»Du weißt, dass Krieg herrscht, angezettelt durch den so genannten Dunklen Herrscher. Eigentlich heißt er Drogan´t´Har, Sohn des Drachen. Er soll von einer menschlichen Mutter geboren sein, aber von einem Drachen gezeugt. Falls das mit dem Drachen stimmt, dächte ich eher an eine menschliche Amme oder Ziehmutter. Jedenfalls hat er einen menschenähnlichen Körper mit Echsenkopf, er ist hünenhaft und richtig böse. Sagt man. Der Sage nach hat er sich vor Hunderten von Jahren an die Spitze der Reiche hinter den Morgenbergen gesetzt und die Ork- und Goblinstämme untereinander geeint. Ihre alten Zwistigkeiten hat er beendet, indem er ihnen die Reichtümer der Zwerge und die aus Siebenreich versprochen hat. Außerdem dürfen sich die Orks an den Elben im Westen austoben, wenn sie hier mit den Menschen fertig wären. Elben konnten sie noch nie leiden.«
Er nahm einen Schluck.
»Vor mehreren hundert Jahren hat er das Land schon einmal mit Krieg überzogen. In der Überlieferung wird das der Große Krieg oder der Krieg der sechs Geschlechter genannt. Menschen, Zwerge und Elben auf der einen, Drachen, Orks und Goblins auf der anderen Seite. Als Drogan´t´Har besiegt und geflohen war, wollte man wissen, wo er sich aufhielt. So glaubte man, gewappnet zu sein, falls er sich wieder erheben würde. Also wurde eine Art magisches Fernglas geschaffen, mit dem man seinen Aufenthalt bestimmen konnte. Auch in unseren Märchen und Sagen gibt es Kristallkugeln und Spiegel, in denen man in die Vergangenheit, in die Zukunft oder einfach an andere Orte sehen kann. Der Spiegel hier ist aber real. Gegossen haben ihn die Zwerge in den Hochöfen ihrer Erzminen zusammen mit den Menschen und den Elben. Die Menschen haben eine Schuppe von Drogan´t´Har beigetragen, die sie ihm abgeschlagen hatten. Sie liegt im Mittelstück und stellt die magische Verbindung zu ihm her. Die Elben haben die Außenteile mit Magie belegt, jedes Stück mit einer anderen, sie ergänzen sich und steigern ihre Macht gegenseitig.«
Er sah sie an, vermochte aber nicht zu deuten, ob sie die Stirn vor Skepsis oder vor Verwirrung gerunzelt hatte. Also bot er ihr einen Vergleich.
»Du bist gut im Bogenschießen und bist damit für deine Gegner gefährlich. Noch gefährlicher wirst du, wenn du reiten lernst. Du bist schneller und kannst aus der Bewegung schießen. Und es wäre für sie das Ende, wenn du in die Zukunft sehen könntest und wüsstest, wo du ihnen aufzulauern hättest. Genauso unterstützt eine Scherbe die andere mit ihrer jeweiligen Fähigkeit.«
Julia schüttelte den Kopf.
»Kein Märchen?«
»Glaub´ ich mittlerweile nicht mehr. Aber der Reihe nach! Auf jeden Fall wurde der Spiegel regelmäßig alle paar Jahrzehnte zwischen Zwergen, Menschen und Elben reihum weitergegeben. So war jede Art eine Zeitlang Bewahrer des Friedens. Es war ein fruchtbares Zeitalter. Irgendwann zerbrach ein Naturereignis den Spiegel entlang der Ränder in seine ursprünglichen Einzelteile. Drogan´t´Har hat ein paar Scherben erbeutet und versucht, sie zu nutzen, weshalb man sich heute bemüht, die restlichen seinem Zugriff zu entziehen. Sie sind unzerstörbar, es sei denn, man wirft sie in den Silbersee. Dort sollen sie sich auflösen. Übrigens: Drachen hat man seit dem Großen Krieg nie wieder gesehen.«
Er machte eine Pause. Unvermittelt offenbarte er ihr dann sein Schicksal und seine Mission.
»Das Mittelstück hat uns heute der Zufall in die Hände gespielt, die Drachenschuppe hab ich aber nicht erkennen können. Das Glas ist angelaufen und trübe geworden. Die Scherben wurden vom Schicksal über den ganzen Kontinent verstreut. Zwei hatte ich schon. Eine hat mir jemand heimlich zugesteckt, der einen Tag darauf erdolcht wurde. Die andere habe ich einem Schamanen abgenommen.«
»Einem Schamanen?«
»Einem Priester, einem Zauberer, einem Medizinmann der Orks.«
Julia nickte, so gut es mit dem aufgestützten Kinn eben ging.
»Beide Male wurde mir das Leben ziemlich schwer gemacht. Drogan´t´Har lässt die Scherben suchen und ihre Besitzer umbringen. Die von heute muss schon auf dem Weg zu ihm gewesen sein, denn der Räuber trug sein Zeichen.«
Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Sage zu erzählen bedrückte ihn. Er war zu tief darin verwickelt.
