Hans Herrmann

Drachenjagd


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Schnell hatte das Dunkel des Waldes den Fliehenden verschluckt.

      Entsetzt sah Hilmar, was das Ungeheuer angerichtet hatte. Der Hund existierte nicht mehr. Stattdessen lag eine Masse von Blut, Fleisch, Knochen und Fell vor dem Haus und klebte teilweise auch an der Wand und der Tür.

      «Bestie!», presste Hilmar in unbändiger Wut zwischen den Zähnen hervor.

      Er stiess sein Schwert in die Scheide und trat ins Haus. Sein Herz klopfte wie wild. Lebte Lutperga noch, oder war auch sie Opfer des blitzschnell angreifenden und mörderisch rasenden Unholds geworden?

      Sie lag in ihrer Kammer und atmete tief und ruhig. Auf ihrem Gesicht lag ein friedlicher, fast lächelnder Ausdruck. Das Geschehen vor dem Haus, das Kreischen des Angreifers und das Jaulen des Hundes hatten ihre Nachtruhe nicht gestört.

      Hilmar kniete nieder und dankte Gott, dass seiner Tochter nichts geschehen war. Die ganze Nacht blieb er wach an ihrem Bett. Als der Tag anbrach, gab er Lutperga in die Obhut des Bauern Betto, der mit seinen Leuten auf der anderen Seite des Hügels lebte, und ritt in die Stadt.

      2. Eine Unterredung

      Hilmar nahm den Weg über den Weiler des Heimolt und ritt durch das friedliche Tälchen mit den gepflegten Wiesen, Hecken und Äckern der Stadt entgegen. Die Bezeichnung Stadt war reichlich übertrieben. Auf einem felsigen Hügel über dem Fluss, der hier eine sanfte Linkskurve beschrieb, ragte ein hölzerner Wehrturm auf, dicht daneben standen zwei Blockhäuser. Das Ganze war umgeben von einem breiten Graben, einem Erdwall sowie einem massiven Palisadenzaun und nannte sich stolz Burg.

      Ausserhalb der Burgumfriedung befanden sich die Wohn- und Werkstätten einiger Handwerker und ihrer Familien, ebenfalls geschützt durch ein Erdwerk und Palisaden. Ein Hufschmied war hier zu Hause, ein Schwertschmied und ein Kesselschmied, weiter ein Sattler, ein Wagner und ein Weber, zudem ein Müller und ein Salzhändler. Letzterer bot in seinem Laden auch Lampentalg und allerlei Arzneien aus Kräutern und Wurzeln an. Einen Priester gab es ebenfalls. Er betreute eine kleine Kapelle, das einzige Gebäude hier, das ganz aus Stein erbaut war.

      Obwohl dieser unbedeutende und eher ärmliche Ort das Marktrecht besass und sich Stadt nennen durfte, wurde er in der Bevölkerung nie anders denn als Dorf bezeichnet, das Dorf bei der Burg, kurz Burgdorf.

      Hilmar ritt an der einsamen Ziegelbrennerei am Ausgang des Tälchens vorbei, passierte den hölzernen Steg über den Fluss und schlug den Weg zur Stadt ein, die sich nun hinter den Bäumen des Auenwalds zeigte. Bald schon ging es leicht bergauf zum kleinen Marktplatz der Siedlung und von dort steil hinauf zur Burg auf dem Felsen.

      Der Kastellan hiess Roderich und war ein adliger, unmittelbar dem König unterstellter Dienstmann, denn der Flecken und seine Umgebung gehörten zum nahen Königshof Kirchberg. Hilmar traf den Kastellan im Burghof an, wo er dem Hufschmied gerade half, einen prächtigen Rappen neu zu beschlagen.

      Roderich sah auf, als ihn der Schmied auf den Ankömmling aufmerksam machte.

      «Da schau, ein seltener, aber gern gesehener Gast», rief der Burgherr freudig und eilte Hilmar entgegen, der den Hof zu Fuss betreten hatte und sein Pferd am Zügel führte.

      Die beiden Männer sahen sich auffallend ähnlich. Beide waren ungefähr vierzig Jahre alt – so genau wussten sie es selber nicht –, beide hatten kühne Falten im ledrigen Gesicht, beide trugen ihr dunkelbraunes, von grauen Fäden durchzogenes Haar in einem Topfschnitt, und beide hatten einen grauen, kurz gestutzten Bart. Sie unterschieden sich einzig in der Kleidung: Der Bauer trug wollene Beinlinge, dazu Schaftstiefel und ein gegürtetes Lederwams, während der Kastellan in einem knöchellangen Gewand steckte, das die aufgenähten Insignien des Königs zeigte.

      Roderich schüttelte Hilmar herzlich die Hand. Die beiden kannten sich von früher; sie hatten vor zehn Jahren in derselben Abteilung gedient, als König Karl sein Heer nach Norden gegen die Sachsen führte. Der Kastellan gab einem Knecht die Anweisung, das Pferd des Bauern zu versorgen und dann dem Hufschmied zur Hand zu gehen. Seinen Gast bat er in das grössere der beiden Blockhäuser.

