Denise Remisberger

Die vertauschten Bronzebecher


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      «Hast du Erfahrung mit dieser Sorte?», öffnete der junge Mann, der immer noch hinter ihnen stand, zum ersten Mal den Mund.

      «Und ob!», drehte sich Jacques zu ihm um. «Wir haben in unserer Kirchgemeinde eine Drögeligruppe und diese Witzfiguren von dieser sogenannten Spezialabteilung Vier kriechen ständig um uns herum. Und du? Kennst du die?»

      «Nur indirekt. Ich hatte eine heroinsüchtige Schwester.»

      «Hatte?»

      «Sie ist tot.»

      «Wie schrecklich.»

      «Ja. Ich heiße übrigens Theo.»

      Dorothea, Hans-Peter und Jacques stellten sich ebenfalls vor und luden den jungen Mann ein, mit ihnen zu wandern. Er nahm das Angebot gerne an. Sie liefen auf gemächlichen Kurven weiter, plauderten über dies und das und atmeten den Duft des Waldes tief ein, bis sie in der Nähe der Rheinbrücke beim Nesselboden unten, eigentlich eine Weide, die den nördlichen Zugang zur Viamala-Schlucht markiert, anlangten, wanderten dann auf einem schmalen Pfad, der mit jedem mühseligen Schritt uriger wurde, ziemlich steil aufwärts und endlich ein kurzes Stück abwärts, wo sie aus dem Wald und über die Postautostraße zum Viamala-Kiosk fanden.

      «Meine Güte, Leute, ich bin fix und fertig», tönte es aus dem erhitzten Prior, der sein inzwischen arg zerknittertes Stofftaschentuch hervorholte und sich an diversen Stellen damit abtupfte.

      Vom Kiosk holten sie sich alles Mögliche für die Weiterreise, von Apfelsaft über gefüllte Brötchen bis hin zu süßen Riegeln, und beschlossen dann, all diese Treppenstufen hinunterzusteigen, um die Nase praktisch ins wilde Tobel tunken zu können. Noch bevor sie aber durch den Kioskladen gingen und hinabkletterten, stellten sie sich auf die alte noch übrige Wildener Brücke und ließen die Blicke tief zu den tosenden Wassern hinabgleiten, nur, um sie die steilen Felswände wieder hinaufgleiten zu lassen und mit ihnen an der in den Felsen gehauenen Römerpassage kleben zu bleiben, wo anno dazumal mehrere Legionäre des Heermeisters Stilicho mitsamt ihren Saumpferden abgestürzt waren.

      Auf dem Weg zurück zum Kiosk zeigte Dorothea in die düstere Schlucht: «Beim Felsentunnel hatte im Jahre 1705 ein Pfarrer seine schwangere Geliebte ermordet. Was sagt ihr beiden dazu?», richtete sie ihr Wort an die Klerikalen.

      «Also ich habe noch nie jemanden geschwängert», dachte der Prior angestrengt nach.

      «Bist du sicher?», grinste der Pfarrer.

      «Na ja, was ist schon sicher. Auf alle Fälle muss der Vatikan keine Alimente wegen mir bezahlen. Und du?»

      «Nicht, dass ich wüsste», dachte nun auch Jacques an seine Verflossenen. «So, gehen wir in Gottes Namen zur Aussichtsplattform hinunter.»

      Auf dem Weg nach unten bestaunten sie ausgiebig die aufragenden gezackten Felsen und die wunderschönen Strudeltöpfe, die in den Wänden eingenistet lagen.

      «Wahnsinn!», fand Theo, als er sich über das Geländer der Plattform beugte. «Ich war noch nie hier unten.»

      «Ich schon», sagte Dorothea, «doch es fasziniert mich jedes Mal von Neuem.»

      Nach ausgiebigem Bewundern des eindrücklichen Naturspektakels stiegen sie die Treppenstufen wieder empor, das Tosen des wilden Schluchtwassers im Ohr.

      «Ich bin richtig froh, diesen Platz zu verlassen, Wüstling, das kann ich dir sagen», schauderte es des Pfarrers Geliebte, nachdem sie einen letzten Blick zum Felsentunnel riskiert hatte. «Der Saukerl von Pfarrer wollte mich nicht haben.»

      «Ich hätte dich sofort genommen, Pfaffenliebchen.»

      «Ja, klar. Du hast ja auch eine junge Frau entführt.»

      «Weit gekommen bin ich nicht mit ihr. Nur bis in den Burghof.»

      «Nein, vorher haben die Leute aus dem Tal das Tor aufgebrochen und deine Zukünftige befreit. Wieso hast du das überhaupt getan?»

