Wieland Barthelmess

ECHNATON


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als dass der Leichnam vom Druck des Stroms nur noch tiefer ins Gebüsch gedrückt werden würde. So setzte er sich ans Ufer, aufmerksam darauf achtend, dass der Fluss den Körper nicht doch noch mit sich riss oder gar Krokodile sich daran zu schaffen machten.

      Da saß er nun. Heute Morgen erst hatte er Mutter und Schwester in der kargen Erde begraben und nun starrte er auf den toten Vater, der der letzte Mensch war, den er auf dieser Welt noch hatte. Mit seinen ausgebreiteten Armen, die sich mit der Strömung bewegten, erinnerte ihn der tote Vater an einen Falken, der nahezu bewegungslos hoch über der Wüste schwebte. Ani fühlte sich einsam und verlassen. War er doch wie das Stück Treibholz, das er gerade vorbei strudeln sah. Es gehörte niemandem mehr und es trieb sinn- und zwecklos ins Nirgendwo. Wozu sollte er noch zurück in die elterliche Hütte? Das Land bebauen? Das konnte er niemals allein. Hatte es doch schon sein Vater kaum geschafft. Man würde ihn einfach von dem Stück Land fortjagen, das man seinem Vater zur Bewirtschaftung zugeteilt hatte. Er war jetzt wie einer der Köter, die ziellos umherstreiften und darauf hofften, von einer gnädigen Seele etwas Essbares zugeworfen zu bekommen.

      Plötzlich schob sich ein mächtiger Schatten stromaufwärts. „Ani!“, hörte er rufen. „Ani, komm an Bord!“ Das prächtige Boot, das vorhin an der Anlegestelle dümpelte, hatte Segel gesetzt und war direkt auf ihn zugekommen. Eine Strickleiter hing an seiner Bordwand herunter, auf deren Höhe Amenhotep über die Reling lugte. Zwei Soldaten kletterten die Leiter hinunter und machten sich daran, Anis Vater aus dem Gestrüpp zu befreien. Sie legten ihn auf eine ebenfalls herabgelassene Bahre, die sogleich wieder an Bord gehievt wurde. Alles war so schnell vor sich gegangen, dass Ani seinem toten Vater kaum hatte ins Gesicht blicken können.

      „Ani, komm mit an Bord!“ Amenhoteps Stimme war voller Mitgefühl. „Wir bringen ihn ins Einbalsamierungshaus, wo er siebzig Tage bleiben wird. Danach kannst Du ihn bestatten. Der Gute Gott hat sicherlich noch irgendwo ein freies Grab für einen verdienten Mann. Und du, komm mit und bleib bei mir. Hörst du, Ani? Wo sonst willst du denn hin? Du bist doch nun ganz allein. Und berührt hast du mich sowieso schon. Also kannst Du auch mein Diener sein.“

      „Dein Diener?! Ich bin ein freier Mensch und diene nur dem Guten Gott!“

      „Dann diene halt eben ihm!“, lachte Amenhotep vergnügt.

      „Außerdem kann ich die Priester und Einbalsamierer überhaupt nicht entlohnen. Und was wird schließlich dein Vater sagen, wenn du noch einen weiteren Fresser anschleppst, der nichts Rechtes kann?“

      „Du solltest dir eher Gedanken wegen meiner Mutter machen. Aber lass das alles mal meine Sorge sein. Und nun komm!“ Amenhotep machte Anstalten als ob er die Strickleiter hinunterklettern wollte. „Ich kann dich einfach auch abführen lassen. Ein Wort von mir und die Bewaffneten kommen dich holen.“

      „Das traust du dich nur, weil ich ohne Vater und Namen wehrlos bin und niemand mehr für mich einsteht!“

      „Du irrst dich, Ani. Ich bin es, der jetzt für dich einsteht.“

      Ani stockte. Denn wieder hatte Amenhoteps Stimme denselben Klang lauterer Wahrheit, wie vorhin, als Ani ihn des Opferdiebstahls bezichtigt hatte. „Warum solltest du das tun? Ich bin doch nur ein Bauerntrampel?“

      „Eben drum, Ani, eben drum. Komm! Und jetzt gib mir deine Hand.“ Amenhotep beugte sich weit nach unten, so dass man ihm sogleich zur Hilfe eilen wollte und ein gewaltiger Aufruhr an Bord entstand. Der wurde von Amenhotep jedoch schnell mit einem herrischen „Fort mit Euch!“ weggezischt.

      Und da Ani keinerlei Ahnung hatte, was er überhaupt hätte tun sollen - sich den Nil hinab treiben lassen, in der Stadt um milde Gaben betteln oder nach Hause zurücklaufen, wo sowieso niemand mehr auf ihn wartete -, ergriff er Amenhoteps Hand. „Ich freue mich, dass du sie mir reichst“, sagte der, als er seinen neuen Freund an Bord zog.

