Kerstin Wandtke

Kind des Lichtes


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sie sahen keine Knochen, wie beim verendeten Vieh in den Ställen. Irgendein böser Fluch hatte die Bewohner nach ihrem Tot so erstarren lassen. Sie schienen völlig Intakt. Abgesehen von den fehlenden Augen waren alle Körper erhalten und schienen in ewiger Ruhe bewegungslos auszuharren. Alina sah vertrocknete Männer, Frauen und kleine Kinder, sah aufgerissene Münder, geballte Fäuste, sah abgerissene Gliedmaßen und aufgeschlitzte Bäuche. Einigen hatte man Pfähle durch die ganzen Körper getrieben, andere hingen am eigenem, trockenen Gedärm an den schweren Ketten, die vom Dach des Gewölbes hingen. Viele der Kinder hatte man wohl einfach auf die langen Fackelträger geworfen, die überall wie große Dorne aus den Wänden ragten, denn sie hingen, zum Teil grotesk verdreht, oft zu mehreren übereinander. Das war einfach zuviel für Alina und sie sank jetzt weinend zu Boden. Raven bemerkte dies kaum, er starrte nur völlig fassungslos auf die vielen Toten seines Volkes. Wie konnte das nur geschehen sein, wer war so Mächtig ein ganzes Geschlecht zu überraschen und ihnen so etwas anzutun. Nun, diese Frage war schnell beantwortet. Nur Menschen waren zu solchen Gräueltaten fähig. Sie hatten die Einwohner wahrscheinlich gegen Morgen überrascht, alle hierher verschleppt, um sie dann so grausam hinzurichten. Wahrscheinlich wurden denen vorher auch noch die Flügel gebrochen, damit diese nicht fliehen oder gar Hilfe holen konnten. Das würde auch erklären, warum noch alle Güter der Familie vorhanden waren. Menschen waren der Meinung, dass die Dinge der anderen Völker ihnen Unglück brächten. Sie kamen nur um zu Töten, beließen aber alles andere wie es ist und mieden fortan die Orte ihrer Taten. Sogar das Vieh ihrer Feinde musste in den Ställen qualvoll verhungern. Sein Hass auf die Behaarten wuchs. Er bückte sich, hob Alina sanft auf und verließ mit ihr auf den Armen diesen Ort des Schreckens. Doch er schwor den Toten im Gedanken, zurück zu kehren, um ihre gefangenen Seelen für immer zu befreien. Niemand verdient einen solchen Tod, noch nicht einmal ein Mensch hätte so etwas verdient.

      Es war eine schmutzige Arbeit. Raven schwitzte und keuchte die ganze Zeit, doch er gab nie auf, stieg immer wieder in die Tiefe um neue von ihnen hoch zum Burghof zu bringen. Dort saß Alina in der Dunkelheit und blickte stumpf in die knisternden Flammen des großen Feuers, das durch seine Arbeit immer weiter mit Nahrung versorgt wurde. Gierig verschlang es die trockenen Überreste der Familie, die hier einst lebte. Es dauerte lange, sehr lange, doch schließlich trug er den letzten Körper empor, übergab auch diesen den Flammen und setzte sich danach still neben sie nieder. Er zog sie in seine schmutzigen Arme, und als ihre Tränen zu fließen begannen, wiegte er sie wie ein kleines Kind. Später in der Nacht, als das Feuer schon heruntergebrannt war, und sie in seinen Armen unruhig schlief, trug er sie sanft hinein, legte sie auf ihre Felle und entzündete im Kamin ein kleines Feuer. Er wusch sie gründlich, drehte sich danach um und betrachtete sie voller Mitgefühl. Was mochte das heut Erlebte in ihr angerichtet haben. Oh, es hatte auch ihn erschreckt aber er war schon weit in der Welt herumgekommen, hatte schon viele ähnliche Dinge gesehen. Aber für sie war das alles so neu, so fremd und dann mussten sie auch noch auf die vielen Toten dort unten stoßen. Er beschloss, in Zukunft etwas vorsichtiger zu sein und das nächste Mal besonnener vorzugehen. Sie warf sich jetzt unruhig herum und er legte sich rasch zu ihr, nahm sie fest in seine Arme und wünschte ihr jetzt und für den Rest der Nacht gute Träume.

      Wieder umgab Alina völlige Finsternis. Sie hatte schreckliche Angst und tastete sich blind voran.

      „Mutter, bist du hier?“ Doch sie erhielt vorerst keine Antwort.

      „Bitte, Mutter, es ist so dunkel und ich habe große Angst.“ Sie hörte ein leises Geräusch gleich einem fernen Wispern. Voller Angst trat sich zurück, ohne zu sehen wohin.

      „Wer ist da, bitte, ich kann doch nichts sehen,“ weinte sie jetzt fast.