»Bei der Verzauberung ist etwas schiefgelaufen, denn die Scherben zeigen nicht nur Drogan´t´Hars Aufenthaltsort, sondern verstärken neben ihren eigenen auch seine magischen Fähigkeiten. Besonders, wenn sie in ihrer ursprünglichen Lage aneinandergefügt werden. Wenn er den Spiegel komplett zusammenbauen könnte, wäre das das Ende nicht nur von Siebenreich. Wo immer ein Bruchstück das Tageslicht erblickt, kann er dorthin sehen und es orten. Also leben in Siebenreich, bei den Elben und bei den Zwergen eine Handvoll unerkannter Helden. Sie versuchen, ihre Stücke heimlich zum Silbersee zu bringen, in dessen Fluten zu werfen und dem Zugriff des Drachensohnes ein für alle Mal zu entziehen. Mich hat das Schicksal zu einem der Ihren gemacht. Meine Scherben sind so ziemlich die letzten, die nicht zerstört oder von Drogan´t´Har erbeutet worden sind. Nicht ganz ungefährlich, wie du an dem Überfall im Gasthof gesehen hast. Die Häscher hatten die Brandmale am Unterarm.«
»Ja, die Drachenköpfe«, Julia nickte. »Und wo liegt dieser Silbersee?« Sie saß über den Tisch ganz nah zu Mike herübergebeugt und hing mit schief gelegtem Kopf förmlich an seinen Lippen.
»Mitten im Orkland hinter den Morgenbergen. Kaum hinzukommen. Und mit Sicherheit bewacht. Ach so …« Er stockte, musste sich scheinbar überwinden, um weiterzusprechen. Sich daran zu erinnern, war ihm wohl unangenehm. »Übrigens nur einige Tagesreisen südlich des Ortes, an dem der Sage nach das magische Tor vermutet wird.«
14.
Versunken in Gedanken an all das, was sie heute erlebt, gesehen und gehört hatte, trottete Julia hinter Mike her. Der hatte seinen Schlitten zerlegt, Fell und Riemen auf seinen Tornister gebunden und sich den auf den Rücken geworfen. Das Birkenholz hatte er beim Schmied an dessen Brennholzstapel gelehnt.
Julias neue Schuhe waren bequem. Etwas zu groß, aber weich, mit einer anschmiegsamen Sohle, durch die sie Unebenheiten oder Steine und Stöcke gerade eben erahnen konnte, ohne, dass sie schmerzten. Es waren lederne Schnürschuhe ohne Absatz und mit einem knöchelhohen Schaft.
Der Schuster war von ihren Sandalen begeistert gewesen. Eine so feine Arbeit hätte er noch nie gesehen. Julia hatte sie ihm gern überlassen, waren sie doch nutzlos geworden. Der Schuster wollte die Sandalen untersuchen und nachmachen. In der nahen Hauptstadt würde man sie ihm aus den Händen reißen, endlich wäre seine Arbeit nicht mehr eintönig und trüge auch noch Früchte. Die Landbevölkerung wolle nur derbes Schuhwerk und zahle wenig.
Die Erinnerung an diese kurze Begebenheit begleitete Julia länger, als das ganze Geschäft gedauert hatte. Über ihre neuen Schuhe freute sie sich.
Sie nahm kaum wahr, dass sie in der Dämmerung Königstein erreichten. Die Stadtwache hatte sie eingehend befragt nach ihrer Herkunft, dem Zweck ihres Kommens und der Dauer ihres Aufenthaltes. Mike hatte geantwortet, auch in ihrem Namen. Sie hatte sich stumm gegeben, ab und zu die Schultern gezuckt oder als Antwort genickt oder den Kopf geschüttelt. Ihre Gedanken versuchten zu intensiv, das in Siebenreich Erlebte und Mikes Erzählungen mit ihrem bisherigen Weltbild in Übereinklang zu bringen. So konnte sie sich neuen Eindrücken oder dem Woher und Wohin in den Fragen des Torwächters nicht hinreichend widmen.
Ein Gedanke hatte sie dennoch zum Schmunzeln gebracht. Als sie die Silhouette von Königstein aus der Entfernung studieren konnte, schien sich das ihr bekannte Freising mit dem Domhügel vor ihr aufzubauen. Bis ihr einfiel, dass sie seit ihrer Ankunft in diesem seltsamen Land nicht eine einzige Kirche entdeckt hatte.
Unterwegs hatte Mike es ihr erklärt.
»Die Leute sind zu sehr in ihrem Aberglauben verhaftet, als dass sie eine Religion mit einem Gott oder mit Göttern begründen könnten. Es gibt wohl übers Land verstreut einige Schreine, Säulen oder Altäre, an denen wenige Leute den alten, meist vergessenen lokalen Gottheiten ihrer Altvorderen huldigen. Zwerge und auch Orks, letztere mit ihren Schamanen, sind wesentlich beflissener, eine Religion auszuüben. Meist ist es eine Naturreligion. Die ist häufig auf Häuptlinge