Kendran Brooks

Retourkutsche


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wurde vom mittlerweile neunzehn Jahre alten Chufu komplettiert. Er war ein philippinischer Waise und Jules hatte ihn auf einem seiner Abenteuer als aufgeweckten, wissbegierigen Jungen erlebt. Alabima und Jules entschlossen sich, ihm den bestmöglichen Start ins Erwachsenenleben zu verschaffen, hatte ihn zu diesem Zweck vor zwei Jahren adoptiert.

      Das Leben als Patchwork-Familie verlief allerdings nicht immer so harmonisch, wie in den letzten Monaten. Einmal wurde es auf eine äußerst harte Probe gestellt, als die Familie aufs Höchste bedroht schien. Alabima entschloss sich damals, mit ihrer Tochter zusammen Jules und Chufu zu verlassen, wollte ganz einfach Abstand zu diesem Leben voller Furcht und Ungewissheit gewinnen. Doch ihr wurde damals, in den Wochen der Trennung, rasch einmal bewusst, wie sehr sie Jules liebte. Daran konnten auch die manchmal gefährlichen Momente nichts ändern. Aber sie schwor sich, von nun an ständig auf der Hut zu bleiben und rechtzeitig einzuschreiten, falls ihr Ehemann wieder einmal seinen Hals zu weit in eine Schlinge stecken sollte. Darum war Jules keineswegs erstaunt, bereits auf der Rückfahrt von diesem recht mysteriösen Termin in Genf von seiner Ehefrau zu hören.

      Hinter einer so kurzen Frage wie So? konnte unglaublich viel stecken. War es ein forscher Überfall, um ihm keine Möglichkeit der Ausflucht zu geben? Oder eher ein vorsichtiges Herantasten, das voller Hoffen und Bangen war? Vielleicht enthielt es auch eine gehörige Portion Misstrauen, seine Antwort könnte bloß ablenken und sollte beruhigen? Auf jeden Fall zeigte das Wort aber die innere Stärke seiner Lebenspartnerin und dass sie nicht so leicht von ihren Standpunkten abrücken würde. Und diese ließen sich auf einen recht einfachen Nenner bringen. Die Familie ging vor.

      Jules musste innerlich Schmunzeln, denn das so? von Alabima erinnerte ihn auch an eine Nummer des Schweizer Kabarettisten Emil Steinberger. Dieser hatte einige Jahre in New York City verbracht und war dann in die Schweiz zurückgekehrt. In einer seiner Geschichten erklärte er dem Publikum, wie man in den USA in einem guten Restaurant begrüßt und umsorgt wird. Das beginnt schon an der Eingangstüre, die einem von einem Mitarbeiter offengehalten wird. Ein anderer Angestellter nimmt einem den Mantel ab. Ein dritter führt einen zum Tisch. Der vierte nimmt die Bestellung des Aperitifs auf, bringt ihn wenig später. Danach folgt der Auftritt der Kellnerin, die einem die gesamte Speisekarte auswendig herunterleiert und auch umfassend über die Empfehlungen des Küchenchefs für den heutigen Tag aufklärt. Nach der Wahl der Speisen berät sie einem selbstverständlich auch über die passenden Weine. Doch eine Woche später fliegt man nach Zürich, geht dort in ein nobles Restaurant, sucht sich selbst einen freien Tisch, setzt sich, wartet auf den Kellner, der nach etlichen Minuten endlich daherkommt und mit einer etwas abfälligen Mine zum Gast sagt: »So?«

      Doch der Anflug von Humor verschwand so rasch aus Jules Gesicht, wie er hineingeraten war. Denn es wurde Zeit, seiner Lebenspartnerin die Annahme des Auftrags zu beichten.

      »Es geht um eine wirklich wichtige und brisante Angelegenheit, Alabima«, begann er mit viel Ernst in der Stimme. Aus den Lautsprechern seines Wagens erhielt er als Antwort ein enttäuschtes Seufzen seiner Frau.

      »Ich hab dir doch bereits vor zwei Jahren von der Erpressung der obersten Führung der Großbank durch die CIA erzählt und auch vom Einschleusen mehrerer ihrer Agenten, die als Kundenberater Straftaten begehen sollten, um auf diese Weise die Bank in den USA erpressbar zu machen?«

      Auf der anderen Seite der Leitung blieb es stumm und Jules wertete die Stille als Zustimmung.

      »Einige Bankiers aus der Schweiz möchten den USA für den Angriff auf das Bankkundengeheimnis einen gehörigen Denkzettel verpassen. Und ich will ihnen dabei helfen.«

      Nicht eingeweihte Zuhörer dieses so offen geführten Gesprächs wäre es sicher seltsam erschienen, warum Jules, sonst stets auf Verschwiegenheit und Sicherheit bedacht, bei diesem Telefonat mit Alabima völlig frei über den neuen Auftrag sprach. Doch Familie Lederer leistete sich nicht nur ein abhörsicheres Haus, das nach jedem Besuch eines Handwerkers durch eine Detektei aus Genf auf Wanzen überprüft wurde. Ihre Gespräche zwischen dem Wohnhaus und ihren Fahrzeugen wurden zudem verschlüsselt und über sichere Satellitenverbindungen übertragen. GSMK CryptoPhones sorgten dafür, dass nur wenige Geheimdienste auf der Erde ihre Gespräche belauschen und mit viel Aufwand entschlüsseln hätten können. Angesichts von zehntausenden solcher Gespräche jeden Tag war die Wahrscheinlichkeit jedoch mehr als gering. Um aber auch lokalen Richtmikrophonen auszuweichen, fabrizierten alle ihre Fahrzeuge bei Anrufen fortwährend elektronische Störgeräusche, die auch dem fähigsten Tontechniker den letzten Nerv rauben konnten.

