Anna Katharine Green

Einer meiner Söhne


Скачать книгу

n>

       Einer meiner Söhne

       Anna Katharine Green

      Inhaltsverzeichnis

       Erstes Buch

       Zweites Buch

       Impressum

      Erstes Buch

      Erstes Kapitel.

      An einem rauhen Herbstabend ging ich schnellen Schrittes die Avenue hinauf, als ich an der Ecke der Fünfzigsten Straße plötzlich zum Stillstehen veranlaßt wurde. Eine Kinderstimme hatte mich von der Straßentreppe eines der schönen Häuser aus angerufen, an denen mein Weg mich vorüberführte.

      O lieber Herr! hörte ich ängstlich rufen, bitte, kommen Sie doch herein! Bitte, kommen Sie zu Großpapa! Er ist krank und braucht Sie!

      Ueberrascht, denn ich kannte keinen von den Bewohnern dieses und der Nachbarhäuser, sah ich mich um. In der offenen Tür stand die zitternde Gestalt eines kleinen Mädchens, dessen liebreizendes, aber aufgeregtes Antlitz von einer Fülle goldener Locken umrahmt war.

      Du irrst dich, liebes Kind! rief ich zu der Kleinen hinauf. Ich bin nicht der, für den du mich hältst. Ich kenne euer Haus gar nicht. Sage mir, wen du holen sollst, und wenn er hier in der Nähe ist, so will ich ihm sagen, daß er sofort zu deinem Großpapa gehen soll.

      Aber damit war sie nicht zufrieden. Sie lief die Treppe herunter, packte mich mit kindlichem Ungestüm am Arm und rief: Nein, nein! Dazu ist keine Zeit! Großpapa sagte mir, ich solle den ersten Mann hereinbringen, den ich vorübergehen sähe. Sie sind der erste Mann. Kommen Sie!

      Es lag etwas Eindringliches in ihrem Ton, und unwillkürlich gab ich ihrer Aufforderung nach und ließ mich von ihr nach der Treppe hinziehen. Aus der prunkvollen Ausstattung der Fassade konnte ich schließen, daß das Haus von einem sehr reichen Mann bewohnt war; ich fragte die Kleine:

      Wer ist dein Großpapa? Wenn er krank ist, so sind doch die Dienstboten da ...

      Aber weiter kam ich nicht; ungeduldig stampfte ihr kleiner Kinderfuß auf, und sie rief:

      Großpapa wartet niemals! – Damit zogen ihre Händchen mich die Stufen der Treppe hinauf und zur offenen Tür hinein. »Wenn Sie nicht schnell machen, wird er glauben, ich hätte nicht getan, was er mir befahl.«

      Wer hätte da nicht nachgegeben? Wie ich vom Eingang aus bemerkte, war das Treppenhaus mit verschwenderischer Raumentfaltung und mit großer Pracht angelegt. Die ganze Art der Einrichtung verriet sofort eine strenge Solidität und ungewöhnlichen Reichtum; so sonderbar das Erlebnis auch war, ich sah nichts dabei, was mich mit irgendwelchem Mißtrauen hätte erfüllen können. Ich trat also mit dem Mädchen in das Haus und machte die Tür hinter mir zu. Im Nu war das Kind durch die Halle gelaufen; vor einer Tür dicht an deren Ende blieb es stehen und rief mir zu:

      Hier! Hier!

      Ich habe mir schon manchmal die Frage vorgelegt, ob in meinem Aeußeren etwas besonders Vertraueneinflößendes liege. Das Vertrauen, womit mich die Kleine anrief, und ihr hübsches Bild in dem Lichtschein, der aus der geöffneten Tür des Zimmers herauskam, dies alles rührte mich und zog mich unwillkürlich an ihre Seite. Da hatte ich nun einen Anblick, der mich ihre ganze Angst begreifen ließ; ich verstand, warum sie einen ganz unbekannten Straßenpassanten herbeigerufen hatte.

      In der Mitte eines kleinen Zimmers, das ebenso schmucklos und einfach wie das Kontor eines Geschäftsmannes eingerichtet war, erblickte ich einen alten Herrn, der offenbar – auch meine unerfahrenen Augen erkannten dies – nicht bloß krank war, sondern sogar an der Schwelle des Todes stand.

      Etwas so Ernstliches hatte ich nicht erwartet; der Anblick regte mich auf, und ich wollte mich umwenden, um schnell Hilfe herbeizurufen; aber das Mädchen eilte an mir vorüber, umfaßte seines Großvaters Knie und sah mich mit einem so flehenden Blick an, daß ich's nicht übers Herz bringen konnte, sie mit dem Sterbenden allein zu lassen.

