Michael Kothe

Siebenreich - Die letzten Scherben


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belauscht. Es sieht aus wie Fantasy, und eine Rolle spielt hier auch jeder. Denen von hier ist sie angeboren, wir von drüben nehmen sie an oder schaffen sie uns. Die Realität ist Krieg, Unterdrückung und Kampf. Verwundungen heilen unter Umständen, aber Arm ab ist und bleibt Arm ab. Und wenn du tot bist, stehst du eben nicht in der nächsten Stadt oder am nächsten Lagerfeuer wieder auf. Tot ist tot. Und zurück nach Freiburg kommst du auch nicht mehr. Zumindest nicht so schnell. Das ist der Unterschied zum Rollenspiel.«

      Julia lehnte sich entspannt zurück, atmete ohne Aufregung, obwohl seine Erklärungen weniger geeignet waren, sie zu beruhigen, sondern eher, sie in ihre Angst und geistige Lähmung zurückzuschicken. Endlich jemand, der ihre Situation und ihre Verunsicherung verstand! Jemand, der sie aus der Willkür eines Wilden gerettet hatte und der ihr nun die Lage erklärte. Mit wenigen klaren Worten. Und mit einem gewissen Spielraum, wie sie unterstellte. »Wir nehmen eine Rolle an oder schaffen sie uns«, hatte er gesagt. Das klang gut. Nach einem Ausweg, wenn man bloß suchte und sich entsprechend bemühte. Den Rest schien sie nicht gehört zu haben. Sie lächelte und nahm einen weiteren, diesmal langen Zug. Auf einmal schmeckte der Apfelwein gar nicht mehr so sauer.

      5.

      Irgendwann hatten sie ihre Krüge geleert, es war spät geworden. Sie standen auf. Julia torkelte. Im Gegensatz zu Mike hatte sie Mühe, sich aufrecht zu halten und ihren Weg nach draußen zu finden. Er hatte seinen Tornister an einem Riemen gegriffen, hievte ihn hoch und warf ihn sich über die Schulter. Ihren Arm schlang er um seinen Hals und fasste sie um die Taille. Sie fand es bequem, so gestützt zu werden. Nicht ohne Stolz merkte sie, dass sie kaum kleiner war als er. Zuerst empfand sie seine Berührung nur als fürsorglich und angenehm. Sie war einfach zufrieden, nicht ihr ganzes Körpergewicht ihren weichen Knien und den Füßen anvertrauen zu müssen, die ihr nicht mehr ganz gehorchen wollten. Dann fand sie den Kerl irgendwie sympathisch.

      Den Weg zur Türe legten sie als Gespann zurück. Die Frische der Nachtluft draußen umfing sie überraschend. Sie machte sich von ihm los und war nach ein paar tiefen Atemzügen froh, wieder einigermaßen sicher auf eigenen Füßen zu stehen. Nach wenigen Schritten hatte sie ihr Gleichgewicht wiedergewonnen.

      Ganz dunkel war es nicht. Ein bleicher Mond erlaubte es, einige Schritt weit Konturen zu erkennen. Nebel hatte aus der Ebene den Weg über die Mauern gefunden. Alles war schemenhaft, und die feuchtkalte Luft war gewürzt mit dem unverkennbaren Geruch nach Vieh, Heu und Unrat. In kurzem Abstand folgte sie Mike zwischen den Zäunen und Palisaden innerhalb des Gehöfts zu der Scheune, in deren Obergeschoss der Wirt ihnen die Schlafplätze zugewiesen hatte.

      Die Gestalt nahm sie erst wahr, als sie schon fast zusammengestoßen waren. Ein Mann, nicht groß, aber Angst einflößend. Er war zerlumpt gekleidet, von drahtigem Körperbau und mit Narben im Gesicht und an den Armen. Ihre Form deutete auf Schnittwunden hin. Nun erkannte sie auch den Zweck seiner pendelnden Bewegung! Sein Messer wechselte er ständig von der einen in die andere Hand, die Spitze mal nach oben, mal nach unten gerichtet. Er stand leicht nach vorn gebeugt, sein ganzer Körper wiegte sich von einem Bein aufs andere.

      Das Verhalten eines geübten Messerstechers! Julia kannte es aus Filmen. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn in der Gaststube gesehen zu haben. Vielleicht hatte er sich in der Dämmerung eingeschlichen, um zu später Stunde einzelne Zecher auf ihrem Weg zum Schlafplatz abzupassen. Dies barg für ihn wenig Gefahr, die Opfer wären wohl müde und nicht mehr ganz die Herren ihrer Sinne. Und bis jemand auf ihre Hilferufe aufmerksam geworden wäre und zwischen den Nebengebäuden des Gasthofes den Tatort ausgemacht hätte, wäre er längst über alle Berge. Aber es war ohnehin unwahrscheinlich, dass jemand zu Hilfe käme. Zu groß wäre die Angst, selbst Opfer zu werden. Wer würde ihnen helfen?

      So stand er ihnen gegenüber, Hohn und Überlegenheit sprachen aus seinem gehässigen Grinsen. Sein schlechtes und lückenhaftes Gebiss fand Julia abstoßend. Seine Handbewegung war klar, er hatte es auf ihre Habe abgesehen. Der Tornister versprach reiche Beute.

