Anna Katharine Green

Schein und Schuld


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an; erst heute morgen wurde die Leiche gefunden. Ich bin Herrn Leavenworths Privat-Sekretär und lebe mit der Familie zusammen. Es war ein furchtbarer Schlag,« fügte er hinzu, »besonders für die jungen Damen.«

      »Furchtbar, in der That! Herr Veeley wird vollständig überwältigt davon werden.«

      »Sie sind ganz allein,« fuhr er in leisem, geschäftsmäßigem Tone fort, der, wie ich später fand, eine Eigentümlichkeit des Mannes war, ohne die man sich ihn gar nicht denken konnte; »die Damen Leavenworth meine ich, die Nichten des Ermordeten. Da nun heute eine amtliche Untersuchung abgehalten werden wird, so ist es sehr wünschenswert, daß die beiden Fräulein nicht ohne Rechtsbeistand sind, und weil Herr Veeley der beste Freund ihres Onkels war, so schickten sie mich selbstverständlich ab, ihn zu holen. Leider muß er gerade verreist sein, und ich weiß wirklich nicht, was ich anfangen soll.«

      »Ich bin den Damen zwar fremd,« erwiderte ich, »wenn ich ihnen aber von irgend welchem Nutzen sein kann, so gebietet mir die Achtung vor ihrem Oheim – –«

      Der Ausdruck im Auge des Sekretärs machte mich verstummen. Sein Blick wich nicht von meinem Antlitz, aber sein Augapfel schien sich plötzlich zu erweitern, so daß es mir vorkam, als umfasse er meine Gestalt ganz. »Ich weiß nicht,« bemerkte er endlich, und ein leichtes Stirnrunzeln bewies, daß er nicht so ganz zufrieden mit der Wendung war, welche die Angelegenheit nahm, »indessen, – vielleicht ist es das beste, die Damen dürfen sich nicht selbst überlassen bleiben, und –«

      »Es ist gut!« unterbrach ich ihn, »ich komme.« Ich setzte mich nieder, schrieb sofort eine Depesche an Herrn Veeley, traf rasch noch einige Vorbereitungen und ging mit dem Sekretär auf die Straße. »Jetzt,« forderte ich ihn auf, »erzählen Sie mir alles, was Sie von dem entsetzlichen Ereignis wissen.«

      »Alles, was ich weiß? Das ist mit wenigen Worten abgethan. Als ich gestern abend meinen Chef verließ, saß er wie gewöhnlich an seinem Schreibtisch und heute morgen fand ich ihn an dem nämlichen Platze und fast in derselben Stellung, doch mit einem Loch im Kopfe, das so groß war wie die Spitze meines kleinen Fingers und von einer Pistolenkugel herrührte.«

      »Tot?«

      »Ganz tot.«

      »Schrecklich!« rief ich aus; dann fragte ich nach kurzer Pause: »Kann es nicht Selbstmord gewesen sein?«

      »Nein: das Pistol, mit welchem die That begangen wurde, ist nicht aufgefunden worden.«

      »Wenn aber ein Mord vorliegt, so muß auch ein Beweggrund zu demselben nachgewiesen werden können. Deuten die Umstände vielleicht auf einen Raubmord hin?«

      »Keinesfalls, es wird nicht das Mindeste vermißt; die Sache ist ein vollständiges Rätsel.«

      »Ein Rätsel?«

      »Bis jetzt ein undurchdringliches.«

      Ich blickte dem Unglücksboten forschend ins Gesicht. Der Mitbewohner eines Hauses, in welchem ein geheimnisvoller Mord begangen worden, war für mich ein interessanter Gegenstand der Beobachtung. Aber das harmlose, wenig ausdrucksvolle Gesicht des Mannes rechtfertigte meine Neugier durchaus nicht, und indem ich meine rasche Musterung sofort wieder abbrach, fragte ich: »Die Damen sind wohl sehr aufgeregt?«

      »Es würde ja ganz widernatürlich erscheinen, wenn es nicht der Fall wäre,« antwortete er; und war es nun der auffallende Wechsel seiner Mienen oder die Art und Weise meiner Fragestellung, – genug, ich fühlte, daß ich diesem unbedeutenden und doch selbstbewußten Sekretär gegenüber die Damen nicht erwähnen durfte, ohne – wie soll ich sagen? – ein heikles Thema zu berühren. Da ich schon früher gehört hatte, daß Herrn Leavenworths Nichten hochgebildet seien und sich in den ersten Kreisen der Gesellschaft bewegten, so berührte mich diese Entdeckung einigermaßen peinlich. Es überkam mich daher ein Gefühl der Erleichterung, als ich einen Omnibus herannahen sah.

