Anna Rawe

Die Rebellenprinzessin


Скачать книгу

ist das?“, fragte er und musterte mich skeptisch.

      Rubina ignorierte seine Frage. „Bitte!“, verlangte sie erneut, diesmal wesentlich schriller, „Helft ihr! Rettet Grannie!“

      Der Mann wirkte nicht ansatzweise schockiert – weder von dem leblosen Körper Grannies in diesem Laken, noch von Rubinas Worten.

      „Wer ist das, Rubina?“, wiederholte er langsam.

      Rasend vor Wut warf Rubina ihren Kopf herum.

      „Grannie wird sterben!“, schrie sie mitten in sein Gesicht, „Also hör verdammt nochmal auf, Fragen zu stellen und hilf uns!“

      Endlich gab der Mann nach. Beherrscht deutete er auf den kreisrunden Tisch, der die Mitte des Raumes einnahm. „Legt sie dorthin.“

      Noch bevor Grannies Körper mit dem Laken die Tischplatte berührte, stürmte eine Frau in den Raum.

      „Was ist passiert?“, fragte sie atemlos. Ihr Gewand klimperte bei jeder Bewegung und ein seltsamer Duft nach Gewürzen und Kräutern umwehte sie wie eine Wolke. „Wo ist sie?“

      Ich trat ein paar Schritte zur Seite, um ihr den Weg freizumachen. Bunte Tücher und schwarze Locken rauschten an mir vorbei. Dann beugte sich die fremde Frau über Grannies Körper.

      „Sie hat viel Blut verloren“, hörte ich sie murmeln, „Ich weiß nicht, ob …“

      „Bitte!“ Rubina strich Grannie erneut mit zitternden Händen über die Stirn. Ihre Augen waren geschwollen und rot. „Bitte, tut alles, was Ihr könnt.“

      „Ich werde mein Bestes versuchen.“ Die Heilerin fasste Rubinas Hand und hielt sie für einige Sekunden, bevor sie sie in Grannies legte. Dann breitete sie in einer fließenden Bewegung ihre Hände über Grannies leblosen Körper. Ein goldenes Leuchten ging von ihren Handflächen aus.

      Ich brachte kein Wort zustande. Stumm beobachtete ich, wie das Leuchten zu einem Glimmen wurde und schließlich ganz verschwand, wie die Heilerin anschließend nach Wasser und Tüchern verlangte, wie sie verschiedene Fläschchen, Gläser, Phiolen und Tiegel aus einem Lederbeutel holte und seltsam riechende Zutaten in einem kleinen Schälchen vermengte, wie eine Frau ihr Tücher und Wasser reichte und die Heilerin eines der Tücher mit einer klaren Flüssigkeit beträufelte und vorsichtig auf die klaffende Wunde zwischen Grannies Schulter und ihrem Hals drückte. Grannie stöhnte und die Heilerin murmelte einige beruhigende Worte, bevor sie erneut in ihren Lederbeutel griff und etwas zutage förderte, das an eine Nadel mit etwas Faden erinnerte. Mit geschickten Stichen nähte sie das offene Fleisch über der Wunde wieder zusammen. Anschließend rührte sie das Gemisch in der Schale ein weiteres Mal um, ehe sie es gleichmäßig über der Naht auftrug und mehrere Tücher faltete, die sie wie einen Verband um Grannies Schulter schlang.

      „Das ist alles“, sagte sie schließlich, ohne den Blick von Grannies Körper zu wenden, „Mehr kann ich momentan nicht tun.“

      Sie packte die Fläschchen und Phiolen und Schälchen und Tiegel zurück in ihren Beutel und dann trat sie zurück.

      „Sie sollten für sie beten“, hauchte sie in Rubinas Richtung, bevor sie sich umdrehte und ging.

      Stumm starrte Rubina auf den schlaffen Körper ihrer Großmutter. Ihre Finger blieben fest mit denen von Grannie verschränkt, während sie lautlos niedersank.

      Im Augenwinkel bemerkte ich, dass jemand neben mich getreten war. Zögernd drehte ich den Kopf ein Stück und erkannte den älteren Mann von vorhin.

      „Wir sollten sie allein lassen“, flüsterte er so leise, dass ich Mühe hatte, ihn zu verstehen. Mit einer Handbewegung wies er auf einen der Tunnel, die den Raum verließen.

      *****

      „Ich denke, wir sollten uns unterhalten.“

      Die Stimme des Mannes durchbrach das Schweigen, das uns bisher umgeben hatte. Kaum, dass wir den kleinen Raum betreten hatten, wies er auf einen Stuhl.

