Anna Katharine Green

Einer meiner Söhne


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Als ich ihn behutsam auf die Diele niedergleiten ließ, hatte er bereits ausgeatmet, ich war allein mit einem zitternden kleinen Mädchen und einem Toten, der mir mit dem letzten Lebenshauch einen mir völlig unverständlichen Auftrag gegeben hatte. Ich wußte nichts weiter, als daß ich unter keinen Umständen den mir anvertrauten Brief an eine andere Person ausliefern durfte, als an die, für welche er ihn bestimmt hatte.

      Aber wer war diese Person?

      Zweites Kapitel.

      Inzwischen war das Kind in die Halle hinausgelaufen und sprang mit ängstlichen Rufen: Papa! Papa! die Treppe hinauf.

      Es mußte also doch jemand in diesem Hause sein, in dem ich geglaubt hatte, mich mit dem Mädchen und dem Toten ganz allein zu befinden. Ueberrascht eilte ich ihr nach in das erste Stockwerk, wo sie vor einer geschlossenen Tür stehen blieb. Eine seltsame Scheu schien die Kleine zurückzuhalten, denn in leisem Flüsterton sagte sie mir:

      Hier drinnen ist Papa.

      Wenn dies richtig war, so befand er sich jedenfalls nicht allein. Gelächter, lautes hastiges Sprechen und Gläserklingen ließ sich deutlich durch die Tür hindurch vernehmen. Der Gegensatz zwischen diesem lustigen Gelage und dem feierlichen Augenblick, den ich unmittelbar vorher durchlebt hatte, fiel mir schwer aufs Herz; ich zögerte, das Zimmer zu betreten, und sah mich um, ob ich nicht irgend jemand vom Dienstpersonal bemerken könnte; denn soviel war mir jetzt klar, daß in diesem reichen Hause unbedingt Diener anwesend sein mußten. Plötzlich aber rief das Kind, das sich angsterfüllt an meinem Rock festhielt:

      Papa ist doch wohl nicht hier. Papa mag keine Karten leiden. Aber Onkel George spielt gern. Bitte, bitte – wir wollen Papa suchen!

      Sie zog mich nach einer anderen Tür hin; ich öffnete sie, aber das Licht war ausgedreht, und der Papa der Kleinen war nicht da.

      Vielleicht ist er bei Onkel Alph! stammelte sie weinerlich. Damit sprang sie eine zweite Treppe hinauf, indem sie sich mehreremal umsah, ob ich ihr auch folgte.

      Was sollte ich anders machen? Ich mußte mit ihr gehen, bis ich irgendeiner Menschenseele begegnete. Ich eilte also ebenfalls die Treppe hinauf; doch als ich oben ankam, war sie bereits in ein Zimmer eingetreten.

      O, Onkel Alph! hörte ich sie weinend rufen, Großpapa liegt unten auf dem Fußboden. Ich kann Papa nicht finden. Ich hab' solche Angst!

      Und schluchzend lief sie auf den jungen Mann zu, der von seinem Stuhl am Schreibtisch aufstand. Merkwürdigerweise schienen ihre Worte gar keinen Eindruck auf ihn zu machen, denn er starrte sie wie geistesabwesend an. Dieses Verhalten war natürlich sehr auffallend, und ich musterte dabei die Erscheinung des jungen Mannes auf das genaueste. Er war schön und auf den ersten Blick als Lebemann zu erkennen. In seiner ganzen Erscheinung lag etwas Anziehendes, aber man fühlte dies mehr, als daß man vermocht hätte, sich im einzelnen darüber Rechenschaft zu geben. Freunde, die öfter mit ihm die Avenue entlang geschlendert waren, erzählten mir später, daß er stets aufzufallen pflegte. In seinen Zügen, in der Haltung, in den Bewegungen von Kopf und Schultern läge etwas, was einen veranlasse, sich den Mann nicht nur anzusehen, sondern sich auch nach ihm umzusehen. In diesem Augenblick fiel mir allerdings weniger seine stattliche Erscheinung auf, als der unruhige, fieberhaft erregte Ausdruck seiner Züge.

      Bei unserem Eintritt war er beschäftigt gewesen, einen Brief zu schreiben, den er, als das Kind ihn so ängstlich anrief, zerknüllte und in den Papierkorb warf. Mir fiel auf, daß er dies mit einer gewissen Hast tat, und ich fragte mich unwillkürlich, was wohl in dem von ihm vernichteten Briefe stehen möchte.

      Inzwischen war er anscheinend bemüht, sich zusammenzunehmen und zu begreifen, was die Kleine von ihm wolle. Mich hatte er offenbar noch gar nicht bemerkt, obwohl ich in der weitgeöffneten Tür stand. Ich hielt es daher für angebracht, mich ihm selber vorzustellen, und sagte:

      Ich bitte um Verzeihung – mein Name ist Arthur Cleveland, von der Anwaltfirma Robinson und Cleveland. Ich kam an Ihrem Hause vorbei und wurde von der Kleinen hier hereingerufen, um ihrem Großvater Hilfe zu leisten, den ich leider in sehr bedenklichem Zustand in seinem Arbeitszimmer fand. Wenn er Ihr Vater ist, so gestatten Sie mir, Ihnen zu seinem plötzlichen Verscheiden mein Beileid auszusprechen. Er starb vor wenigen Minuten in meinen Armen, und da ich Zeuge seiner letzten Augenblicke war, so konnte ich das Haus nicht verlassen, ohne seinen Angehörigen den Grund meiner Anwesenheit mitzuteilen.

