Klaus Bock

Morituri


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hat sie die Waffe von dem geerbt? Und kann so eine alte Pistole denn überhaupt noch funktionieren? Naja. Muss sie ja wohl, Herr Kommissar, haha … Das ist eigentlich das Einzige, was ich mir vorstellen kann, man hört ja so vieles, Herr Kommissar.“

      „Glaubst du ernsthaft, dass die uns verhören wollen..., werden?“

      „Keine Ahnung, vielleicht, eher wohl nicht, aber wir müssen damit rechnen. Du, ich weiß ja auch nicht mehr, als man aus den Krimis im Fernsehen von der Arbeit der Kripo sieht. Aber man darf die sicher nicht unterschätzen. Die werden ihre Wohnung durchsuchen, klar, vielleicht werden sie auch die Nachbarn befragen, mit wem sie verkehrt hat.“

      „Dann kommen sie auf uns?“

      „Auf uns? Warum? Eher auf den Laden, da war sie ja regelmäßig …“

      „Und dann auf uns, weil wir da auch immer sind?“

      „Warum – wir sind doch nur Kunden, man hat sich gesehen, man hat sich bei der einen oder anderen Beerdigung getroffen, man hat ihr schon mal das Essen gebracht, wenn es ihr schlecht ging, Herr Kommissar, also mal der Eine, mal die Andere. Man wusste natürlich um ihre Krankheit, man hatte ja denselben Arzt, aber man war nicht wirklich befreundet, in unserem Alter, Herr Kommissar, da knüpft man keine Freundschaften mehr, wissen Sie.“

      „Und wie ist sie zur Salvatorkirche gekommen?“

      „Keine Ahnung? Straßenbahn? U-Bahn? Sie hatte doch extra die abgestempelte Streifenkarte in der Tasche.“

      „Du meinst, die Bullen werden glauben, sie war ganz allein?“

      „Das will ich doch hoffen, Udo. Warum sollten sie nicht? War sie doch auch, völlig allein! Wer, der nicht sehr allein ist, macht denn so etwas – in dem Alter und so krank? Verzweiflungstat, reine Verzweiflungstat.“

      Der Laden

      München-Neuhausen. Zwischen Dachauer Straße, Leonrodstraße und Rotkreuzplatz. Das alte gewachsene Viertel wird zerschnitten vom breiten Graben der Landshuter Allee, die als Teil des Mittleren Ringes zu den meistbefahrenen Straßen Münchens gehört. Die Wunde, die dort für den Mittleren Ring von den damaligen Stadtvätern zur Olympiade 1972 gnadenlos durch den Stadtteil geschlagen wurde, ist bis heute nicht vernarbt. Und die Stadt ist immer noch stolz.

      Die Hübnerstraße beginnt an der Dom Pedro-Straße, endet am Ring und läuft auf der anderen Grabenseite als Ruffinistraße weiter; sie ist eine der ganz ruhigen Wohnstraßen im Quartier. An der Ecke Hübner-/Fa­saneriestraße befindet sich ein ungewöhnlicher Lebensmittelladen.

      Hier betreiben Frau Z. und Herr F. ein Lebensmittelgeschäft der etwas anderen Art: Für einen Tante-Emma-Laden ist er zu groß. Für einen Supermarkt ist er zu wenig „super“ und ist die Auswahl zu klein… Aber es menschelt hier. Denn hier kann man noch „anschreiben“ lassen. Hier herrscht in gewisser Weise “italienisches Flair“, denn zum Einkauf gehört hier auch unabdingbar der auch sehr bayerisch gesprochene „Ratsch“…

      Mittags holen sich die Alteingesessenen des Viertels – genauer gesagt, diejenigen von den Alten, die entweder sehr clever sind oder die, die nicht mehr „so können“ – einen Mittagstisch, den Frau Z. liebevoll zubereitet: Wichtig ist: Mittwoch gibt es immer Schweinebraten, Freitag immer Panfisch mit Bayerischem Kartoffelsalat – jeweils „auch“, denn jeden Tag bietet Frau Z. zwei oder drei warme Essen an. Das wichtigste neben dem günstigen Preis ist, dass es „selbstgekocht“ ist und auch so schmeckt!

      Am Montagmorgen verschickt Herr F. per Fax den Wochenessensplan; wer unter den Stammkunden über kein Fax verfügt, holt sich seine Kopie im Laden ab. Twitter und Facebook sind hier zwar nicht unbekannt – aber verpönt! Das macht nichts, denn die Jungen kommen ja eher nicht…

      Man kann auch Essenswünsche nennen, meist kocht Frau Z. das Wunschessen dann in der folgenden Woche. Täglich bis zehn Uhr muss man sich für „sein“ Essen angemeldet haben. Wer erst später anruft, muss nehmen, was es dann noch gibt. Die Portionen sind auf die Alten zugeschnittene „Seniorenteller“.

