Paul Natorp

Paul Natorp: Johann Heinrich Pestalozzi, Sein Leben und seine Ideen


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Volk. Er erschien, zunächst in einem Bändchen, zur Ostermesse 1781 und fand sofort lebhaften Anklang. Literarisch angesehen, ist es ein erster, sehr gelungener Versuch in reiner „Heimatkunst“. Das Leben des Volkes ist dargestellt ganz in der eigenen Denk-, Empfindungs- und Sprechweise des Volkes selbst, nicht wie von einem fremden, äußeren Beobachter. Hatte doch Pestalozzi in und mit dem Volke gelebt und alle seine Nöte an eigener Haut erfahren wie selten einer. Und zwar ist dieser erste Teil fast rein darstellend. Auf Volksbelehrung zwar geht die letzte Absicht, aber die Lehre verbirgt sich weise in reine, höchst lebendige und packende Geschichte; allenfalls dass sie hier und da wie unversehens im Gespräch – denn die ganze Fassung ist fast noch mehr dramatisch als erzählend – sich auch einmal direkt äußert. So tritt das Leben des unter schwachem Regiment hauptsächlich durch den schlimmen „Vogt“ (Schulzen) Hummel tief gesunkenen Schweizerdorfes Bonnal greifbar, in regster Bewegung dem Leser vor Augen. Man blickt fast in jede seiner ärmlichen Hütten hinein; das Dorfvolk zeigt sich im Alltags- und Sonntagskleid, bei der Arbeit und beim Geschwätz, daheim und auf der Gasse, im Wirtshaus und in der Kirche, in der Barbierstube, in der Gemeindeversammlung, am Totenbett usf. An grellen Lichtern und tiefen Schatten ist nicht gespart; neben den gemütvollen, etwas zu rührsamen Szenen in den Stuben der Gertrud und des Rudi stehen in oft hartem Kontrast die abgefeimten Schurkereien des Vogts und die Jämmerlichkeiten seiner prachtvoll gezeichneten Mitlumpen, der unheimlich komische Auftritt, wie der Vogt aus Rache in mitternächtiger Stunde dem Schlossherrn im tiefen Walde einen Markstein versetzen will und der gerade des Weges kommende Hühnerträger mit dem Windlicht als Teufel in Person den Entsetzten den Berg hinabjagt. Der frische Realismus der Darstellung begreift sich zum Teil daraus, dass Pestalozzi vielfach Gestalten aus dem Leben, natürlich mit Freiheit, nachgezeichnet hat; zum Vogt hat der oben erwähnte Merki Modell gesessen, zur Gertrud die Lisabeth usf. So wirkt alles wie unmittelbar aus dem Leben gegriffen; die Vorgänge, die ganze Milieuschilderung sind zugleich ein derart typischer Ausdruck damals weit verbreiteter Zustände, dass beinahe jedes Dorf seine Leute in den Figuren des Romans wiederzuerkennen meinte.

      Indessen ihm war es nicht genug, bloß den gegebenen, oft traurigen Zustand wahrheitsgetreu dargestellt zu haben; es galt, zu den Quellen der Übel aufzusteigen. Es war gezeigt: so ist es; aber nun fragte es sich: Warum ist es so? Und wie kann man machen, dass es anders werde? Diese weitere Absicht führte zu den ursprünglich wohl nicht geplanten Fortsetzungen des Romans und dann zu dem zweiten Volksbuch „Christoph und Else“, das ganz eigentlich einen Kommentar zum ersten Teil von „Lienhard und Gertrud“ darstellt, nämlich zur Erzählung die direkte Lehre hinzufügt.

       Zunächst enthält der zweite Teil des Romans (1783) in der Hauptsache die Vorführung, wie es zu den im ersten gezeichneten schlimmen Zuständen hatte kommen können, besonders in Gestalt der eingehenden Lebensbeschreibung des Vogts Hummel, in dem das Verderben des ganzen Dorfes sich gewissermaßen zusammenfasst. Diese Geschichte beleuchtet vor allem die harte Wahrheit, dass jeder in die gleiche Schlechtigkeit versinken kann, wenn er in Lagen gerät, die geeignet sind, „den Samen des Bösen in ihm so zu entwickeln, wie aus einer einzigen Kornähre ein ganzes Viertel Frucht werden kann“. „Die Umstände machen den Menschen.“ Eine schneidende Kritik der üblichen Justiz liegt in der ganzen Vorführung eingeschlossen. Pestalozzi arbeitete in derselben Zeit an der hochbedeutenden Studie über „Gesetzgebung und Kindermord“; da waren ihm jene grause Wahrheit und die Ohnmacht der bisherigen Justiz gegen sie in erschütternder Stärke entgegengetreten. Es ist auffallend, wie Pestalozzi hier die wesentlichsten Gedanken der modernen Kriminologie erreicht: dass der Gesellschaft am Verbrechen nicht nur die Mitschuld, sondern geradezu die Hauptschuld zufällt, und dass die Behandlung des Verbrechers einzig darauf gerichtet sein muss, ihn zum sozialen Leben wieder tauglich zu machen, dass sie nichts anderes sein soll als „rückführende Schule des verirrten Menschen in die Bahn und den Zustand, in welchem er gewesen wäre ohne seine Verirrung“.