      Kaum hatte Ani die Planken des Schiffes betreten, meinte er, sich in einem Traum wieder zu finden. Eine Reihe Bewaffneter stand bereit, die ihn, einer wie der andere, misstrauisch, ja, feindlich beäugten. Und dennoch war die Schönheit, die ihn plötzlich umgab, dasjenige, was Anis Sinne am meisten beschäftigte. Unter einem weiten Baldachin lagen auf einem Podest, zu dem drei Stufen hinaufführten, Berge von Kissen. Saubere Kissen wohlgemerkt - die aussahen wie neu. Davor stand auf einem hohen Piedestal ein Räuchergefäß, das schwere, süße Düfte verbreitete. Auf einem mit bunten Einlagen geschmückten Tischchen leuchtete ein gefüllter Krug aus blauem Glas im Sonnenlicht, an dessen Außenwänden Wassertropfen perlten - so kühl war das Getränk in seinem Inneren! Gleich daneben stand in einem riesigen Topf ein seltsamer Baum, an dem bunte Schleifen zitternd im Flusswind flatterten. Ein aufgeregter Mensch, Ani konnte sich nicht recht entscheiden, ob er ihn für einen Mann oder eine Frau halten sollte, kam mit einer riesigen goldenen Wasserschale in Händen und einem blendendweißen Tuch über dem Arm auf ihn zu. Er trug ein golden gegürtetes dunkelviolettes, bodenlanges Gewand, in das man die Umrisse von Mandragora-Früchten eingewebt hatte sowie eine übertrieben gelockte Perücke, die ein prächtiger goldener Stirnreif krönte. Sein stark geschminktes Gesicht zeigte nichts als Unwillen. „Du hast ihn berührt, junger Herr“, sagte er vorwurfsvoll zu Amenhotep und hielt ihm die Wasserschale entgegen. Und als der nicht reagierte, versuchte er es abermals. „Du reichtest deine Hand, junger Herr. Dieser Mensch ist unrein, denn er ist nicht von deiner Art…“

      „Lass das Wasser und gieß den Weihrauchbaum damit. Er sieht aus als ob er’s nötig hätte“, sagte Amenhotep bestimmt. Und da der Andere zögerte und den Eindruck machte, als habe er nicht recht verstanden, setzte Amenhotep nach. „Na los!“, lachte er und klatschte in die Hände, woraufhin der Violette unterwürfig davonlief. Die Soldaten grinsten. Und nachdem Amenhotep ihnen zugenickt hatte, verteilten sie sich zwanglos auf Deck.

      „Ich will meinen Vater sehen!“, sprach Ani seinen Freund plötzlich an.

      „Geduld! Komm jetzt, sei vernünftig und setz dich zu mir“, sagte Amenhotep freundlich. „Heute Abend kannst du deinen Vater noch einmal sehen. Wir bringen ihn jetzt sofort ins Einbalsamierungshaus. Lass sie ihn dort ein wenig vorbereiten, damit du dann heute Abend geziemend Abschied nehmen kannst.“

      Gemächlich drehte das Schiff im Wind und trieb dem gegenüberliegenden Ufer des Nils entgegen, während die beiden neuen Freunde miteinander plauderten, Amenhotep auf den blitzsauberen Kissen sitzend und Ani auf einer der drei Stufen, die zum Podest emporführten. Amenhotep ließ den Violetten sogar noch ein zusätzliches Glas holen, was dieser eher widerstrebend tat. Ani hatte noch nie etwas derart Köstliches geschmeckt. Es war, als ob sich in seinem Mund eine Lotusblüte öffnete und schwere, süße Aromen freisetzte.

      „Das ist Wein“, erkläre Amenhotep. „Er kommt aus den Gärten meiner Mutter im Fayum. Es ist der beste Wein im ganzen Land. Sogar die Achijawa wollten in eintauschen, die ja frech von sich behaupten, einer ihrer Götter habe ihnen das Wissen um den Weinbau geschenkt. Immer wieder haben sie nachfragen lassen. Aber meine Mutter hat verboten, dass je ein Tropfen ihres Weins Ägypten verlässt.“

      Ani verstand nichts von alledem, was Amenhotep ihm sagte. Es war ihm auch einerlei. Denn er fühlte sich außerstande, noch über irgendetwas nachzudenken. Der kalte Wein machte ihn überdies müde und entspannt. Doch trotz allem, was ihm heute widerfahren war, fühlte er sich auf einmal seltsamerweise wohlig erschöpft und ruhig. Das Einzige, was zu wünschen er noch in der Lage war, wäre lediglich gewesen, dass diese Fahrt nie enden möge, so wohl fühlte er sich im Augenblick. Sie fuhren direkt auf das linke Ufer des Flusses zu, dort, wo irgendwann später die Sonne untergehen würde. Und obwohl er wusste, dass der Nil mit einem solchen Schiff schnell überquert war, hoffte Ani, dass diese Fahrt noch möglichst lange dauern würde.

      Ani war nicht verwöhnt. So war er zwar enttäuscht, als das Schiff schnell einen breiten Kanal am anderen Ufer erreicht hatte, andererseits aber auch dankbar, dass ihm wenigstens diese kurze Dauer der Überfahrt geschenkt worden war.

      Das Schiff ankerte vor einem großen Haus, direkt an der Mündung des Kanals, das leuchtend blau angestrichen war.

      „Das hält die Fliegen fern“, erklärte Amenhotep. „Blau macht