      Sie sah zu Mike hoch. Gib ihm endlich den verdammten Rucksack, forderte sie ihn in Gedanken auf. Zu sprechen traute sie sich nicht. Alles andere als sicher war sie sich allerdings, ob der Schlitzer sie dann gehen ließe. Zumal sie nun eine weitere Gestalt aus dem Nebel auftauchen sah.

      Der Neue war kräftig gebaut, ohne dick zu sein. Eher zäh und ausdauernd. Er drückte sich zwischen seinem Kumpan und dem Bretterzaun hindurch. Auf diese Weise würde er sich Mike und Julia in den Rücken schieben. Sein Messer ließ er im Gürtel stecken. Stattdessen schwang er eine Keule in Richtung seiner Opfer.

      Julia zitterte, kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Die Situation war eindeutig, die Halsabschneider brauchten keine Worte. Sie hatte sich flach an den Zaun gedrückt. Verzweiflung packte sie, als sie feststellen musste, dass es unmöglich war, sich durch die zu schmalen Lücken zu zwängen. Instinktiv ging sie in die Hocke. Dass auch das keine Rettung versprach, war ihr klar. Es gab ihr höchsten ein paar Augenblicke mehr zu leben. Genau die Zeit, die die Galgenvögel brauchten, sie auf die Beine zu ziehen, nachdem sie Mike erstochen oder erschlagen hatten! Er stand so, dass er keines seiner Schwerter hätte ziehen und sich verteidigen können. Ihr Schicksal war besiegelt.

      Zwischenzeitlich hatten die Räuber ihre Opfer eingekeilt. Julia musste sich beinahe übergeben vor Angst und Ekel. So nah standen ihr die beiden, dass ihr der Geruch nach Schweiß und Alkohol Übelkeit bereitete. Anscheinend genossen sie ihre Position der Stärke, sonst hätten sie schon längst angegriffen. Aus der Nähe sah Julia nun die Nägel, die der Größere in seine Keule getrieben hatte. Lang. Spitz. Tödlich.

      Von Mike durfte sie dieses Mal keine Hilfe erwarten. Sie fand ihn unbewegt, angespannt. Er blickte den Wegelagerern in die Augen, als versuchte er, durch ein erhaschtes Blinzeln den Augenblick des Angriffs zu erkennen.

      Leises Scharren erweckte Julia aus ihrer Starre. Unvermittelt sackte der Messerstecher in sich zusammen, ohne dass sie vorher eine Regung der drei Männer hatte erkennen können. Auch der Schläger blickte verständnislos auf seinen Spießgesellen. Als er den Kopf wieder seinem vermeintlichen Opfer zuwandte, war dies die letzte Bewegung, die er in seinem Leben vollführte.

      Mike untersuchte die Toten schnell und oberflächlich. Er streifte ihre Jackenärmel zurück, Julia konnte flüchtig bei beiden eine Art Brandmal oder Tätowierung an der Innenseite eines Unterarmes erkennen. Mike nickte, murmelte etwas, das Julia nicht genau verstand. Es hatte geklungen wie »Hatte ich erwartet«.

      Als er mit seiner Untersuchung fertig war, beugte sich zu Julia herab und zog sie am Handgelenk auf die Beine. Seinen Tornister wechselte er auf die andere Schulter, griff ihn fester und legte den Zeigefinger auf die Lippen.

      »Das war´s dann wohl. Aber kein Wort darüber!«

      Dann schob er sie vor sich her in Richtung Scheune.

      Sie beherrschte sich, unterdrückte ihre Panik, blieb stumm, genau wie während der eben überstandenen Szene. Nicht ein Wort war gefallen zwischen den Galgenvögeln und ihren Opfern, die letztendlich lebend und, ohne Beute geworden zu sein, ihrem Schlafplatz zustrebten. Julia fügte sich in die Eile, zu der er sie antrieb. Sie war froh, dem Schauplatz des Überfalls zu entkommen, und wollte nichts sehnlicher als weit weg, möglichst schnell. Es war schlimm genug zu wissen, dass sie im Lauf des kommenden Morgens wieder hier vorbeimusste. Der Gasthof bot keinen anderen Ausgang.

      Für den unerwartet glimpflichen Ausgang ihres Abenteuers hatte Julia keine Erklärung. Dennoch wagte sie nicht zu fragen, was die Halsabschneider zu Boden geschickt und ihnen das Leben geraubt hatte. Vor der Antwort hatte sie Angst. Einen brutalen Trick vermutete sie. Ausgeführt von dem Mann, der sie vorher und jetzt wieder aus einer Gefahr gerettet hatte, deren Folgen sie sich nicht ausmalen wollte. Er wurde ihr unheimlich.

      6.

      Nach wenigen Augenblicken, die Julia als Ewigkeiten empfand, erreichten sie die Scheune. Die Holztreppe zum Heuboden über dem Stall war steil und ließ ein Geländer vermissen. Das Schnarchen, Röcheln und die anderen Geräusche, die zweifelsfrei von zahlreichen Schläfern stammten, übertönten das Knarren der Stufen. Hier sollte sie nun den Rest der Nacht verbringen? Preisgegeben