      «Ich wollte einen Sohn, der unser Geschlecht weiterführt. Und dafür braucht’s zwei.»

      «Sie wollte halt nicht.»

      «Nein, sie hätte wohl nicht gewollt.»

      «Und dann hast du dich samt Pferd in den Abgrund der Viamala gestürzt.»

      «Ja. War wohl das Beste so. Und dein Pfarrer?»

      «Der ist davongekommen. Ist geflüchtet, hat alles abgestritten und ein neues Leben angefangen.»

      Pfarrer Jacques, Prior Hans-Peter, Dorothea und Theo liefen auf dem Trottoir weiter, an der Wildener Brücke vorbei und überquerten den Hinterrhein auf der Premoli-Brücke aus den 1930er-Jahren, um dann über die Hängebrücke ‹Pùnt da Suransuns› wieder auf die andere Seite des Flusses und auf den Wanderweg zu gelangen. Entlang des klaren blaugrünen Wassers verlief ein mit Wurzeln durchzogener Naturwaldweg an Uferfelsen vorbei. Bevor aber der Weg weiter hinaufführte, setzte sich die Wandergruppe ans Ufer, zog die Schuhe aus und gönnte den heißen Füssen ein kühles Bad.

      «Das tut gut», seufzte der Prior und schaute verträumt aufs Wasser. «Die grässlichen Kerle von heute Morgen lagern dort vorne. Schaut mal», zeigte er mit dem Finger auf die beamteten Zürcher.

      «Solange sie außer Hörweite bleiben und ich mir nicht deren dummes Geschwätz anhören muss, ist es mir egal», meinte der Pfarrer.

      «Denen werden wir wahrscheinlich noch öfters begegnen», prophezeite Theo und lächelte geheimnisvoll.

      «Die sind mir völlig schnuppe», sagte Dorothea. «Wenn ich mich über all die Wandersleute, die dauernd in dieser Gegend rumturnen, aufregen würde, könnte ich gar nicht mehr aus dem Haus gehen.»

      «Ich habe Hunger», erklärte Hans-Peter und fing an, die Esswaren aus dem Viamala-Kiosk auszupacken.

      «Es ist ja auch schon später Mittag», sah Theo auf die Uhr und fing ebenfalls an zu essen.

      Jacques und Dorothea taten es den anderen beiden gleich, aßen ihre mitgebrachten gefüllten Brötchen auf, tranken Saft, knabberten an den Süßigkeiten und entspannten sich wohlig.

      «Wollt ihr auch einen Zahnputzkaugummi?», holte Dorothea ein Päckchen aus ihrem Rucksack.

      «Du hast wohl deinen halben Haushalt dabei?», scherzte Hans-Peter.

      «Klar, ich bin ausgerüstet.»

      5

      Während der Justizapparat immer noch im Wasser herumstand, setzten die anderen ihre Reise durch den dichten Wald fort, wanderten wurzelige Pfade hinauf und streiften auf Feldwegen über sonnendurchflutete Wiesen bis nach Reischen mit seinen antiken Holzbauernhäusern und weiter runter nach Zillis.

      «Hier müssen wir unbedingt die romanische Bilderdecke in der Kirche Sankt Martin angucken gehen», sagte Dorothea. «Das künstlerische Werk wurde wohl durch die christlichen Visionärinnen und Visionäre inspiriert, die durchaus auch einen Blick in die Anderswelt riskiert haben. Ob die das Ganze bereits in Gut und Böse eingeteilt haben, sei mal dahingestellt. Das haben dann wohl eher ängstlichere Naturen getan. Es kann nämlich auch einfach innen und außen beziehungsweise Leben und Tod bedeuten. Als natürlicher Zyklus. Nicht als biblische Sicherheitsplattform in Opposition zu allem, was nicht gar alle Klerikalen verstehen.»

      «Oh Mann, das war jetzt eine lange Rede», begann Prior Hans-Peter schon wieder zu schwitzen und zog sein allzeit bereites Stofftaschentuch hervor.

      Pfarrer Jacques kicherte nur: «Wir Reformierten sind nicht so schlimm im Verteufeln.»

      «Lassen wir die einzelnen Felder doch einfach auf uns wirken», besänftigte Theo, als sie vor der Kirche angekommen waren und nun hineingingen. Sie legten den Kopf in den Nacken und taten, was Theo ihnen geraten hatte. Sie ließen jedes einzelne Bildchen im Bild auf sich wirken, Innenfelder und Randfelder, ohne irgendetwas zu interpretieren.