Anna Katharine Green

Einer meiner Söhne


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und auch der Doktor sagte:

      Fräulein Meredith ist noch nicht imstande, das Kind die Treppe hinaufzutragen.

      Aber die Kleine lag bereits an ihrem Busen, und Hope sagte, indem sie ihren Kopf zurückbog, damit Leighton sein Kind küssen könnte:

      Ich kann sie tragen!

      Wirklich? fragte Alfred.

      Ganz gewiß! erwiderte sie und schlang krampfhaft ihre Arme um das Kind.

      Laß mich mit dir gehen! bat er. Doch sein Auge begegnete dem des Coroners, und er setzte schnell hinzu: Das heißt, wenn du Hilfe nötig zu haben glaubst.

      Dies war augenscheinlich nicht der Fall, denn im nächsten Augenblick sah ich ihre schwankende Gestalt allein die Treppe hinaufgehen. Von Georges Stirn war die finstere Wolke, die sich darauf zu bilden begonnen hatte, wieder verschwunden, und nur Alfreds Züge sahen verstört aus. Dann aber zog der Coroner die Aufmerksamkeit aller Anwesenden auf sich, indem er ernsten Tones zu den vor ihm stehenden drei jungen Leuten sagte:

      Als Herrn Gillespies Söhne werden Sie gewiß die Notwendigkeit einsehen, daß ich sofort einen Versuch mache, Gewißheit über die Frage zu erlangen, wie und wann Ihr Vater das Gift zu sich nahm, das allem Anschein nach seinem wertvollen Leben, ein Ende gemacht hat.

      Und als niemand antwortete, fuhr er ruhig fort:

      Es fehlt eine Flasche; die Flasche Sherry, woraus er einige Zeit nach dem Abendessen ein Glas zu sich nahm. Wollen Sie mich ermächtigen, das Haus zu durchsuchen, bis ich diese Flasche gefunden habe? Es ist ja erst eine so kurze Zeit seitdem verstrichen; die Flasche muß noch zu erreichen sein.

      Ich kann Ihnen sagen, wo sie ist, versetzte einer der Brüder. Ich bekam Durst auf ein Glas Wein. Es waren Freunde bei mir oben; darum ging ich hinunter und nahm die erste beste Flasche mit. Sie werden sie oben in meinem Zimmer finden. Wir haben alle davon getrunken; in dem Wein kann also kein Gift gewesen sein.

      Es war George, der diese Worte sprach, und jetzt wurde mir klar, warum er vorhin mehreremal die Lippen bewegt hatte, um etwas zu sagen.

      Der Coroner schien sich erleichtert zu fühlen; indessen machte er eine Bewegung, die in merkwürdiger Weise einem Wink glich, in der Richtung auf den Hintergrund der Halle zu. Dies wunderte mich, denn ich hatte geglaubt, daß die Halle menschenleer sei, seitdem die Dienerschaft hinausgeschickt war. Daß es ein Wink war, erschien mir zweifellos, obgleich er dabei ruhig sagte:

      Sie und Ihre Freunde tranken davon? Sehr gut; das beseitigt einen Zweifel.

      Er schwieg und wartete, wie es schien, auf einen Bescheid, den ein Mann, dessen Schritt wir jetzt in der Halle hörten, ihm bringen mußte.

      Die Schritte näherten sich, und auf einmal kam von der Dienerschaftstreppe her ein junger Mann mit einer Flasche in der Hand. Offenbar war er allen Bewohnern des Hauses ebenso fremd, wie ich selber wenige Stunden zuvor. Ruhig nahm der Coroner ihm die Flasche ab, ruhig und ohne den geringsten Versuch, die Anwesenheit des in so dramatischer Weise von ihm plötzlich auf die Szene gebrachten Fremdlings zu entschuldigen oder auch nur zu erklären, hielt er sie George Gillespie hin und fragte:

      Ist dies die Flasche, die Sie meinen?

      Der junge Herr nickte bejahend.

      Der Coroner hielt die Flasche gegen das Licht. Es waren nur noch ein paar Tropfen darin. Diese prüfte er mit Nase und Zunge. Dann sagte er:

      Sie haben recht. Der Inhalt dieser Flasche ist allem Anschein nach rein. Damit gab er sie dem Mann zurück, der sie sofort hinwegtrug.

      Leighton schien Lust zu haben, sich zu erkundigen, was das für ein fremder Mann sei. Aber er schwieg. Es schien auch kaum nötig zu sein. Die selbstbewußte Haltung des Mannes, der scharfe Blick, womit er uns alle musterte, dies alles sprach dafür, daß das längst Befürchtete eingetreten war: die Kunde von dem Ereignis war nach draußen gedrungen, und ein Geheimpolizist hatte das Haus betreten.

