Arne Rosenow

Der Waldläufer - Durch Sumpf und Wald


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stellte sich heraus, dass es tatsächlich die Gretel war. Auch wenn die alte Magdalena sich weigerte, es anzuerkennen. Da das Mädchen seit fast zwanzig Jahren tot war, aber immer noch wie die junge Gretel aussah, meinte die Alte, die Moorhexe hätte ihre Gretel verflucht. Trotzdem wurde die Leiche des Mädchens am nächsten Tag im Gottesacker bestattet.

      Magdalena zog sich noch mehr in sich zurück. Nur wenige Wochen nach der Bestattung fand man sie schließlich tot in ihrer Kammer. Die Gewissheit über den Verbleib ihrer Tochter und die Angst vor der Moorhexe hatten ihr den letzten Lebenswillen geraubt. So wurde auch wenig später die alte Magdalena neben ihrer Tochter beigesetzt.

      Trotz des Totenfundes kehrte Armin erleichtert aus dem Moor zurück. Er grübelte noch lange über die Tote nach und wusste nicht recht, ob er an die Moorhexe glauben sollte oder nicht. Er kam ausgezehrt und ermattet auf den Hof. Seine Kleidung war vom Torf und Schweiß verkrustet. Er wusch sich am Brunnen beim Gesindehaus und als er endlich eintreten durfte, dunkelte es bereits. Seine Ration schlang er am Gesindetisch hastig hinunter. Zorn und Grimm sprachen aus seinen Augen. Seine Glieder schrien nach Ruhe und er konnte sich nur noch mit Mühe am Tisch halten.

      „Ich habe es euch gesagt, die Moorhexe hat die arme Gretel geholt“, sagte Ute zu den Knechten am Tisch.

      Alle blieben stumm. Der Totenfund war doch sehr erschreckend gewesen.

      „Vielleicht war es auch gar nicht die Gretel“, entgegnete Peer.

      „Schwatz nicht“, erwiderte Ute. „Ich habe Gretel gekannt. Und dieses tote Mädchen ist die Gretel.“

      Draußen waren Sturm und Gewitter aufgezogen, ungewöhnlich für die Jahreszeit. Der Wind zerrte an den Pforten und Reetdächern.

      „Was für ein Unwetter. Heute Mittag sah es noch gar nicht danach aus.“

      Das Donnergrollen erscholl unheimlich.

      Peer schimpfte: „Jetzt friert es nochmal. Die Bäume sind noch nicht richtig ergrünt.“

      „Fast so wie damals“, warf Ute ein.

      „Was meinst du jetzt wieder mit damals?“, fragte Sven. „Meinst du, als die Gretel verschwand?“

      „Nein. Dereinst kam in einer solchen Nacht der Blanke Hans und spülte die Dörfer davon.“

      Armin horchte müde auf. Wenn Geschichten erzählt wurden, war er immer stets hellwach, auch wenn ihm beinahe die Augen zufielen. Auch Sven und Peer sahen sie stumm an. Wer wusste schon, ob an den Geschichten nicht etwas Wahres dran war?

      „Unzählige ertranken damals oder wurden vom Blanken Hans davon gerissen.“

      „Erzähl‘ keine Lügenmärchen, Ute!“, erwiderte Peer.

      Doch Ute fuhr fort. Die Kerze flackerte leicht.

      „Nur ein Knabe konnte sich vor den tosenden Gewalten in Sicherheit bringen.“

      Ute beugte sich verschwörerisch vor. „Man sagt, er sei zwei Tage vorher zum Schafehüten auf den Wiesen gewesen. Und während er sich bei den Schafen die Zeit vertrieb, kam Merkenau dahergeflogen. Merkenau warnte ihn, dass der Blanke Hans kommen würde. Da lief der Knabe zurück ins Dorf und warnte auch die Bewohner. Er hatte es dabei so eilig, dass er die Schafe vergaß.“

      „Und dann?“

      „Als er ins Dorf kam und den Leuten vom Blanken Hans berichtete, da verhöhnten sie ihn. Sie lachten über ihn, denn am Himmel waren keine Wolken zu sehen und die Sonne schien kräftig und warm. Sein Herr schlug mit der Gerte auf ihn ein, denn er hatte die Schafe vergessen. Er hieb so fest, dass sein Nacken blutig und geschunden wurde.