      „Hab keine Angst mehr, meine Tochter.“ Sagte ihre Mutter jetzt wie aus weiter Ferne, aber sehr sanft zu ihr, „ich habe dich hierher gerufen, denn es möchte dich jemand sprechen, der dich anders nicht mehr erreichen kann.“ Und dann sah Alina vor sich ein zartes Leuchten, das beim näherkommen langsam immer heller wurde. Sie sah, das ein kleines Mädchen langsam auf sie zu Schritt und das Leuchten bei ihm seinen Ursprung hatte. Dicht vor Alina blieb die Kleine stehen und sah lächelnd zu ihr auf. Sie trug ein bezauberndes rotes Kleid, hatte langes, schwarzes Haar und ihre kleinen Flügel standen ihr keck vom Rücken ab. Verwundert blickte Alina zu ihr hinunter.

      „Ich grüße dich, liebe Freundin,“ sagte die Kleine klar und deutlich, „ich heiße Ambra, bin der Familie des Ranguhls vor langer Zeit als Tochter geboren worden und wurde mit acht Sommern von den Menschen, die auch unser Zuhause zerstört haben, getötet. Meine Familie hat mich zu dir geschickt um euch unseren Dank für unsere Befreiung zu übermitteln. Dein Begleiter ist aus unserem Volk, aber für uns unerreichbar, deshalb bist du jetzt hier, nur du kannst mich sehen und verstehen.“ Alina sah die Kleine liebevoll an, und diese lächelte glücklich weiter zu ihr auf.

      „Ich verstehe dich, Ambra,“ sagte Alina jetzt, „aber in der wahren Welt bin ich stumm, ich kann ihm nie von dir oder deiner Familie erzählen. Aber ich bin froh, dass ihr jetzt euren Frieden gefunden habt.“ Glücklich blickte sie nun auch das Kind an.

      „Nun,“ Ambra sah sie verschmitzt an,“ auch in der wahren Welt geschehen manchmal noch Wunder.“ Damit drehte sie sich jetzt langsam um und verschwand nun wieder in der Dunkelheit.

      „Hab nochmals vielen Dank.“ Rief sie noch einmal und winkte Alina ein letztes Mal zu.

      „Und ich wünsche euch alles Gute,“ flüsterte Alina und sah ihr noch lange nach.

      Sie erwachte langsam und fühlte sich recht wohl, wusste sie doch jetzt, dass es ihnen bestimmt war, die Toten zu finden und ihnen ihren Frieden zu geben. Sie schlug ihre Augen auf und sah in Ravens ruhigen, braunen Blick, der sie jetzt voller bedauern musterte.

      „Wie geht es meiner kleinen Fee heute Morgen?“ Fragte er besorgt, „der Tag gestern war hart, für uns beide, und…“ doch weiter kam er nicht, denn sie legte ihm rasch einen ihrer kleinen Finger auf seine Lippen. Nahm seine Hand in ihre, zog ihn mit hoch als sie aufstand und zerrte ihn die Treppe hinauf zur langen Galerie. Sie stoppte vor einem Gemälde, das eine Frau mit einem Kind auf ihrem Schoß, darstellte. Das Kind war Ambra. Auf dem Bild war sie zwar jünger als letzte Nacht, aber sie war es, unverkennbar. Alina deutete lächelnd auf das Portrait, doch Raven verstand sie nicht, sah sie weiterhin nur fragend an.

      „Was, was ist mit dem Bild?“ Alina faste sich hilfesuchend an den Kopf und deutete dann noch einmal auf genau auf das Kind. Raven blickte sie nur verwirrt an.

      „Das Kind?“ Fragte er, „was ist mit dem Kind?“ Raven überlegte einen Moment, dann sah er sie wieder an und meinte nur vorsichtig,

      „Hast du von ihr geträumt?“ Sie nickte ihm lachend zu, packte ihn wieder und zog ihn eilig zurück zur großen Halle. Er war völlig verblüfft von ihr und ließ sich bis zum Kamin mitziehen. Dort angekommen deutete sie überschwänglich auf das kleine Feuer, das dort seine Wärme verbreitete.

      „Ja,“ meinte er voller Trauer, “das Feuer.“ Doch sie nahm als Antwort nur sein Gesicht in beide Hände, zog es zu sich herab und sah ihm dabei ganz ernst in die dunklen Augen.

      „Moment, du meinst kein Feuer,“ er überlegte wieder und dann dämmerte es ihm langsam.

      „Du meinst Licht?“ Sie nickte strahlend mit dem Kopf.

      „Erlösung?“ Wieder nickte sie lachend.

      „Du meinst, sie haben Frieden gefunden?“ Sie sah lachend zu ihm auf. Da packte er sie, hob sie hoch in die Luft und wirbelte sie, nun auch lachend, mit sich herum.

      „Das ist wundervoll, kleine Fee,“ rief er ausgelassen, „das ist so wundervoll.“ Anschließend, und völlig außer Atem, setzte er sie wieder ab und ihr Blick wanderte wie magisch angezogen wieder zu den großen, schönen Figuren. Ganz ruhig stellte sie sich unter sie, und Raven trat hinter sie.

      „Später, wenn wir mein Schloss erreichen, werde ich dir welche Bauen lassen.“ Überrascht sah sie zu ihm auf, zu verblüfft, um das eben gehörte. Doch Raven hatte sich entschieden.

      „Ja, du wirst mich auf meiner Reise begleiten. Ich nehme dich mit mir heim, und um das Meer kümmern wir uns,