      Alabima erwiderte am anderen Ende der Leitung jedoch weiterhin nichts. Darum fuhr Jules mit seiner Rechtfertigung fort.

      »Ich soll Verbindungen zwischen amerikanischen Regierungsstellen und dem organisierten Verbrechen aufdecken und dafür stichhaltige Beweise sammeln. Die Bankiers möchten nichts weniger, als dem scheinheiligsten Moralapostel der Welt kräftig auf die Finger klopfen. Ich finde, die Amis haben sich diese Abreibung in den letzten paar Jahrzehnten mehr als verdient. Darum habe ich den Auftrag angenommen.«

      Eine ganze Weile lang blieb es still. Dann meldete sich Alabima endlich. Ihre Stimme klang angespannt, aber gefasst.

      »Und wie gefährlich wird er diesmal werden?«

      Jules hatte die Frage erwartet.

      »Wahrscheinlich überhaupt nicht. Ich will bei diesem Projekt nämlich gar nicht persönlich in Erscheinung treten, sondern eher im Hintergrund bleiben, bloß die Operationen leiten und koordinieren. Die eigentliche Arbeit vor Ort werden andere erledigen.«

      Alabima bewies Jules einmal mehr ihr großes Vertrauen in sein Urteilsvermögen, auch wenn sie ihren Ehemann immer wieder als einen viel zu positiv denkenden, ja manchmal geradezu närrisch naiven, Menschen erlebte. Ihrer Meinung nach empfand Jules die meisten Probleme bloß als neue Herausforderungen, die man dank klugem Vorgehen überwinden konnte.

      »Na gut. Lass uns darüber reden, wenn du zurück bist. Ich sehe dich also in etwa zehn Minuten?«

      »Yep.«

      Trotz diesem recht friedlichen Ende des Gesprächs fühlte Jules ein flaues Gefühl in der Magengegend. Hatte er womöglich Bammel davor, seiner Frau unter vier Augen die Tragweite des Auftrages zu erklären? Sich ihrem forschenden Blick auszusetzen? Ihre bohrenden Fragen zu beantworten? Oder fürchtete er sich nicht eher vor der etwas leichtfertig übernommenen Aufgabe, deren Risiken und möglichen Konsequenzen er nicht wirklich abschätzen konnte?

      Jules machte sich nichts vor. Den Behörden der USA illegale Tätigkeiten nachzuweisen, das war auf jeden Fall eine gefährliche Angelegenheit und äußerste Vorsicht geboten.

      *

      Detective Sergeant Luke Dasher vom siebten Bezirk las den Autopsie-Bericht über den erschossenen jungen Mann in der Quergasse zur Attorney Street. Hank Publobsky hieß der Siebenundzwanzigjährige. Er war mit achtzehn aus der Ukraine in die USA migriert und hatte zuletzt in einer Filiale von Barnes & Noble als Verkäufer gearbeitet. Insgesamt zählte der Gerichtsmediziner neben verschiedenen Prellungen und Abschürfungen und einem Streifschuss vier tödliche Wunden auf, ein Schuss ins Gesäß mit Austritt am Schlüsselbein, zwei Kugeln direkt in den Kopf und ein eingedrückter Hinterkopf, Folge eines Sturzes aus mehreren Metern Höhe.

      Luke Dasher war vor drei Tagen am Tatort gewesen. So stand für ihn fest, dass dieser Publobsky versucht hatte, seinen Mördern über die Feuerleiter zu entkommen, war von ihnen jedoch von unten abgeschossen worden. Dass zumindest zwei verschiedene Waffen an der Tat beteiligt waren, stellte der Vergleich von zwei gefundenen Projektilen sicher. Es waren Handfeuerwaffen mit dem Kaliber 44, das beliebteste und häufigste in den USA, in der Unterwelt genauso, wie bei den Polizeikräften oder der Armee. Doch warum sollte ein kleiner Buchverkäufer den Zorn einer dieser drei Gruppen geweckt haben?

      Natürlich waren im Bericht auch die gefundenen Amphetamine aus der Brusttasche des Toten aufgeführt. Ihr Straßenverkaufswert betrug wenige hundert Dollar. Dafür wurde niemand umgebracht, auch nicht in Manhattan.

      Für Detective Sergeant Dasher war eines klar: hier hatten professionelle Mörder einen Auftrag erledigt. Nur so waren die beiden Kopfschüsse auf einen am Boden liegenden,