      »Wir wollen jetzt unsere Unterredung abbrechen,« sagte ich, »hier ist der Omnibus.«

      Sobald wir erst einmal in demselben saßen, war jede Unterhaltung über einen derartigen Gegenstand unmöglich. Ich benutzte deshalb die Zeit, darüber nachzudenken, was ich von Herrn Leavenworth wußte, und fand meine ganze Kenntnis der Verhältnisse auf die Thatsache beschränkt, daß er ein Kaufmann war, der sich von den Geschäften zurückgezogen hatte, außergewöhnlichen Reichtum und eine hohe gesellschaftliche Stellung besaß, daß er ferner in Ermangelung eigener Kinder zwei Nichten in sein Haus aufgenommen hatte, von denen die eine bereits seine erklärte Erbin war. Veeley hatte zuweilen von Leavenworths Ueberspanntheit gesprochen und als Beispiel den Umstand erwähnt, daß er ein Testament zu Gunsten der einen Nichte mit gänzlichem Ausschluß der anderen aufgesetzt habe. Von seinen sonstigen Lebensgewohnheiten und seinen Verbindungen mit der Welt im allgemeinen wußte ich wenig oder nichts.

      Als wir vor dem Hause ankamen, fanden wir es von einer großen Menschenmenge umdrängt. Ich hatte kaum Zeit zu bemerken, daß es ein Eckhaus von ungewöhnlicher Breite und Tiefe war, als mich das Gewühl auch schon erfaßte und mich bis an die unterste Stufe der breiten steinernen Freitreppe trug. Nachdem ich mich mit einiger Schwierigkeit aus dem Gedränge befreit hatte, da ein Stiefelputzer und ein Fleischerjunge sich an meine Arme klammerten in dem Glauben, sie würden auf diese Weise sich mit Leichtigkeit auf die Stätte des Trauerspiels schmuggeln können, sprang ich die Steinstufen hinauf, sah, daß mein gutes Glück den Sekretär an meiner Seite festgehalten hatte, und zog rasch die Glocke.

      Gleich darauf öffnete sich die Thüre, und in derselben erschien ein Gesicht, welches ich als einem unserer städtischen Geheimpolizisten angehörig erkannte.

      »Herr Gryce?« rief ich.

      »Derselbe,« antwortete er; »treten Sie ein, Herr Raymond.« Ohne sich weiter um die draußen harrende Menge zu kümmern, über die er nur ein spöttisches Lächeln gleiten ließ, welches eine allgemeine Enttäuschung hervorrief, zog er uns in das Haus hinein und schloß die Thür hinter sich zu. »Ich denke, Sie werden sich über meine Anwesenheit hier nicht wundern,« sagte er mit einem Seitenblick auf meinen Begleiter, indem er mir die Hand reichte.

      »Durchaus nicht,« entgegnete ich; dann fiel mir ein, daß ich ihm den jungen Mann, mit dem ich gekommen war, doch vorstellen müsse. »Erlauben Sie mir, daß ich Sie mit Herrn – Herrn – entschuldigen Sie, aber ich weiß Ihren Namen nicht,« sagte ich, zu meinem Begleiter gewendet; »der Herr ist der Privat-Sekretär des verstorbenen Leavenworth.«

      »O, der Sekretär! der Coroner hat schon nach ihm gefragt.«

      »Der Coroner ist bereits hier?«

      »Jawohl, die Jury hat sich soeben hinaufbegeben, um den Leichnam in Augenschein zu nehmen; möchten Sie sich nicht den Geschworenen anschließen?«

      »Nein,« erwiderte ich, »das ist nicht nötig; ich habe mich nur in der Hoffnung hier eingefunden, den jungen Damen vielleicht von einigem Nutzen sein zu können. Herr Veeley ist verreist.«

      »Und da ist Ihnen die Gelegenheit, eine interessante Bekanntschaft zu machen, nicht unwillkommen, wie mir scheint,« bemerkte der Detektiv. »Nun Sie aber einmal hier sind, und der Fall sehr merkwürdig zu werden verspricht, sollte ich meinen, daß Sie als junger Advokat den Wunsch hegen müßten, sich mit demselben in allen seinen Einzelheiten bekannt zu machen. Doch folgen Sie nur Ihrem eigenen Urteile.«

      Ich bemühte mich, meinen Widerwillen gegen eine persönliche Beteiligung an diesem Fall zu überwinden. »Ich werde mit Ihnen gehen,« versetzte ich.

      Aber gerade als ich den Fuß auf die Treppe setzte, hörte ich die Jury herabkommen. Ich zog mich deshalb mit Herrn Gryce in eine Nische zwischen dem Empfangssalon und dem Wohnzimmer zurück, wo wir unser Gespräch fortsetzten.

      »Der junge Mann behauptet, es könne unmöglich das Werk eines Einbrechers gewesen sein,« bemerkte ich.

      »So –?« erwiderte er, das Auge auf die Thürklinke heftend.

      »Man habe heute morgen nichts, gar nichts vermißt und –«

      »Die Schlösser am Hause seien in der Frühe samt und sonders in Ordnung gewesen, nicht