      Tot! Vater?! rief der junge Mann aus.

      Kein Schmerz, kaum ein leichtes Erstaunen lag in diesem kurzen Ausruf, aber etwas anderes lag darin, was mich mit Entsetzen erfüllte. Welch seltsamer Ausdruck in seinem Ton! Welch eigentümliches Feuer sprühte aus seinen Augen! Doch dies war in einem Augenblick vorüber. Er nahm das Kind auf seine Arme, verbarg sein Antlitz hinter den blonden Mädchenlocken und stürzte nach der Tür. Von mir nahm er fast keine Notiz. Er schien gar nicht auf meine Worte gehört zu haben, denn er fragte:

      Wo ist er?

      Das Kind antwortete ihm:

      In der Hinterstube, Onkel Alph. Aber ich will nicht mitkommen. Ich hab' solche Angst! Bitte laß mich los; ich will Hope suchen.

      Hastig setzte er sie nieder, und das Kind sprang davon. Dann erst schien er sich meiner Gegenwart bewußt zu werden und fragte mit verwunderter Miene:

      Sie wurden von der Straße hereingerufen? Das verstehe ich nicht! Wo waren denn meine Brüder? Sie waren doch nahe genug, um ihm Beistand leisten zu können. Warum also einen Fremden ins Haus rufen?

      Auf diese Frage konnte ich keine Antwort geben; ich schwieg also. Doch schien er mein Schweigen gar nicht zu bemerken, denn nach kurzem Besinnen sagte er:

      Wir wollen hinuntergehen.

      Ich öffnete die Tür, die die Kleine hinter sich zugeschlagen hatte, und ging dem jungen Mann voran auf die Treppe zu. Während unseres kurzen Gespräches hatte ich mehrmals unbestimmte Geräusche wie von Stimmen gehört; ich erwartete daher, das ganze Haus in Aufruhr zu finden, denn der Tod des Hausherrn mußte es doch alarmieren. Aber die Spieler im ersten Stock saßen noch bei ihren Karten. Mein Begleiter blieb stehen und tat ein paar scharfe Schläge gegen die Tür, hinter welcher ein so unziemlicher Lärm laut wurde.

      Vater ist krank! rief er mit vor Aufregung heiserer Stimme. Eine Antwort wartete er nicht ab, sondern eilte an mir vorüber und die Treppe hinab; ihm nach stürzten sechs oder sieben halbwegs ernüchterte junge Leute.

      Einer von diesen fiel mir besonders auf; nach dem Aussehen zu schließen, mußte er ein Bruder des von der Kleinen als »Onkel Alph« angeredeten jungen Mannes sein. Er hatte dieselbe imponierende Gestalt, merkwürdigerweise aber auch die gleiche, fast geistesabwesende Miene. Doch ich hatte nicht lange Zeit, über diese physiognomische Beobachtung nachzudenken. Nachdem so unbegreiflich lange alles still gewesen war, hatte sich jetzt plötzlich die alarmierende Nachricht wie ein Lauffeuer in den unteren Räumen des Hauses verbreitet, und wir fanden ein Halbdutzend Dienstboten in und vor dem kleinen Zimmer, in welchem der Herr des Hauses auf dem Fußboden ausgestreckt lag. Einige von ihnen rangen die Hände, andere weinten, und noch andere starrten, regungslos vor Entsetzen, auf das bleiche Antlitz, das sie kurz vorher noch von den Farben der Gesundheit belebt gesehen hatten.

      Als die Dienstboten uns bemerkten, zogen sie sich natürlich in die Halle zurück, und auf einmal befand ich mich zwischen der von ihnen gebildeten Gruppe und den drei oder vier jungen Gästen, die nicht mit den Brüdern in das Zimmer gegangen waren. Ich bemerkte unter ihnen einen, dessen Gesichtszüge mir nicht ganz unbekannt waren, und von diesem erhielt ich die erste Auskunft über den Mann, dessen Todeskampf ich mit angesehen und von dem ich den seltsamen Auftrag empfangen hatte, der mich zwang, in dem fremden Hause in der peinlichen Lage eines Eindringlings zu verbleiben.

      Der Tote war der allgemein bekannte Börsenkönig und Eisenbahnfürst Archibald Gillespie, dessen Name in jedermanns Munde war, seitdem er mit einem einzigen Geschäft in kaum zwei Monaten zwei Millionen Dollars verdient hatte.

      Während ich mich noch mit dem jungen Mann unterhielt, kam einer von den Herren, die mit den Söhnen des Verstorbenen in das Zimmer gegangen waren, mit sehr bleichem Gesicht wieder heraus. Er war Arzt, doch allem Anschein