fisch. Beim Skandinavischen Buffet niemals die Sattmacher nehmen, sondern an Fisch halten. Fisch, Garnelen, Krabben, Krebse – zu Fisch zählt alles, was aus dem Wasser kommt. Deshalb nämlich, weil a) Fisch am teuersten ist und man will ja was haben für sein Geld und b) Fisch bekanntlich nicht satt macht. Kann man also viel mehr von essen, was wieder a) Geld spart. Ich häufe mir einen Teller schön voll mit gekochtem Lachs und Meerrettichsahne. Sehr lecker! Und dann bin ich satt. Komisch.

      Ich geh also in meine Kabine. (oder müsste es heißen „auf meine Kabine“? Man sagt ja auch „ich geh mal auf mein Zimmer“. Warum eigentlich? Auf dem Zimmer wäre ja eigentlich über dem Zimmer, was einem nichts nützen würde, wenn man hinein will, weil die Tür ja nicht über dem Zimmer sondern an der Seite angebracht ist. Man wäre dann vielleicht beim Nachbarn von oben, der sicher nett ist, aber wäre er einverstanden, wenn man sich auf seinen Fußboden legt, um auf seinem Zimmer zu sein? Schwierig. Und wohin ginge der Nachbar, wenn er auf sein Zimmer wollte? Angenommen, er wohnt direkt unterm Dach. Müsste er vielleicht sagen „ich gehe unter mein Zimmer“? Dann wäre er bei mir und ich bei ihm. Auch eine Art Patt-Situation). In meiner Kabine lege ich mich schlafen, wach auf und bin in Schweden. Schlafen spart Zeit!

      Apropos sparen – das Frühstück spare ich mir auch, nach einem Blick in das Frühstücksrestaurant. Ein infernalischer Radau wie vor den Toren von Jericho vermittelt bereits kurz nach Verlassen der Kabine einen akustischen Eindruck von der Lage am Buffet, der dann vom visuellen Eindruck noch übertroffen wird. Ungefähr 500 Kinder außer Rand und Band dürfen das erste Mal in ihrem noch kurzen Leben ein Frühstück ganz alleine für sich alleine zusammenstellen und sich dabei frei im Raum bewegen. Jedes einzelne scheint zu glauben, dass dies auch das letzte Mal in seinem Leben sein wird und rast wie angestochen laut schreiend mit seinem Tellerchen von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten. Brötchen! Nutella! Würstchen! Noch mehr Nutella! Das Paradies ist eingetroffen und die Eltern würden es niemals bemerken, wenn man sie nicht sofort und lautstark und immer wieder darauf aufmerksam machen würde. Die Eltern wirken hingegen nicht alle und nicht so vollständig begeistert. Eher müde, entnervt und untercoffeiniert. Wie gut, denke ich, dass ich nie so ein Kind war. Oder überhaupt je eines war.

      Ich schleife also mein reichliches Gepäck zum Fahrstuhl, der aufgrund der kurzen, aber immer noch andauernden Frühstückzeit ausnahmsweise mal nicht überfüllt ist und rausche gen Meeresboden. Beziehungsweise Schiffsboden, aber hier, in einem kleinen engen Stahlkasten innerhalb eines sehr viel größeren Stahlkastens fühlt es sich verdammt nach Meeresboden an. Als ich das Fahrzeugdeck betrete, wird es nur unwesentlich besser. Eigentlich wird es schlechter. Hier unten gibt es genau so wenig Fenster wie im Fahrstuhl, dazu kommt aber ein Ohrenbetäubendes Spektakel, den das offenbar waidwunde Schiff dem Untergang geweiht von sich gibt. Die Motoren blubbern und spucken und röcheln auf eine zutiefst unmotorenmäßige Art, die Stahlwände ächzen und krachen und jaulen, als ob sie sich an ultimativen Eisbergen abarbeiten würden, die Wanten biegen und brechen und kalfatern wie eine Streichholzschachtel im eisigen Polarsturm, die Winschen klabautern im Takt der Walküren und überhaupt ist alles recht ungewöhnlich. Gut, ich habe keine ganz genaue Vorstellung davon, was Winschen und Wanten sind und natürlich weiß ich, dass man kalfatern mit arbeitsunwilligen Seeleuten macht – aber das Schiff hört sich an, ich schwöre, als wäre es gerade aus Versehen in eine riesige Schrottpresse gefahren und hätte seinen Fehler etwas zu spät bemerkt. Kann passieren, sollte man generell auch nicht zu hoch hängen, aber, so denke ich, blöderweise bin ausgerechnet in diesem Moment ich an Bord. Was die Angelegenheit irgendwie emotional werden lässt. Ich bin zweifellos ein Mann von stabiler Gelassenheit und geradezu sprichwörtlicher Angstresistenz und keinesfalls schnell zu beunruhigen. Aber gerade als ich laut schreiend „Wir werden alle sterben! Wir werden alle sterben!“ von Autotür zu Autotür rase und diese wahllos öffne oder schließe, je nach vorherigem Zustand, da öffnet sich die Bugklappe und ich sehe vor mir den Hafen von Trelleborg.

      Ich versuche, das Beste aus der Situation zu machen und gehe nochmal zu allen Autotüren, an die ich mich erinnern kann, halte mein Käppi in der Hand, deute demütige Verbeugungen an und rufe: „Danke! Danke vielmals! Wenn es Ihnen gefallen hat…“. Das bringt mir immerhin eine ganze Krone ein. Ist aber eine Norwegische, wie ich später an einem Kiosk feststelle.

      Radfahrer sind nun mal nicht fürs Meer gemacht und Räder schon gar nicht. Gudrun und ich verlassen den schlecht gelaunten Kahn an schlecht gelaunten Autofahrern vorbei, die seltsamerweise schon wieder damit beschäftigt zu sein scheinen, ihre aufgeregten und verängstigten Kinder zu beruhigen. Also mir böse Blicke hinterher zu werfen bringt da ja nun auch nichts, soviel könnte ich ihnen schon mal verraten. Ich lass es aber dann doch. Ich kann mich auch nicht um alles kümmern und habe jetzt sowieso ganz andere Pläne. Es gilt, ein Land zu erobern. Schweden!

      An dieser Stelle sollte ich vielleicht die sensibleren Gemüter beruhigen: Richtig erobern werde ich natürlich nicht, so mit Enterhaken und Glasperlen ausgerüstet – wobei, Glasperlen, da müsste ich mal nachsehen,