entstammten dem Land des ewigen Eises im hohen Norden, das Kedanien genannt wurde. Es waren Barbaren von riesenhaftem und muskulösem Wuchs, mit Haut so hell wie der Schnee ihrer Heimat. Sie kämpften mit einer Schnelligkeit und gnadenlosen Brutalität, der kein Nomade gewachsen war.
Larkyen konnte die Erinnerung an ihre Gräuel keinen Augenblick lang verdrängen.
Mit der Morgendämmerung waren sie auf ihren Pferden gekommen – hochgezüchteten, kräftigen Rössern, ihren Herren angemessen – um unaufhaltsam wie eine Lawine zuzuschlagen. Die ersten Warnrufe der Schafhirten wurden durch eine Reihe kedanischer Bogenschüsse erstickt. Und als die Nordmänner zwischen den Jurten hindurch ritten, trampelten ihre Pferde die flüchtenden Nomaden nieder wie Steppengras. Nicht einmal Frauen und Kinder blieben verschont.
Larkyens Adoptivfamilie – die Frau, die er Mutter nannte, den Mann, den er Vater nannte, sowie ihr älterer Sohn – sie alle waren tot. Auch Larkyens Weib Kara, die ihn im nächsten Frühling ein Kind geschenkt hätte, war den Klingen der Banditen nicht entkommen. Und nun neigte sich auch Larkyens Leben dem unvermeidlichen Ende zu. Als einem von vier Gefangenen, die übrig geblieben waren, trennten ihn nur noch einige Atemzüge vom Tod.
Hatte er sich anfangs noch gefragt, weshalb die Banditen überhaupt jemanden am Leben gelassen hatten, war ihm der Grund nun völlig klar.
Schon seit einer Weile beobachtete er, wie sie sich daran ergötzten, die Überlebenden nacheinander öffentlich zu quälen und abzuschlachten. Ein neuer Schwertstreich durchschnitt die Luft, und mit einem dumpfen Laut kullerte ein weiterer Schädel über die Erde – Nase und Ohren waren abgeschnitten, sie dienten den Mördern als Trophäe.
Neben dem Gestank von menschlichem Blut, der die Luft so schwängerte, dass Übelkeit in Larkyen hochstieg, drang auch der Geruch von gekochtem Schaffleisch an seine Nase, das in einem Topf über dem Feuer garte.
Das klagende Blöken der durch das Lager streifenden Schafe deutete darauf hin, dass sie den Tod eines Artgenossen ebenfalls riechen konnten.
Larkyen hörte schwere Schritte, die auf ihn zukamen, dann spürte er einen Schlag gegen seinen Kopf, der ihm beinahe das Bewusstsein raubte. Er sackte mit brummendem Schädel zur Seite. Im nächsten Moment sah er über sich den in Felle gekleideten, kahlköpfigen Banditen, aus dessen stoppelbärtigem Gesicht gelbe Zähne grinsten.
„Du gehörst nicht zu ihnen“, zischte der Glatzkopf. „Deine Augen sind rund, und deine Haut ist hell.“
Er beugte sich zu Larkyen hinab. Seine Hand, an der noch getrocknetes Blut klebte, legte sich um Larkyens Kehle. Lange sah ihm der Bandit ins Gesicht. Larkyen konnte durch sein Äußeres nicht verleugnen, das er aus einem anderen Land stammte als Majunay. Denn während die Haut der Nomadenvölker rötlich und die bernsteinfarbenen Augen in ihren breitwangigen Gesichtern schmal waren, war Larkyens Haut weiß, und seine Augen grün und groß. Die hohen Wangenknochen in seinem schmalen Gesicht verliehen ihm scharfe kantige Züge.
„Wärst du größer und stärker, könntest du glatt von uns abstammen. Doch woher stammst du? Und was hast du bei den Nomaden verloren?“
Der Bandit grinste flüchtig, denn er vermutete, Larkyen müsse irgendwo aus dem Westen stammen.
„Ich bin Kentare!“, sagte Larkyen.
Der Glatzkopf schien beeindruckt.
„Du stammst wirklich aus Kentar? Der Heimat der Wölfe des Westens? Das ist doch der Name, der deinem Volk gegeben wurde, nicht wahr? Warum lässt sich ein Kentare mit diesem schlitzäugigen Majunayvolk ein? Hinter dir liegt mit Sicherheit ein interessantes Leben, aber heute wird es sein Ende nehmen, verlass dich drauf.“
Nach diesen Worten packte der Kedanier Larkyen an den Fesseln und riss ihn auf die Beine. Plötzlich hielt er inne.
