Uwe Siebert

Die Wiedergeburt


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Mannes. Das schlohweiße Haar floss in langen Strähnen unter seiner Fellmütze hervor.

      „Ich habe mich um deine Wunde gekümmert“, erklärte der Alte. „Der Pfeil, der dich traf, war vergiftet, die Spitze drang direkt durch deinen Körper, ohne dass der Knochen splitterte. Aber es ist viel Gift in deine Adern gelangt.“

      „Wo bin ich. Und wer bist du?“

      Der alte Mann kicherte.

      „Verzeih, junger Freund, aber wenn man so lange allein lebt wie ich, vergisst man seine Manieren. Du hast Recht, zuerst sollte man sich vorstellen. Mein Name ist Ojun.“

      „Du bist ein Schamane, nicht wahr?“

      Der alte Mann nickte.

      „Du befindest dich am Rande des Altoryagebirges“, erklärte er. „Hier in der Einsamkeit ist mein Heim.“

      Ojun lächelte, und Larkyen erkannte in seinen bernsteinfarbenen Augen, dass der alte Mann es gut meinte.

      Larkyen tastete seine Schulter ab, deren Wunde sauber verbunden war. Die Schmerzen hatten aufgehört. Seinem Verband entströmte der herbe Duft von Kräutern.

      „Mein Name ist Larkyen“, flüsterte er schließlich, „und ich bin vom Stamm der Yesugei.“

      „Du hast einen langen Weg hinter dir, Larkyen“, sagte Ojun. „Der Kharasee ist weit von hier entfernt.“

      „Woher weißt du ...“

      „Du hast im Schlaf gesprochen. Es tut mir leid, was passiert ist. Es muss schlimm sein, die eigene Familie zu verlieren.“

      „Es ist sogar die zweite Familie, die ich verloren habe.“ Er spürte, wie die Worte nur mühsam über seine Lippen traten.

      „Ich hätte es mir denken können. Dein Aussehen verrät deine westliche Herkunft.“

      Larkyen verfiel in Schweigen, ehe er sich dazu überwinden konnte, dem Schamanen seine Geschichte zu erzählen. Er fand, dass er seinem Retter diese Offenheit schuldig war.

      „An meine erste Familie kann ich mich nicht mehr erinnern, ich war noch zu klein. Damals wütete in weiten Teilen des Westens ein verheerender Krieg. Meine Eltern flohen mit einem Flüchtlingskonvoi gen Osten. Auf dem Westpass in Richtung der Stadt Dakkai wurden die völlig erschöpften Flüchtlinge von Wegelagerern überfallen. Meine Mutter und ich waren die einzigen Überlebenden. Die Nomaden vom Stamm der Yesugei entdeckten uns und nahmen uns mit. Meine Mutter starb nur wenige Tage danach an ihren schweren Verletzungen, zuvor jedoch hatte sie die Nomaden darum gebeten, sich um mich zu kümmern. Godan und sein Weib Tsarantuya nahmen mich schließlich an Kindes Statt auf. Sie wurden mir Vater und Mutter, und ihr Sohn Alvan mein Bruder. Auch Godan konnte mir nie etwas Genaues über meine Herkunft sagen. Alles was er wusste, war, das ich von jenseits des Altoryagebirges stamme, weit im Westen. Aus einem Abendland, gelegen an der Küste des Grauen Meeres, wo ein Volk mit Namen Kentar lebt.“

      „Kentar“, wiederholte Ojun. „Ein Wolfskopf zierte ihre Banner, und die Kunde von ihnen drang sogar bis nach Majunay. Wölfe des Westens, ja, so wurdet ihr Kentaren genannt. Doch die Kentaren wurden in einer gewaltigen Schlacht, die die Welt erbeben ließ, fast vollkommen ausgelöscht. So steht es in den Kriegschroniken von Ken-Tunys.“

      „Du hattest Zugriff auf die Kriegchroniken? Wo bekamst du Einblick in diese Schriften?“

      „Ich bin im Leben viel herumgekommen, bevor ich schließlich in die Einsamkeit zog. Sei gewiss, dein Volk wird niemals in Vergessenheit geraten.“

      Larkyen seufzte, dann sagte er: „Die Kentaren sollen große Krieger, Handwerker und Baumeister gewesen sein. Ich aber spüre nichts davon in mir. Sonst hätte ich diesem grausamen Treiben in unserem Lager am Kharasee ein Ende bereiten können.“

      So sehr Larkyen sich auch über seine eigene Wehleidigkeit ärgerte, so tat es doch auch gut, alle Zweifel und Bedenken offen auszusprechen. Der alte Schamane erweckte bereits nach so kurzer Zeit den Eindruck, ein verständnisvoller Mann zu sein, dass es Larkyen nicht schwer fallen würde, offen mit ihm zu sprechen.