       Kein Wunder, dass eine so harte Rede niemand gerne hören mochte. Schon der zweite Teil des Romans fand weit geringeren Anklang als der erste. Im dritten (1785) geht es endlich an die Heilung der Schäden. Er ist daher für den Pädagogen eigentlich der wichtigste. Es ist gewissermaßen ein Handbuch der sozialen Pädagogik, nicht in trockenen Lehrsätzen, sondern in anschaulicher Vorführung am typischen Fall des durch weise Maßnahmen einer gerechten und wohlwollenden Regierung, hauptsächlich aber durch die eigenen, noch nicht ganz zugrunde gerichteten Kräfte des Volkes selbst, durch das stille und sichere Wirken einer kleinen Zahl treu verbundener Männer und Frauen in ihm aus tiefstem Elend sich langsam wieder emporarbeitenden Spinnerdorfs. Die sozialen Bedingungen der Erziehung rücken hier besonders in helles Licht, und auf diesem sozialen Hintergrunde baut dann die Hauserziehung der Gertrud und die ihr treulich nachgebildete Schulerziehung des Glülphi sich umso wirksamer auf; beide greifen so ganz unmittelbar ein in das Leben, in das Arbeitsleben des ganzen Dorfes.

       Zuerst kommt es darauf an, die äußere Lage der unteren Volksschichten zu bessern, die notwendigsten wirtschaftlichen Vorbedingungen für ihre geistige und sittliche Hebung zu schaffen, denn „im Sumpf des Elends wird der Mensch kein Mensch“. Aber dazu muss vor allem die eigene Tätigkeit des Volkes aufgerufen und kräftig in Anspruch genommen werden; alle Hilfe, die man ihm bietet, darf nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Einer solchen Hilfe bedurfte es allerdings bei der gegebenen Lage. In einem stabilen Zustand, bei überwiegend ländlicher Arbeit gibt es eine ständige Fortpflanzung der sehr einfachen und stetigen, diesem Zustand genügenden Bildung des Landvolkes. Erst die große, damals bereits allenthalben sich ankündigende Umwälzung der Wirtschaft vom Landbau zur Industrie war es, die eine ernste Krise auch in der Erziehung des arbeitenden Volkes heraufgeführt hatte. Das unvermittelte, unvorbereitete Eindringen der Industriearbeit und des Industrieverdienstes in eine bloß auf den Feldbau innerlich eingerichtete und gerüstete Bevölkerung, das war der Nährboden, in dem alle sozialen Übel wuchern konnten. Da also mussten Gesetzgebung und Erziehung mit genau ineinandergreifenden Maßregeln einsetzen. Aus diesem Zusammenhang begreift es sich, weshalb Pestalozzi in dieser Zeit auf die Bildung zur gewerblichen Arbeit ein so starkes Gewicht legt und die ganze häusliche und Schulbildung ihr schlechthin unterordnen will. Er war nicht der Rousseauschen Überzeugung von der notwendigen Unterordnung der Berufsbildung unter die humane Bildung etwa untreu geworden. Die Unterordnung der Schulbildung, des Wortwissens unter die Berufsbildung steht vielmehr in bestem Einklang mit der Unterordnung der Berufsbildung selbst unter den schließlichen Zweck der Menschenbildung. Die Berufsbildung ist nur das erstwesentliche Mittel, auf Grund dessen allein hernach die höhere Schule des Lebens den Menschen zur „ganzen Befriedigung seiner Menschheit“ führen kann. Denn „die Lebenspflichten des Menschen sind der einzige echte Lehrmeister ihres Wissens und ihrer besten Erkenntnisse“. So lässt er denn, nach dem Vorbild der Hauserziehung der Gertrud, seinen Schulmeister die berufliche Arbeit geradezu in die Schule einführen. Die Kopfarbeit kommt dabei übrigens nicht zu kurz, und es wird, namentlich im Rechenunterricht, über dem unmittelbaren Zweck der beruflichen doch auch der höhere der menschlichen Bildung nicht vergessen. Vollends die Bildung des „Herzens“, d. h. die sittliche Bildung im Gewande der religiösen, tritt in nicht bloß gleichberechtigter, sondern überragender Stellung neben die des „Kopfes“ und der „Hand“ (eine von da ab ständig wiederkehrende Dreiteilung). Denn „Erziehung und nichts anderes ist das Ziel der Schule; nichts geringeres als das Erziehen der Kinder, und was immer ihr ganzes Erziehen erfordert, liegt im Kreise ihrer Aufgabe“. – Zur Erziehung hilft aber die Schule nur als ein wichtiger Faktor, in genauem Zusammenwirken mit allen übrigen: den wirtschaftlichen Ordnungen, der bürgerlichen Verfassung, Zivil- und Strafgesetzgebung, der Ordnung der gemeinen Zucht und Sitte, endlich der Religion. Und indem nun diese alle als Faktoren einer „höheren Polizei“ (Staatskunst) in einen einzigen Zusammenhang gebracht, auf ein und dasselbe letzte Ziel der Bildung des Menschen zum Menschen, des wilden Triebwesens zum Vernunftwesen, gelenkt werden sollen, so finden wir uns hier recht im Mittelpunkt jener Totalansicht des sozialen Lebens und der sozialen Erziehung, der Erziehung als Gemeinschaft und der Gemeinschaft als Erziehung, welche wir heute mit dem Schlagwort „Sozialpädagogik“ zu bezeichnen pflegen.

       Im vierten Teil des Romans (1787) endlich erweitert sich die Betrachtung vom einzelnen Dorf auf ein ganzes Land. Zugleich wagt Pestalozzi am Schluss des Werkes den Versuch einer eigentlichen Theorie, einer „Philosophie“ seines Buches. Diese erfährt noch eine weitere Vertiefung in der (sonst geringeren) zweiten