      Er führte Hilmar in eine Kammer mit Wandteppichen, einem grossen Eichentisch und kunstvoll geschnitzten Stühlen.

      «Nimm Platz, mein Freund.»

      Der Kastellan stellte zwei Becher auf den Tisch, füllte sie aus einer Zinnkanne mit schäumendem Bier und setzte sich Hilmar gegenüber an den Tisch.

      «Wohl bekomm’s.» Er hob den Becher und nahm einen kräftigen Schluck. Hilmar tat es ihm gleich.

      «Was führt dich zu mir, Hilmar? Willst du mir deine Tochter zur Frau geben?» Roderich lachte, aber im Innersten meinte er es ernst. Er warf schon seit Längerem ein Auge auf die Tochter seines ehemaligen Kampfgefährten, die langsam zur schönen Frau heranreifte.

      «Mit Lutpergas Verheiratung warte ich wohl noch ein, zwei Jährchen, ich mag sie noch nicht hergeben», erwiderte der Bauer und nötigte sich ebenfalls ein Lachen ab, um der vorläufigen Absage einen scherzhaften Anstrich zu geben. Dann wurde er wieder ernst.

      «Gestern Nacht wollte sie wohl ein anderer holen. Ich hatte einen verdammten Drako vor dem Haus.»

      «Was? Einen Drako?», rief Roderich entsetzt. «Hat er dein Vieh gerissen? Und Lutperga ist nichts geschehen?»

      «Mein Hund musste dran glauben, das arme Tier. Aber Lutperga und auch dem Vieh ist nichts geschehen. Dafür habe ich Gott gedankt. Ich werde in der Kapelle auch eine Kerze spenden und anzünden.»

      «Tu das, lieber vielleicht zwei», sagte der Dienstmann und ballte die Faust. «Du hattest gewaltiges Glück, mein Lieber. Einen Drako will wahrlich niemand zu Gast haben. Vor allem dann nicht, wenn man eine schöne Tochter besitzt. Wie bist du ihn denn losgeworden?»

      «Ich habe das Schwert gegen ihn erhoben, aber es kam zu keinem Kampf. Er ist weggerannt, hat an meiner Haustür noch rasch den Hund gerissen und sich dann endgültig aus dem Staub gemacht. Aber er kommt wieder, wann immer es ist, da bin ich ziemlich sicher.»

      «Das Schwert», sinnierte Roderich. «Vermutlich war es der blosse Anblick des Schwerts, der ihn in die Flucht geschlagen hat. Vor dem Schwert haben die Drakos Respekt. Hättest du dich ihm mit der Streitaxt, dem Bogen oder dem Spiess entgegengestellt, gäbe es dich und deine Tochter nicht mehr, darauf kannst du wetten.»

      «Gut möglich. Dass manche Drakos das Schwert scheuen, ist mir auch schon zu Ohren gekommen. Aber warum ist das so? Ihnen ist ja kaum beizukommen. Sie sind schneller und stärker als wir, viel stärker. Zudem lässt sich ihre Schuppenhaut kaum durchdringen, auch nicht mit der schärfsten Klinge.»

      «Denk an Siegfried von Xanten, der den Drako Fafner erschlug, und an seinen Namensvetter, den Nordmann Sigurd, der vor langer Zeit auf der Gnitaheide ebenfalls eines dieser Ungeheuer erlegte», sagte Roderich. «Diese Kämpfer schafften es beide mit dem Schwert. Es gibt nämlich einen Kniff, wie ich mir habe sagen lassen. Die Drakos haben vorne am rechten Schultergelenk – aber nur am rechten – eine verletzliche Stelle. Diese gilt es mit einem gezielten Hieb zu öffnen. Sobald die Wunde klafft, muss man blitzschnell das Schwert tief hineinstossen. Macht man es richtig, durchtrennt man dabei eine dicke Ader, und der Drako verblutet rasch. Aber das gelingt nur den wahren Meistern der Schwertkunst. Wir beide, wir würden es vermasseln, auch wenn wir uns seinerzeit mit den Sachsen ganz wacker geschlagen haben.»

      Hilmar runzelte nachdenklich die Stirn und nahm einen Schluck Bier.

      «Ist dir auch aufgefallen, dass die Drakos aggressiver werden? Zudem scheinen sie sich häufiger zu zeigen als noch vor vier, fünf Jahren.»

      Roderich nickte. «Das stimmt. Sie merken, dass unsere Wachsamkeit nachlässt und viele von uns das Kämpfen verlernt haben. Kühe verschwinden, Pferde werden gerissen und bestialisch zugerichtet, und vor zwei Jahren ist die Tochter des Willihad, der draussen in der Ebene siedelt, geraubt worden. Von einem Drako, wird vermutet. Einer von Willihads Knechten will ihn gesehen haben.»

      «Du hast recht, wir sind nachlässiger und weicher geworden», bestätigte der Bauer. «Vor allem aber haben