      „Das Leben in der Steppe ist derzeit grausam“, sagte Ojun. „Boldar versetzt ganze Landstriche in Angst und Schrecken, er hat bereits viele Sippen ausgelöscht, und es gibt niemanden, der stark genug ist, um es mit ihm aufzunehmen.“

      Larkyen sah lange Zeit in die Flammen, dann sagte er: „Ich sah, wie er das Blut eines Toten trank.“

      „Die Kunde von Boldar der Bestie ist sogar bis zu mir gedrungen“, sagte Ojun. „Das Blut seiner Feinde verleiht ihm die Macht, die er braucht, um jedem seiner Gegner überlegen zu sein.“

      Larkyen richtete sich auf, und die Lederhose klebte an seinen Oberschenkeln. Seine Knie fühlten sich weich an, und er drohte im nächsten Moment zu Boden zu sinken.

      „Nicht so hastig“, sagte der Schamane und versuchte ihn zu stützen, doch Larkyen winkte lächelnd ab.

      „Es geht schon.“

      Unweit seines Liegeplatzes fand er sein Hemd und streifte es sich über. Anscheinend hatte der Schamane versucht, das Blut aus der Wolle zu waschen. Noch immer zeugte ein blasser rotbrauner Fleck um das Pfeilloch von der Verwundung.

      Mit kleinen Schritten trat er aus der Jurte hinaus in die Nacht und spürte den beißenden Hauch der frischen Luft, die seine Erschöpfung zum Verschwinden brachte. Der Himmel war sternenklar, und der Mond leuchtete. Ein eisiger Windstoß blies Larkyen ins Gesicht.

       Nur unweit von Ojuns Jurte waren an einem hölzernen Pfahl drei Pferde festgebunden; eines davon war das von Larkyen. In der Dunkelheit zeichneten sich die Umrisse schlafender Schafe und Ziegen ab, und ganz in der Nähe plätscherte ein Bach.

      Larkyen sah hinaus in die Ferne.

      Der Mondschein zauberte auf die mit Schnee bedeckten Bergspitzen ein kühles Blau.

      „Ich muss wahrlich sehr weit geritten sein“, murmelte Larkyen.

      Ojun trat zu ihm.

      „Vom Kharasee benötigt ein Reiter bei guter Gesundheit zwei volle Tage“, erklärte er. „Dein Pferd hat gut daran getan, dich zu mir zu bringen, denn ich bin hier oben weit und breit der einzige Mensch.“

      „Was treibt einen alten Mann in eine so einsame Gegend? Ein Schamane sollte bei seinem Stamm bleiben und den Menschen Hilfe und Beistand bieten.“

      „Das ist eine lange Geschichte, junger Larkyen“, sagte Ojun. „Zu lang für diesen Moment. Gerne jedoch erzähle ich sie dir ein anderes Mal. Du aber solltest dich weiter ausruhen.“

      Larkyen schüttelte den Kopf.

      „Mir gehen diese Bilder nicht mehr aus dem Kopf“, flüsterte er. „Wie die Kedanier meine Leute töteten. Sobald ich die Augen schließe, sehe ich Blut in Strömen fließen, und ich sehe ihre Köpfe, wie sie über den harten Boden rollen. Ich sehe den Leichnam meines Weibes, den leeren Blick ihrer Augen. Und ich konnte nichts tun, konnte nichts daran ändern.

      Ich glaubte einmal zu wissen, was es heißt, ein Nomade zu sein. Seit ich denken kann, bin ich mit den Yesugei durch die Steppenlandschaft Majunays gezogen, vom Kharasee bis zum Fluss Nefalion weit im Osten. Ich war immer an ihrer Seite, kümmerte mich um das Vieh und lernte, ein guter Reiter zu werden. Doch all meine Anstrengungen waren umsonst, weil ich ihnen in der schwersten Not nicht beistehen konnte.“

      Larkyen war sich im Klaren darüber, dass so vieles aus seiner Vergangenheit ihm nicht mehr von Nutzen sein konnte. Was hieß es jetzt noch, ein Nomade zu sein? Die Nomadenstämme in ihrer Friedfertigkeit glaubten, dass die Steppe mit ihren unendlichen Weiten für alle genug Platz zum Leben bot. Konflikte mit anderen Stämmen waren ihnen, die die Nähe von Fremden stets gemieden hatten, so gut wie unbekannt. Zweifellos war das Leben in der Natur ein Ringen und Kämpfen gegen ihre Widerstände. Anpassung konnte über Leben und Sterben entscheiden. Ein Nomade maß seine Kräfte lediglich mit den Jahreszeiten, die ihm vertraut waren wie sonst keinem. Doch egal, wie sehr Witterung und schwere Arbeit einen Nomaden abgehärtet