      So eilte der Knabe zurück, um die Schafe zu holen. Zwei aber hatten sich im Moor verlaufen und er fand sie nicht mehr. Er kehrte nur noch mit vier Tieren zurück. Und sein Herr verdrosch ihn erneut.“

      „Und kam dann die Flut am nächsten Tag?“

      „Nein.“

      „So hatte er Unrecht. Merkenau hatte ihn getäuscht. Was für ein fade Geschichte!“

      „Der Knabe wurde den ganzen Tag verhöhnt. Die Kinder trieben Schabernack mit ihm. Da wurde er sehr zornig und wollte sich rächen. Er lief in den nahen Wald. Dort sprach er erneut mit Merkenau und den anderen Tieren. Er warnte sie, so dass sie fortliefen. Wenn die Menschen ihn so verhöhnten, so sollten sich wenigstens die Tiere retten.“

      Sie hielt kurz inne und sah Armin tief in die Augen: „Und dann rief er den Blanken Hans.“

      Armin sah sie gebannt an. „Erzähl weiter, Ute, was dann?“

      „In der nächsten Nacht kam der Blanke Hans. Es war furchtbar. Er riss das ganze Dorf mit sich. Alles raffte er dahin. Das Vieh, die Häuser, die Menschen…Und als er sich wieder zurückzog, kamen die Bewohner der anderen Dörfer, die verschont blieben, um zu sehen, was geworden war. Sie fanden alle tot. Die Menschen waren im Schlaf ertrunken. Das Vieh war dahingerafft, die Ernte vernichtet. Eine Mutter, so heißt es, habe versucht, ihr Kind zu retten, und hielt es in die Höhe. Doch auch sie wurde mitgerissen und ertränkt. Viele Leiber hatte der Blanke Hans mit sich genommen. Einige fand man Tage später im Watt. Alles war vernichtet. Unzählige Menschen starben. Gott sei ihrer Seelen gnädig. Der Knabe hatte sich furchtbar gerächt.“

      Ute bekreuzigte sich.

      „Was ist aus ihm geworden?“, fragte Armin.

      „Man fand ihn in einem Baum unweit des Dorfes. Er hatte sich gerettet. Merkenau saß neben ihm auf einem Ast und krächzte höhnisch. Man holte den Knaben herunter. Doch er war starr vor Kälte und Entsetzen.“

      „Nur er hatte überlebt?“

      „Ja. Komisch, nicht wahr? Man fragte ihn, wie er sich retten konnte, und warum er den anderen nicht geholfen habe. Aber er schwieg. Er sprach keinen Ton. Merkenau saß derweil immer noch im Baum und krächzte…Da kam aber ein Mädchen. Es war am Tag zuvor dem Knaben nachgeschlichen, weil es wissen wollte, was er im Wald trieb. Sie hatte ihn mit Merkenau im Wald sprechen hören. Er hatte sie nicht bemerkt und den Blanken Hans aus Wut über seinen Fehler heraufbeschworen und das ganze Dorf vernichtet.“

      „Er hat den Blanken Hans gerufen?“

      „Ja.“

      „Was geschah mit ihm?“

      „Man wollte ihn bestrafen. Er sollte wegen des Teufelswerks auf dem Scheiterhaufen brennen. Offensichtlich hatte er teuflische Kräfte, denn er konnte mit den Tieren sprechen und den Blanken Hans heraufbeschwören. Aber bevor man ihn mitnehmen konnte, riss er sich los und rannte davon.“

      Stille trat ein. Nur die Wachskerze auf dem Tisch flackerte geheimnisvoll.

      „Sie rannten hinter ihm her. Man hetzte ihn mit Hunden. Zwei Tage und eine Nacht. Am Ende des zweiten Tages hatte man ihn beinahe gefasst. Und dann rannte er ins Teufelsmoor.“

      „Ins Teufelsmoor?“

      „Ja.“

      „Dann fand er seine Bestrafung?“, fragte Peer.

      „Die Moorhexe holte ihn…Niemand hat ihn je wieder gesehen.“

      „Schon wieder die Moorhexe.“

      Peer schaute wieder ungläubig.

      „Ja. Verlacht sie nicht. Ihr habt die Gretel gesehen. Nun wisst ihr, die Moorhexe wohnt tief im Teufelsmoor und treibt dort ihr Unwesen. Wer sich des Nachts zu tief ins Moor wagt, den verführt sie. Denkt an ihre Irrlichter, die den Verirrten immer tiefer in die Sümpfe führen. Sie zieht die armen Seelen in ihr dunkles Reich. Niemand ist lebend wieder zurückgekehrt.“

      Armin war ein wenig unbehaglich geworden. Es war nun schon die zweite Geschichte von der sagenhaften Moorhexe.

      „Viele Unbescholtene zog sie schon in ihren Bann. Niemand hat sie je wieder gesehen.“

      Am nächsten Tag war Sonntag. Auch wenn es viel zu tun gab, so gestattete der alte Fiete, dass sein Gesinde in die