Anna Katharine Green

Schein und Schuld


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      Gryce schielte wieder finster nach der Thürklinke hin.

      »Das ist ja eine ganz fürchterliche Geschichte!« rief ich.

      Gryce faßte die Klinke noch schärfer ins Auge. Und hier, geneigter Leser, gestatte mir zu erwähnen, daß Gryce kein langes hageres Individuum ist, dessen stechender Blick sich bis in das Mark Deines Wesens zu bohren und jedes dort verborgene Geheimnis zu lesen scheint, wie Du wahrscheinlich erwartet hast. Im Gegenteil! Gryce ist eine stattliche, wohlgenährte Persönlichkeit mit einem Auge, welches Dich niemals durchbohrt, das überhaupt niemals auf Dir ruht. Es verweilt überhaupt nur auf irgend einem gleichgültigen Gegenstand in der Umgebung, einer Vase, einem Tintenfaß, einem Buch oder etwas dergleichen. Diese Dinge scheint er in sein Vertrauen zu ziehen, sie zu Repositorien seiner Schlüsse zu machen, während Du selbst die Spitze eines Kirchturms sein könntest, so wenig scheinst du in den Zusammenhang seines Denkens zu gehören. Gegenwärtig war Gryce, wie schon bemerkt, in die andächtige Beobachtung der Thürklinke versunken.

      »Eine furchtbare Geschichte,« wiederholte ich.

      »Kommen Sie!« forderte er mich auf und musterte einen meiner Manschettenknöpfe.

      Er ging voran, blieb aber auf dem obersten Treppenabsatz stehen. »Herr Raymond,« sagte er, »ich pflege nicht eben viel über die Geheimnisse meines Berufes zu schwatzen; aber in diesem Falle hängt alles davon ab, gleich zu Anfang die richtige Fährte zu finden. Hier haben wir es mit keiner gemeinen Schurkerei zu thun, ohne Zweifel ist dabei Genie thätig gewesen. Nun kommt es zuweilen vor, daß ein gänzlich unvoreingenommener Geist unwillkürlich auf eine Spur trifft, während der Fachmann im Dunkeln tappt. Sollte sich derartiges ereignen, dann denken Sie daran, daß ich der Mann für Sie bin. Verlieren Sie kein Wort an andere, sondern kommen Sie unverzüglich zu mir; denn wir stehen vor einem bedeutenden Fall, sage ich Ihnen, vor einem bedeutenden Fall – und jetzt folgen Sie mir.«

      »Aber die Damen!«

      »Sie haben sich in eines der oberen Zimmer zurückgezogen. Ihr Schmerz ist natürlich groß; doch sollen sie ziemlich gefaßt sein, wie ich höre.« Er trat an eine Thür, öffnete dieselbe und winkte mir.

      Sobald sich meine Augen an die in dem Gemache herrschende Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkte ich, daß wir uns im Bibliothekzimmer befanden.

      »Hier genau auf derselben Stelle ist er ermordet worden,« bemerkte der Detektiv, indem er seine Hand auf den Rand eines mit Tuch überzogenen Tisches legte, der mit dem dazu gehörigen Stuhl die Mitte des Zimmers einnahm. »Sie sehen, daß sich der Schauplatz des Verbrechens direkt jener Thür gegenüber befindet,« fuhr er fort, schritt über den Fußboden und stand vor der Schwelle eines engen Ganges still, der in ein dahinter liegendes Gemach führte. »Da nun der Ermordete in seinem Stuhle sitzend angetroffen wurde, also mit dem Rücken dem Gange zugekehrt, so muß der Mörder durch jene Thür gekommen sein, um seinen Schuß abzugeben, und wird etwa hier Posto gefaßt haben.« Mit diesen Worten bezeichnte Gryce eine bestimmte Stelle auf dem Teppich, die etwa einen Fuß von der vorher erwähnten Stelle entfernt war.

      »Aber –« warf ich ein.

      »Hier giebt's gar kein Aber,« unterbrach er mich, »ich habe die ganze Situation aufs genaueste untersucht.« Und ohne sich weiter über diesen Gegenstand auszulassen, wandte er sich schnell um und schritt durch den Gang. »Hier stehen die Weinflaschen, da ist der Kleiderschrank und dort der Waschtisch nebst Zubehör,« setzte er mir auseinander, seine Erklärungen durch Handbewegungen erläuternd. »Leavenworths Schlafzimmer,« schloß er, als sich dieses Gemach vor uns in seiner ganzen Eleganz aufthat.

      Wir näherten uns dem durch schwere Vorhänge verhüllten Bett; Gryce zog sie zurück, und auf den Kissen lag ein kaltes, ruhiges Gesicht, welches so ganz unentstellt war, daß ich einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken konnte.

