Bernd Oei

Franz Kafka


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als existenzielle Fragekunst und wird gleichsam von Philosophen als Beispiel für eine literarische Form der Daseins-bewältigung angeführt. Diesen Umstand trägt der vierte Ab-schnitt Rechnung, der die poetischen Wurzeln Kafkas zum Gegenstand hat. Dabei kommt der von Kleist thematisierten Ver-störung und Geschlechterkampf eine bedeutsame Rolle zu. Kierkegaards Entweder Oder - Haltung steht am Beginn einer sich von systemischem Denken ablösenden und die Spannung zwischen Ästhetik, Ethik und Religion zum Mittelpunkt des individuellen Daseinsentwurfes erhebenden Denkart. Nietzsche als Meister der Metabole, der Paradoxie und der ewigen Wiederkehr des Zweifels liefert Nährboden für Kafkas Parabeln.

      Im fünften Abschnitt gewähren Stimmen von Philosophen eine Synopsis über die Vieldeutigkeit Kafkas in Abhängigkeit einer gewählten Leseperspektive und Methodik. So vergleicht der Strukturalist Roland Barthes Kafka mit Flaubert, einem seiner Vorbilder aufgrund ihrer Relation von Ordnung und Chaos und den von ihnen betriebenen physischen Aufwand des Schreibens: „Für den, der sich bemüht, seinem Inneren Ausdruck zu verschaffen, ist Kunst nicht etwas Geisteswissenschaftliches, sondern etwas Körperliches wie der Fingerabdruck.“3

      Das Kapitel sechs untersucht die drei Romane Kafkas et, um neben einer Sprachanalyse gesondert die Aspekte Erotik, Religion, Sozialkritik, Psychologie und Philosophie zu eruieren und eine textnahe Exegetik vorzunehmen.

      Das siebte Kapitel verfährt nach gleichem hermeneutischem Muster mit fünf ausgewählten Erzählungen mit repräsentativen Charakter unter mindestens vier Perspektiven.

      Es wäre ein weiterer Mythos zu behaupten, Kafka als nicht wahrgenommenes Genie zu stilisieren. Er wurde bereits zu Lebzeiten veröffentlicht und übersetzt, erhielt einen kleinen Literaturpreis, Einladungen zu Lesungen und besaß als in Prag einen Kreis Bewunderer. So notiert der gleichfalls in Prag aufgewachsene Rainer Maria Rilke: „Ich habe nie eine Zeile von diesem Autor gelesen, die nicht auf das eigentümlichste mich angehend oder erstaunend gewesen wäre.“4

      Einige wie Tucholsky erkennen früh seinen Genius, dennoch steht er im Schatten anderer, deren Namen heute häufig vergessen sind. Kafka ist im nietzscheanischen Wortsinn ein „Unzeitgemäßer“. Sein Begriff „Pathos der Distanz“ trifft dessen Einsamkeit und Fremdheit in der Welt. Im Zeitalter unmittelbar von und nach dem Ersten Weltkrieg erweisen sich Menschen zunehmend unfähig und unwillig, sich auf intime Beziehungen einzulassen. Nietzsche nennt es die höchste Aufgabe der Kunst, den Menschen von seiner Scham zu erlösen, und dies trifft in besonderem Maße auf Kafka zu. Leben und Werk sind vielleicht nicht trennbar, doch das eine monokausal auf das andere zurückzuführen oder zu deuten, wird der Kunst nicht gerecht. Den Abschluss bildet der Epilog mit dem Erkenntniswert Kafkas, der selbst nicht erkannt sein wollte

      1 I. Biografie oder Leben am Abgrund

      1 I. 1. Vor dem Ausbruch der Krankheit

      Er ist allein. Vielleicht gewollt, denn nur so kann er schreiben. Er lebt nur für seine Idee. Die Technik ist im Grunde das Sittliche der Poesie - nicht weit vom Neutrum entfernt. Er hat die Geliebte gehen lassen. Die Dialektik des Imaginären zwingt ihn dazu. Im Zustand des Glückes lässt sich nicht schreiben und im Begehren nicht mehr der Text bewältigen. Nein, das Schreiben duldet keine Rivalin, es muss das einzige Brennen unter der Haut bleiben! „Mein Roman ist der Felsen, an dem ich hänge, und ich weiß nichts von dem, was in der Welt vorgeht.“5

      Der Traum geht singend in das Tägliche über, ein Lied haust im nächtlichen Fieberwahn, doch lässt der Lärm der Straßen die Melodie verstummen und es sterben die Klänge in stündlichem Rauschen. Er fühlt unsagbare Angst vor dem Schreiben und fürchtet die Nacht, den Schlaf, den Kontrollverlust; die Angst vor dem Kontrollverlust zehrt seine Seele auf. Seine Existenz wiegt nicht mehr als der leichte Stoß Papier, den schreibt. Wenn der Vater kommt, wird er seine Worte vom Tisch nehmen wie das schwere Buch, das der Vater so achtlos bei Seite legt. Ich habe jetzt und hatte schon heute Nachmittag ein großes Verlangen meinen ganzen bangen Zustand ganz aus mir heraus zu schreiben und ebenso wie er aus der Tiefe kommt in die Tiefe des Papiers hinein.