      Häufig kommen auch „der Architekt“, „der Herr Doktor“ oder die „Frau Rechtsanwalt“ - die bekommen etwas größere Portionen, und die müssen sich in der Schlange der Hungrigen, die gerade ihr Essen abholen wollen, auch nicht ganz hinten anstellen.

      Das heißt, das tun die zwar (man ist ja gut erzogen), aber meist werden sie von Frau. Z. freundlich-resolut nach vorne geholt, „weil“, sagt sie dann laut in die Runde, „die machen nämlich noch Bruttosozialprodukt!“. Und „Deshalb haben die es eilig!“

      Da gibt es kein Maulen und kein Murren, das wird eingesehen von den Alten – und überhaupt sind die froh, wenn es ein wenig länger dauert, denn dann ist mehr Zeit für den Ratsch…

      Nur wenn die Frau Plüschke mit ihrer lila Perücke kurz vor eins in den Laden kommt, um 50 Gramm Wurst („in dünnen Scheiben, die dicken schmecken nämlich nicht so…“) und 75 Gramm Käse („in dicken Scheiben, denn da‘ Kas‘ schmeckt dünn ja nicht“) und zwei „Gutteln“ (Bonbons) zu bestellen und dann nach dem Bezahlen und wenn sie schon drei Schritte vom Tresen weg ist, doch noch daran denkt, dass sie wieder vergessen hat, den Leberkäs für den Nachbarn („ganz dünn! Der mag das nur ganz dünn…“) mitzubringen und dann noch die tz von gestern und zwei Semmeln („aber nicht soo dunkel – haben sie keine helleren?“)… , dann murrt es in der Schlange, denn Frau Plüschke kommt immer – und in diesem Fall ist jenes „immer“ gemeint, das „jeden Tag“, also täglich, bedeutet – um Punkt zwölf Uhr fünfundfünfzig, genau dann, wenn Frau Z. eigentlich bald die eigene Mittagspause einläutet („man muss ja auch mal etwas essen…“) und wenn daher die Zeit drängt, dass die Kunden ihr Essen noch halbwegs warm mitbekommen.

      Nun ist Frau Plüschke schon ein sehr besonderer Kunde im Laden, der auch ansonsten Originale aufzuweisen weiß: Sie ist so um die Siebzig, groß – fast 180 cm wäre sie, wenn man ihren leichten Bechterew aufbiegen würde – und hager. Und sie durfte eine Nase ihr Eigen nennen, auf die jeder Adler neidisch wäre: Groß und in wildem Schwung gebogen. Ihr Blick war irgendwie stechend, unangenehm... Ihre Stimme war immer etwas zu laut und ihre Wortbeiträge meistens „für die Galerie“ gesprochen.

      Aber weil in dem Alter meist nicht mehr viele Alternativen bestehen, die überhaupt mit einem reden und weil die meisten Menschen im Alter – wenn sie allein leben müssen – etwas schrullig wurden, war sie trotz ihrer Eigenschaften ein gesuchter Gesprächspartner, denn sie hatte immer Zeit für einen Ratsch und wer mit ihr redete, erfuhr immer etwas – Neues, Interessantes, Klatsch und Tratsch aus und über die Nachbarschaft.

      Die lila Perücke war einmal hell gewesen, dann hatte sie versucht, sie selbst umzufärben („dafür muss man doch kein Geld zum Friseur tragen!“) – der Versuch war in einer Katastrophe geendet, die Perücke wurde nicht „nussbraun mit leichtem Rotstich“ (wie die Packung versprochen hatte), sondern giftgrün (DAS hatte die Packung nicht versprochen).

      Nach mehreren weiteren in die Hose gegangenen Versuchen, trug sie die Perücke nun eben lila. Die Rente erlaubte keine neue Zweitfrisur. Die war in der Zwischenzeit zu ihrem Markenzeichen geworden: Frau Plüschke mit den lila Haaren. Und niemand nahm die seltsame Farbe mehr wahr… das war eben die Plüschke!

      Vor Jahren war Frau Plüschke mit dem Bus durch Frankreich gefahren und war danach monatelang allen, die nicht schnell genug fortkamen, mit ihren Schwärmereien von „Fraankreisch“ auf die Nerven gegangen. Seitdem redete Herr F. sie – früher häufiger, in letzter Zeit eher selten – mit „Madame“ an, was sie jedes Mal sichtlich aufblühen ließ.

      Ab und zu kommen polnische Bauarbeiter in den Laden, die die Häuser in der Gegend um den Hübnerplatz renovieren. Die holen meist eine Leberkäs-Semmel oder ein Kümmelweckerl mit Schweinebraten (mit oder ohne Senf). Die gut belegten Semmeln gibt es nämlich an jedem Tag, und saure Gurken aus dem großen Glasl auch! Man verstand sich prima, die Bauarbeiten verstanden zwar kein Wort Bayrisch und Frau Z. und Herr F. naturgemäß kein Wort polnisch – aber Handzeichen taten es auch, und wer im Laden von Angesicht