      Der Coroner Frisbie bemerkte sehr wohl den peinlichen Eindruck, den der Anblick des unwillkommenen Eindringlings auf die stolzen drei Brüder machte; aber er kümmerte sich nicht darum und fuhr ruhig fort, an George die Fragen zu richten, die sich von selber aus seiner Aussage ergaben:

      Sie waren also kurz vor Ihres Vaters Tod in dieser Etage – vielleicht sogar unmittelbar vor dem Augenblick, wo er den Trank zu sich nahm, der seinem Leben ein so unglückliches Ende setzte?

      Ich war vor ungefähr einer Stunde in dieser Etage – jawohl, Herr Coroner!

      Sahen Sie dabei Ihren Vater oder sonst jemand?

      Nein. Um die Wahrheit zu gestehen – ich wollte mich nicht gerne sehen lassen. Es war noch ein bißchen früh am Abend, um in Gesellschaft Wein zu trinken. Deshalb nahm ich einfach die Flasche vom Büffet und ging damit auf mein Zimmer zurück.

      Und die Gläser?

      Oh – Gläser habe ich stets in genügender Menge in meinem Zimmer.

      Der Coroner strich sich das Kinn. Offenbar fand er sich einem schwierigen Problem gegenüber.

      Kein Gift in dieser Flasche, sagte er nachdenklich. Kein Gift in der Flasche, die der alte Hatson leertrank und ebensowenig – soweit wir in diesem Augenblick darüber urteilen können – in dem Chloralfläschchen, das wir auf dem Kaminsims des Arbeitszimmers fanden. Aber Ihr Vater ist an Blausäure gestorben! Kann nicht einer von Ihnen mir zu Hilfe kommen und angeben, wie das wohl zusammenhängen mag? Das könnte uns unnötige Mühen ersparen – und dem Hause vielleicht einigen Skandal.

      Diesen Appell konnten Gillespies Söhne nicht gut unbeachtet lassen. Sie erbleichten alle drei unter dem forschenden Blick, womit der Coroner seine Worte begleitete, aber keiner von ihnen sprach, bis zuletzt das Schweigen unerträglich wurde. Endlich raffte Leighton sich gewaltsam auf und bemerkte:

      Mein Vater war ein stolzer Mann. Wenn er beschloss ... wenn er beschlossen haben sollte, sich auf so traurige Weise seinen Sorgen zu entziehen, so hätte er es gewiß so eingerichtet, daß keine Spur zurückblieb, wodurch ein Makel auf unser Haus fallen konnte. Hätte er diesen Schritt getan, so würde er gehofft haben, daß man seinen plötzlichen Tod einer Nachwirkung seiner letzten Krankheit zuschriebe. Dies ist ohne Zweifel der Grund, weshalb Sie die Phiole, die das Gift enthielt, nicht aufzufinden vermögen.

      Hm, hm. Ihr Vater hatte also Sorgen?

      Die Antwort lautete überraschend:

      Mein Vater hatte drei Söhne – und mit keinem von diesen konnte er ganz zufrieden sein. Ist das nicht wahr, George? Ist es nicht so, Alfred?

      Die beiden Brüder wurden dunkelrot, wagten aber nicht zu widersprechen.

      Du hast dich aber doch mit Vater immer ziemlich gut gestanden, sagte George schließlich in mürrischem Ton.

      Ein Schatten überzog Leightons Gesicht, und er murmelte, indem er mit tieftrauriger Miene sich abseits wandte:

      Ich kann nicht vergessen, daß wir eine Stunde vor seinem Tode einen Wortwechsel miteinander hatten.

      Inzwischen war ich zu einem festen Entschluß gekommen. Ich trat von meinem Platz im Hintergrund der Halle, wo ich mit dem jungen Doktor gestanden hatte, auf die Gruppe zu und sagte ruhig aber fest:

      Meine Herren, ich habe gewartet, um klar meine Pflicht ersehen zu können. Ich bin Ihnen ein Fremder – trotzdem aber habe ich Ursache zu glauben, daß der Schlüssel zu diesem Rätsel, das Ihres Vaters Tod umgibt, sich in meinen Händen befindet. Wollen Sie mir, ehe ich mich deutlicher ausspreche, erlauben, Ihnen eine einzige Frage zu stellen?

      Die drei jungen Gillespies sahen mich überrascht an; nicht weniger erstaunt war auch der Coroner, der wahrscheinlich der Meinung gewesen war, schon beim ersten Verhör von mir alles erfahren zu haben, was ich selber wußte.

      Die Frage, die ich an Sie zu richten wünsche, fuhr ich fort, wird Ihnen seltsam und einem so ernsten Anlaß nicht angemessen erscheinen. Aber ich bitte Sie, mir Ihr Vertrauen zu schenken und mir eine offene und unumwundene Antwort zu geben. Besaß Herr Gillespie schauspielerische Begabung? Hatte