      Franz schreibt diese Worte mit seinem Blute, dass sich der Ausdruck in den Leib einschleicht, in den Atem einweicht. Er wird das Leben bald tragen wie einen unendlichen feuchten Raum, dessen Schalen vielleicht auf der Haut trocknen. Nein, es ist nicht sinnlos zu schrieben, wie der geschäftige Vater meint, denn wir brauchen Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück. Ein Unglück, das so schmerzt wie der Tod jener, die wir einst liebten. Ja, Poesie muss wie eine Axt sein für das ganze gefrorene Meer in uns, um die Eisstücke zu zerhauen. Die Schollen werden uns tragen müssen zu neuen Ufern. Schreiben ist wichtig, doch wenn ich etwas sage verliert es sofort seine Wichtigkeit, erst aber durch das Schreiben vermag es auch eine neue Bedeutung gewinnen.

      Franz weiß nicht, ob er noch träumt oder schon schläft, das Licht erreicht zögerlich seine zuckende Pupille, es ist immer ein wenig Lärm und Geruch um ihn herum, so viele leben in dem engen Haus, und der Vater scheint nie wirklich zu ruhen. Sein langer Schatten schmeckt nach dem Ginster auf dem Fenster-brett, es ist als könnte er dem Verlöschen des Körpers zusehen. Die Welt hörte auf, wenn sein Ich nicht mehr existierte, freilich nicht stofflich, doch als Erlebnis bliebe die Farbe ohne das sie betrachtende Auge unsichtbar.

      Tagsüber hat er im Büro Aktenberge gesichtet, brennende Kopfschmerzen, weil er nicht durchschlafen kann, Ich und Es sind im permanenten Tanz und Tausch miteinander. Im Leben macht Franz Kompromisse, im Schreiben nicht. Die Welt ist ohnehin reich an Unvollkommenem. Tatsächlich, in Liebe und Lust liegt ein entsetzliches Geheimnis und so entstehen innere Räume, aus denen wir sprechen; gläserne Träume werden zu Stahl. „Unsere ganze Gesellschaft ist aufgebaut auf dem Ich und das ist ihr Fluch – doch aus Begeisterung und Liebe fließt alles Schöne.“6

      Was könnte schöner sein als das Lächeln einer Frau, für die Einbildungen das tägliche Brot ist. Die Frauen haben ein Talent. dafür, sich mit verschiedenen Tugenden zu putzen und diese fremd zu führen. Doch diejenigen, die wirklich Schiffbruch in der Liebe erleiden, sind nicht unglücklich zu nennen, es sind immer die Unentschlossenen und Halb-Verzagten, die besonders leiden. Auch Felice ist rätselhaft und oft gewinnt sie durch ihren Makel an seltener Schönheit wie ihr Nacken, den er sanft küssen möchte. Für Frau und Kind nützlich zu sein und sich zu opfern, darin liegt das bürgerlich verordnete Glück. Doch welch Privileg haben die anderen, die einen Anfang zu machen wissen - er weiß, es bedürfte der Entschlossenheit dazu. Die meisten in seiner Zeit haben keine Überzeugungen, bloß noch Meinungen, die sie wie die Kleider wechseln, bevor sie abgetragen sind. Was, wenn er seiner verbrauchten Bekleidung enthoben, neu zu atmen lernte in aufrechtem Gang? Unbeschreibliches Staunen liegt in seinem Schweigen geborgen, jenem Bauch des Seins, der den Blick hat für den silbernen Schatten gleich jener Schneeflocke, die im schrägen Winkel niederfällt und die Haut kühl benetzt.

      Es ekelt ihn vor dieser Welt aus Mängeln, den Menschen, die wie Wetter-fahnen sind und den nächtlichen Stürmen im Wasserglas. Für Franz existieren keine eindeutigen Wahrheiten, die Lüge ist wahrhaftiger. Was es gibt, sind Gesetze, denen er sich niemals ganz zu nähern wagt, weil dies der völligen Unterwerfung gleichkäme. Er sieht sich einem Labyrinth, das ihn den Ausgang verbietet. Der liebe Gott als letzter Ausweg musste sterben, weil es überfällig war, dass die Tradition verbrannte. Es braut sich ein Krieg zusammen, in dem alles zu Boden sinken wird wie eine überreife faulende Frucht. Niemals packt uns das Mitleid so heftig wie beim Anblick der Schönheit, die vom verderblichen Atem der Unzucht berührt ist. Die Schönheit verträgt nur Tugend und Reinheit und deshalb muss er für sich bleiben gleich einer Monade, die sich selbst zur Geburt bringt.

      Der fast Dreißigjährige hat das Grübeln erfunden, es ist mit ihm geboren oder hat auf den Säugling gewartet. Sein Leben sorgt dafür, sich mit verschiedenen Tugenden zu putzen und diese fremd zu führen. Doch diejenigen, die wirklich Schiffbruch in der Liebe erleiden, sind nicht unglücklich zu nennen, es sind immer die Unentschlossenen und Halb-Verzagten, die besonders leiden. Auch Felice ist rätselhaft und oft gewinnt sie durch ihren Makel an seltener Schönheit wie ihr Nacken, den er sanft küssen möchte. Für Frau und Kind nützlich zu sein und sich zu opfern, darin liegt das bürgerlich verordnete Glück. Doch welch Privileg derjenigen, die einen Anfang zu machen wissen, es bedürfte der Entschlossenheit