„Was ist das?“ flüsterte er, den Blick auf Larkyens linken Handrücken gerichtet. „Du trägst ein Mal.“
Larkyen zuckte zusammen. Das seltsame Zeichen auf seiner Haut war nicht zu übersehen. Es war pechschwarz und hatte die Form einer lodernden Sonne.
Weder er noch die Nomaden und seine Adoptiveltern hatten je erfahren können, was es bedeutete.
„Taloy! Bring den Gefangenen zu unserem Herrn! Na, wird’s bald!“ befahl ein Bandit, der in eine mit Nieten übersäte Lederrüstung gekleidet war. Sein Gesicht zeugte von seiner nordischen Abstammung, und im langen dunkelblonden Haar zeigten sich erste graue Strähnen. Zweifellos war er einer der Ältesten unter den Nordmännern, doch unter Kedaniern ging Alter keinesfalls mit Gebrechen einher, sondern zeugte allenfalls von Erfahrenheit im Kampf.
„Warum dauert es so lange?“ fragte der Kedanier erzürnt. „Unser Herr wartet begierig auf den Nächsten! Oder willst etwa du der Nächste sein?“
„Nein, Wargulf!“ stotterte der Glatzkopf. „Mir ist nur dieser Mann aus dem Westen aufgefallen. Er sagt, er sei Kentare, und er trägt ein merkwürdiges Mal. Sieh doch!“
Wargulf stieß den Glatzkopf zurück und warf einen kurzen Blick auf das schwarze Mal.
„Ich war lange im Westen unterwegs“, sagte er schließlich. „und dieses Zeichen hat ganz sicher eine Bedeutung. Unser Herr sollte sich, nachdem er seinen Durst gestillt hat, den Kentaren mal genauer ansehen.“
Er packte Larkyen an der Kehle.
„Du bleibst am Leben. Jedenfalls fürs erste.“
Ehe er zurück zu den anderen Kedaniern ging, befahl Wargulf dem Glatzkopf: „Du bringst jetzt den nächsten Gefangenen zu unserem Herrn!“
Der Glatzkopf nickte.
„Du kannst dich glücklich schätzen!“ grummelte er, zu Larkyen gewandt.
„Wer ist euer Herr?“ fragte Larkyen. „Wer ist dieser feige Hund, der für all das Morden die Verantwortung trägt?“
Als der Glatzkopf das hörte, schlug er Larkyen sofort zu Boden.
„Wie kannst du es wagen“, schnaubte er und trat Larkyen in den Bauch.
Weitere schmerzhafte Tritte folgten, mit denen Larkyen so lange vor seinem Peiniger hergetrieben wurde, bis er blutüberströmt an einem Felsen liegen blieb und sich prustend übergab.
Der Bandit aus Kedanien spuckte ihn verächtlich an und ging zu den anderen drei Gefangenen, von denen keiner es gewagt hatte, seinen Blick oder gar seine Stimme zu erheben. Machtlos sah Larkyen zu, wie der Glatzkopf zwei weitere Gefangene wegführte.
Der letzte von ihnen war Larkyens gleichaltriger Freund Endrit. Larkyen hörte ihn schluchzen.
„Endrit“, flüsterte er. Der Freund sah kurz zu ihm auf, und Larkyen las in seinen Augen, dass Endrit jeglichen Lebenswillen verloren hatte. Es schmerzte ihn, seinen Kameraden, auf dessen Gesicht sonst stets ein Lächeln spielte, so sehen zu müssen.
Trotzdem verspürte Larkyen Hoffnung – für sie beide. Der Fels, vor dem er lag, war spitz und kantig. Zumindest eine seiner Ecken war scharf genug, um den Strick zerschneiden zu können. Er wollte Endrit soeben von seiner Entdeckung berichten, als der Glatzkopf zurückkehrte.
Diesmal zerrte er Endrit auf die Beine und schob ihn vor sich her, bis eine Reihe eng zusammenstehender Jurten die Sicht auf ihn versperrten. Dahinter ertönte lautes Grölen und Jubeln. Larkyen hörte Endrit um Gnade flehen, darauf folgte das höhnische Gelächter mehrerer Männer.
Nun gab es nur noch ihn, und er musste den Moment nutzen, um fliehen zu können. Larkyen presste seinen Rücken gegen den Felsen. Panisch darauf hoffend, dass ihm genug Zeit blieb, begann er seine Fesseln zu reiben. Sein Herz hämmerte wie wild.
Endlich lockerte sich der Strick, und Larkyen streifte die Fesseln ab.
Im selben Augenblick kam der Glatzkopf zurück. Larkyen behielt die Hände hinter dem Rücken.
„Gleich bist du an der Reihe, unserem Herren gegenüberzutreten“, verkündete der Bandit mit hässlichem Grinsen, während er sich zu Larkyen herabbeugte.