      »Sein Tod kam zu plötzlich, als daß er die Züge irgendwie hätte verändern können,« belehrte mich mein Begleiter, indem er das Haupt des Toten emporhob und mir eine Wunde im Hinterkopf zeigte. »Ein solches Loch befördert den Getroffenen aus der Welt, ohne daß er Zeit hat, davon Notiz zu nehmen. Der Arzt wird Ihnen beweisen, daß ein Selbstmord eine absolute Unmöglichkeit ist.«

      Entsetzt fuhr ich zurück; da fiel mein Blick auf eine Thür, die mir gegenüber auf den Korridor führte. Mit Ausnahme des Ganges, den wir durchschritten hatten, schien dies der einzige Ausweg aus dem Bibliothekzimmer zu sein. »Sollte der Mörder nicht diese Thüre benutzt haben?« dachte ich bei mir.

      Gryce hatte jedenfalls meinen Blick bemerkt, obwohl der seinige auf einem Armleuchter haftete; er beeilte sich, meine stumme Frage zu beantworten. »Jene Thür wurde von innen verschlossen gefunden, so daß es zweifelhaft bleibt, ob der Thäter durch sie eingedrungen ist.«

      »Wen beargwöhnen Sie?« flüsterte ich.

      Er betrachtete aufmerksam meinen Ring. »Jeden und niemanden,« antwortete er, »es ist nicht meine Sache zu verdächtigen, sondern zu entdecken.« Darauf ließ er die Vorhänge in ihre frühere Lage zurückfallen und verließ mit mir das Zimmer.

      Da die Untersuchung durch den Coroner Ein Beamter, welcher die Ursache plötzlicher Todesfälle unter Zuziehung von Geschworenen zu untersuchen hat. gerade jetzt im Gange war, konnte ich mich nicht enthalten, ihr beizuwohnen, und ersuchte Gryce, die Damen zu benachrichtigen, daß ich anstatt des abwesenden Herrn Veeley erschienen sei, um ihnen in dieser traurigen Angelegenheit jeden nur möglichen Beistand zu leisten.

      Alsdann begab ich mich nach dem unteren Wohnzimmer und nahm einen Sitz unter den dort versammelten Personen ein.

      Zweites Kapitel.

       Die Untersuchung nimmt ihren Anfang.

      Die Umgebung, in welcher die Untersuchung vorgenommen werden sollte, rief in ihren scharfen Kontrasten einen höchst eigentümlichen Eindruck bei dem Beschauer hervor. Der palastähnliche Bau, die fürstliche Einrichtung, die Erinnerungen an das friedliche Leben des gestrigen Tages, so z. B. der Anblick des offenen Pianos, das durch einen zierlichen Damenfächer am Notengestell festgehaltene Musikheft, – fesselten meine Aufmerksamkeit in gleichem Maße wie das düstere Bild der heute zusammengewürfelten und ungeduldigen Schar, die sich um mich drängte.

      Ganz besonders zog mich auch ein lebenswahres Porträt an, welches an der Wand mir gegenüber hing; es war ein reizendes, von poetischem Duft überhauchtes Gemälde. Das Bild einer jungen, goldlockigen, blauäugigen Schönen im Kostüme des ersten Kaiserreichs. Sie stand auf einem Waldpfade und schaute über die Schulter zurück, als ob ihr jemand folge, mit so schelmischem Auge und so frischem Kindermunde, daß es mir wie eine getreue Nachahmung der Wirklichkeit erschien. Hätte sie nicht das ausgeschnittene Kleid mit der hohen Taille und die kurzgeschnittenen Löckchen auf der Stirn gehabt, ich würde das kleine Kunstwerk für das wohlgetroffene Porträt einer der Damen des Hauses gehalten haben.

      Von dieser lieblichen Mädchengestalt glitt mein Blick auf das tiefernste, kluge und aufmerksame Gesicht des Coroners sowie auf die Gruppe der Geschworenen und auf die zitternden Gestalten der sich in einer Ecke zusammendrängenden Dienerschaft des Hauses, endlich auf den blassen, schäbig gekleideten Reporter, der an einem kleinen Tische saß und mit geschäftsmäßiger Hast seine Notizen machte.

      Der Coroner Hammond war mir von früher her bekannt; er galt für einen Beamten von außergewöhnlichem Scharfsinn, der seines schwierigen Berufes mit großer Gewissenhaftigkeit, Gewandtheit und Umsicht waltete.

      Was die Geschworenen anbelangt, so trugen sie im großen und ganzen das bei derartigen Gelegenheiten gewöhnliche Gepräge.

      Wie es der Zufall brachte, waren sie von den Straßen aufgelesen, aber von solchen Straßen, in denen sich der Hauptverkehr regt; sie machten den Eindruck von intelligenten Geschäftsleuten, welche, voll Entrüstung über den Mord, im Begriff standen, ihre Bürgerpflicht zu erfüllen. Nur ein einziger von ihnen schien ein wirkliches Interesse an der Untersuchung selbst zu empfinden.

      Als erster Zeuge wurde der Arzt aufgerufen, welcher von der Familie des Verstorbenen herbeigeholt worden war. Derselbe sagte