      „Bitte, setz dich.“

      Stumm kam ich seiner Aufforderung nach. Noch immer versuchte ich zu begreifen, was ich gesehen hatte. Mit den Fingern fuhr ich die Rillen auf dem Holztisch nach, der zwischen mir und dem Mann stand. Dieses Wesen – Unmöglich, dass ein Wolf so riesenhaft und … blutrünstig war. Und das hier – dieser Raum, diese Tunnel mit den kahlen Steinwänden und Holzbalken, mit Fackeln – Wo um alles in der Welt war ich nur gelandet? Meine Fingerspitze verharrte in einer besonders tiefen Kerbe, die das helle Holz des ansonsten dunkel gewordenen Tisches offenlegte.

      „Ich bin Raymond.“

      Als ich den Blick hob, sah ich direkt in seine dunklen Augen, die mich so durchdringend musterten, dass ich schauderte.

      „Wie heißt du?“

      Ich zögerte mit meiner Antwort.

      „Evangeline“, sagte ich schließlich knapp, „Evangeline MacKay.“

      Er nickte. „Also gut, Evangeline. Du hast Ruby also geholfen, Grannie herzubringen?“

      „Ja.“

      „Die beiden haben dich nie zuvor erwähnt. Woher kennt ihr euch?“

      Ich sah auf. Während die warmen Flammen dunkle Schatten an die Wände warfen, schien sich die Zeit in Sirup zu verwandeln.

      „Ich kenne sie nicht wirklich“, hörte ich mich sagen, „Sie … sie haben mir angeboten, bei ihnen zu übernachten. Nur für diese Nacht.“

      „Warum?“ Raymonds Stimme war so langsam wie warme Schokolade. „Wie kommt es, dass du ein Dach über dem Kopf suchst? Und warum bist du ausgerechnet bei Ruby und Grannie untergekommen? Soweit ich weiß, hatten die beiden seit Jahren keinen Besuch mehr.“

      Mein Blick konzentrierte sich wieder auf die Kerben in der Tischplatte.

      „Es war eine … Notlage“, erklärte ich schließlich, „Ich habe mich verlaufen und bin in dieses Gewitter geraten. Ihr Haus war das erste, das ich fand. Ich war einfach nur froh …“

      Ich verstummte, ohne den Satz zu beenden. Bei dem Gedanken an Grannies Lächeln stieg warme Übelkeit in mir auf. Der Eisengeruch schien mit einem Mal überall zu sein und ich musste schlucken.

      „Und Grannie und Rubina haben dir ein Zimmer angeboten?“, hakte Raymond nach.

      „Ich wollte nicht … Ich meine, ich wollte mich nicht aufdrängen. Ich habe sie nach einem Telefon gefragt, doch sie haben keins.“ Als ich wieder daran dachte, kam mir ein Gedanke. „Vielleicht wissen Sie ja zufällig, wie weit es von hier aus nach Calgary ist?“

      Der Mann rang für einen kurzen Moment um seine Fassung, fing sich jedoch schnell wieder.

      „Es … ist ein ganzes Stück“, antwortete er knapp, „Wohnst du dort?“

      „Ja.“ Meine Finger kratzen über kleine Holzsplitter am Rand der Kerbe.

      „Deine Eltern werden dich sicherlich schon vermissen.“

      Der Gedanke an Mom und Dad ließ mich für einen Augenblick innehalten. Ich sah die beiden in unserem Wohnzimmer, zwischen all den offenen Kisten und Kartons und Legosteinen und Kuscheltieren, Mom auf der Couch sitzend, den Kopf in die Hände gestützt und Dad am Fenster, wie er zum fünfzigsten Mal in dieser Stunde versuchte, mich zu erreichen.

      „Du kannst über Nacht hierbleiben, wenn du möchtest.“ Ich hörte, wie Raymond atmete. Tief und ruhig, obwohl er vor Anspannung die Hände so ineinander verschränkt hatte, dass die Knöchel weiß hervortraten.

      „Und morgen …“ Er zögerte. „… Morgen bringe ich dich in die Stadt. Was sagst du?“

      Erneut schweifte mein Blick durch den Raum. Die kahlen Wände und die Fackeln, das fensterlose Mauerwerk fünfzig Stufen unterhalb der Erde – hier lud absolut nichts zum Bleiben ein. Andererseits war der Gedanke, mich ein zweites Mal zu verirren oder womöglich sogar dieser Bestie über