      Es wäre auch grausam von mir gewesen, wenn ich gegangen wäre. Selbst mir, der ich doch ein Mann bin, schnürte der Anblick des Kranken die Kehle zusammen. Obwohl dem Tode nahe, lag er nicht, sondern stand aufrecht da. An den großen Schreibtisch sich anklammernd, bot seine hochgewachsene Gestalt ein Bild seelischen und körperlichen Leidens, wie ich es nie zuvor gesehen hatte und wie es mir unvergeßlich in der Erinnerung bleiben wird. Die eine Hand hielt er gegen das Herz gepreßt, die andere klammerte sich mit ausgespreizten Fingern in verzweifelter Anstrengung an den Tisch an, und auf sie stützte sich das ganze Gewicht seines Körpers, so daß er nur schwankte, aber nicht fiel. Sein Blick war auf die Tür gerichtet, und als ich in das Zimmer eintrat, ging plötzlich ein Zittern durch die zusammensinkende Gestalt, die geballte Hand, die er gegen sein Herz gepreßt hielt, öffnete sich ein wenig, und ich bemerkte zwischen seinen Fingern einen zerknitterten Papierfetzen.

      Mich rührte der Anblick dieses augenscheinlich sonst starken und kräftigen Mannes, der jetzt so hilflos war, und ich murmelte einige bedauernde und aufmunternde Worte. Hierauf – in der Annahme, daß er mit seiner Enkelin allein im Hause sei – erkundigte ich mich, ob ich ihm einen Dienst erweisen könne.

      Er sah mit einem bedeutungsvollen Blick auf seine Hand hinunter; da er jedoch bemerkte, daß ich ihn nicht verstand, machte er eine übermenschliche Anstrengung und streckte diese Hand aus. Hierbei brachte er einige unzusammenhängende Worte hervor, die ich so auslegte, daß ich ihm den Zettel abnehmen möchte, den seine erstarrenden Finger nicht mehr loslassen konnten.

      Um ihm in seinen Todesnöten jeden in meiner Macht liegenden Beistand zu gewähren, tat ich, was er wünschte, und zog das Papier zwischen seinen Fingern hervor. Dabei bemerkte ich zweierlei: der Zettel war ein Teil eines Briefbogens, und er war zusammengefaltet.

      Was soll ich damit machen? fragte ich, indem ich mit einem Blick zugleich sein sich schnell mit einem trüben Schleier überziehendes Auge befragte.

      Er suchte mit einem schnellen Blick auf dem Tisch umher; dann ließ er sein Auge an einem bestimmten Punkt haften. Ich verstand ihn. Ich sollte den Zettel in einen Umschlag stecken.

      Ich zog einen Umschlag aus dem Gestell heraus, schob den Papierfetzen hinein und verschloß die Klappe. Dann befragte ich ihn mit einem lächelnden Blick, ob ich recht getan habe und was er weiter wünsche. Er antwortete mit einem Blick, in dem sich Dankbarkeit und Vertrauen so deutlich aussprachen, daß ich mich ganz beschämt fühlte, denn mein kleiner Dienst war doch nicht der Rede wert. Es lag etwas ganz Eigentümliches in jenem Blick, und ich wollte gerade fragen, welchen Namen ich auf den Umschlag schreiben solle, als es ihm mit größter Anstrengung gelang, ein paar schwache Worte zu flüstern.

      Ich hörte ihn sagen:

      Keinem ... keinem anderen Menschen ... nur –

      Gerade in diesem kritischen Augenblick, als der Name schon auf seinen Lippen schwebte, verließ ihn seine Kraft. Er bemühte sich, das Wort zu bilden, aber er brachte keinen Ton mehr hervor.

      Seine Verzweiflung machte einen furchtbaren Eindruck auf mich, und angstvoll suchte ich ihm zu Hilfe zu kommen, indem ich ihn fragte:

      Ist der Brief für Ihren Anwalt bestimmt? Und als er kein Zeichen machte, fuhr ich hastig fort: Für Ihren Arzt? Für Ihre Frau? Für irgend jemanden hier im Hause?

      Er sah mich noch einmal an, richtete dann seine Augen nach oben und stand einige Sekunden lang mit einer so ausdrucksvollen Gebärde hoffnungsreicher Erwartung da, daß ich vor Erstaunen keine Worte mehr finden konnte und einen Augenblick lang vergaß, daß ich mich in Gegenwart des Todes befand. Aber dies dauerte nur wenige Augenblicke. Während ich mich noch verwundert fragte, was wohl die plötzliche Veränderung im Gesichtsausdruck des Mannes bedeuten könne, stieß plötzlich das Kind, das seine Knie umklammert hielt, einen Schrei des Entsetzens aus und ließ seine Aermchen sinken. Ich sah ihn nach Atem ringend zusammensinken und dann vornüberfallen; ich sprang hinzu und fing ihn in